Nach einem Burn-out ändert Nathalie Antoine ihr Leben. Die Berlinerin wird Coach und hilft mit einem eigenen Konzept anderen Menschen dabei, ihr Leben zu verbessern.
Irgendwie ist alles hell und klar an ihr. Das Lächeln, der wache Blick, ihre ruhigen Bewegungen und auch die Räumlichkeiten, in denen Nathalie Antoine ihre Klienten berät. Weiße Wände, einige Zeichnungen und abstrakte Bilder in Öl, in einer Vase frische Blumen, eine bequeme Sitzecke. Der Blick aus dem Hinterhausfenster geht in einen wild wuchernden Garten mit einer Holzbank unter einem kahlen, schief gewachsenen Baum. Ihr ganzer Auftritt passt zu einem einzigen Satz, in dem die 57-jährige Französin ihre Lebensphilosophie zusammenfasst: Slow your life and enjoy it! Übersetzt heißt das so viel wie: Verlangsame dein Leben und genieße es!
Nathalie Antoine war in diesen Wochen intensiv damit beschäftigt, ihren Internetauftritt zu vervollständigen und noch konkreter jene Inhalte zu beschreiben, die sie als Coach für Burnout-Probleme und andere existenzielle Fragen Ratsuchenden anbieten möchte. Früher hätte man das alles ganz schlicht und bescheiden als Lebenshilfe bezeichnet, aber das reicht in der modernen und schnelllebigen Zeit von Zoom, Youtube, Instagram & Co. für eine Vermarktung des Angebots nicht mehr aus. Sie muss also schon genauer erklären, was ihr „Slow your life and enjoy it" konkret bedeutet und wodurch sie sich von ähnlich klingenden Angeboten, vagen Heilsversprechen oder gar von Betrügern unterscheidet. Zunächst stellt sie etwas klar: „Ich war im Management, bevor ich einen Burn-out erlitt. Ich weiß, wovon ich rede."
Als Kind leidet sie unter der Scheidung der Eltern
Dass in ihrem Leben einmal alles zusammenbrechen würde, das konnte sie nicht wissen. Geboren in einer Kleinstadt in der Nähe von Reims, wuchs Nathalie gemeinsam mit dem drei Jahre älteren Bruder wohlbehütet auf. Bildung und Tradition spielten für die Eltern eine große Rolle, der Vater lehrte Physik und Chemie an der Universität, die Mutter leitete eine Kita. Doch hinter der kleinbürgerlich-ordentlichen Fassade bröckelten die bisherigen Wertvorstellungen. Nach dem Umzug nach Toulouse lassen sich die Eltern scheiden, Nathalie ist 13 und bleibt mit ihrem Bruder bei der Mutter. Aber die Mutter redet ständig schlecht über den Vater und versucht, den Kontakt ihrer Kinder zum Vater zu unterbinden. Vergeblich. So bleibt Nathalie zwischen den Eltern hin- und hergerissen. Sie wird krank, Schlafstörungen, Herzprobleme plagen sie, eine therapeutische Behandlung kommt für die Mutter nicht infrage. Schlimmer noch: Sie droht den Kindern mit Selbstmord, wenn sie sich alleingelassen fühlt. So muss sich die Tochter um die zunehmend depressive Mutter kümmern. Vertauschte Rollen, Nathalie um ihre Jugend betrogen. Kleine Fluchten findet sie im Kino: Naturfilme, Berichte über fremde Völker, Reportagen bekannter Meeres- und Vulkanforscher, das alles fasziniert sie und das will sie auch: Ethnologin werden, im Ausland arbeiten, Filme drehen. Doch die Eltern sind strikt dagegen. Wer sich in der Fremde herumtreibe, der könne auch nicht richtig heiraten – sagen ausgerechnet ihre Eltern, und so beendet Nathalie schnellstmöglich die Schule, sie flieht nach Paris, studiert, um die Eltern zu besänftigen, Management und Marketing. Einen Zipfel von ihrem Traum bekommt sie zu fassen, als sie nach dem Studium an der französischen Botschaft in Brasilien arbeitet und später in Paris für den Fernsehsender „France 2".
