Tim Tanneberger macht im „No Name" das Grünzeug flott. Nach dem neuen Early-Eve-Dinner kommen Kulturfreunde pünktlich ins Theater, und der August steht mit vier Four-Hands-Dinner ganz im Zeichen des pflanzenbasierten Casual Dinings.
Das „No Name" tritt gegen trockene Theater-Brezeln und Fast Food an: Mit einem Early-Eve-Dinner am Spätnachmittag zeigt es als erstes Restaurant in Berlin, dass Casual Dining in vier Gängen vor dem Kultur-Besuch funktioniert. Küchenchef Tim Tanneberger sorgt dafür, dass nach dem Essen die Gäste nicht komatös in die Theater- oder Kinosessel sinken, sondern angenehm leicht gesättigt und aufnahmefähig in der Vorstellung sitzen. Das Frühe-Vögel-Dinner, das für 59 Euro sogar Wasser und Espresso