Aber dann lernt sie einen Deutschen kennen, sie heiraten und sie ziehen nach Hamburg. Die Belastungen nehmen nun für sie spürbar zu. Nach der Geburt ihrer beiden Söhne und einige Zeit später ihrer Zwillinge muss Nathalie häufiger die Jobs wechseln. Erst arbeitet sie als redaktionelle Koordinatorin für einen Fernsehsender, dann für einen Film- und Medienkonzern, und als schließlich die Familie 2009 nach Berlin zieht, wird sie Filmattaché an der französischen Botschaft. Dort gerät sie zwischen die Fronten interner Konflikte, es geht um Rationalisierungen, Entlassungen und auch ihr Familienleben gerät aus den Fugen. Der Streit mit dem Mann wird heftiger, sie sieht ihre Wertschätzung schwinden, sie ist gereizt und zunehmend entscheidungsunfähig. Stundenlang fährt sie kreuz und quer durch Berlin, Schlafstörungen und Panikattacken machen ihr den Alltag zur Hölle, sie kündigt ihren Job. Statt Hilfe und Zusammenhalt erfährt sie Trennung und Einsamkeit, man macht ihr Vorwürfe, aber sie ist am Ende: Burn-out. Zurück nach Frankreich ist, schon wegen der in Deutschland aufgewachsenen Kinder, keine Option.
Auch Online-Trainings und Videos
Sie probiert nun alles: Psychotherapie, Klinikaufenthalte, Akupunktur, das half punktuell, aber eine dauerhafte Heilung bot es nicht. Sie ahnte, dass sie eine grundlegende Neuorientierung für ihr Leben suchte. Durch Zufall stieß sie auf eine buddhistisch orientierte Meditationsgruppe. Sie spürt, dass sie ihr Leid mindern kann, sie lernt, dass Körper und Seele eine Einheit bilden, sie erkennt, dass ihre Gefühle kommen und gehen und nicht mit ihrem eigenen Ich identisch sind. Jetzt erst kann sie ihre bisherigen Werte, ihre berufliche Karriere und die traditionellen Ideen von Glück und Geld selbstkritisch hinterfragen, und ihr wird klar, dass es für sie kein Zurück in ihr altes Leben geben kann. So konkretisiert sich langsam eine Idee: entweder im direkten Kontakt oder auch – durch Corona bedingt – online möchte sie anderen Menschen helfen, besser mit weniger Stress zu leben. Verschiedene Onlinetrainings und Videos hat sie bereits in Deutsch und Französisch erstellt, und es sind nicht nur erschöpfte und ratlose, sondern zunehmend auch junge Leute, die vorbeugend lernen wollen, einen Burn-out zu vermeiden. Nun sagen Berufsbezeichnungen wie Meditations-Lehrerin und Qi-Gong-Trainerin nicht viel aus, und tatsächlich lesen sich die Seminar- und Übungsangebote von Nathalie Antoine mitunter etwas blumig. Aber sie hat ein System der Lebenshilfe entwickelt, in dem Körper und Geist, Ernährung, Bewegung, Tanz und Musik ineinandergreifen. Sie nennt es ihr Lotus-Modell. Es geht um einen ganzheitlichen Ansatz, nicht um das Kurieren einzelner Symptome. Ach, wenn es denn so einfach wäre, wie verschiedene Kurse es versprechen: „Burn-out-Prävention" oder „Wie ich meine Wut bewältige." Aber dass es leicht wäre, mal so eben nebenbei sein Leben neu zu ordnen, vielleicht sogar einer grundsätzlich anderen Orientierung zu folgen – das verspricht Nathalie Antoine ganz gewiss nicht. Denn wovon sie spricht, das hat sie am eigenen Leib erlebt und was sie als Hilfe anbietet, hat sie selbst ausprobiert. Und noch etwas ist ihr wichtig: Jeder sollte seinen eigenen Weg finden. Und es gibt viele ganz unterschiedliche Wege. So ist es auch mit Therapeuten und Coaches. Wer einen Alleinvertreteranspruch für sich reklamiert, wer behauptet, es gehe nur so und auf gar keinen Fall anders, dem wäre mit Vorsicht zu begegnen. Dogmen sind Nathalie ein Graus. Wichtig ist für sie, dass sich Interessenten und Klienten bei ihr wohlfühlen. Nur sie entscheiden, ob sie vielleicht zunächst mal einen Baustein aus dem vielfältigen Angebot ausprobieren. Dann wird man gemeinsam weiter sehen. Und ansonsten gilt: Lasst 100 Blumen miteinander blühen.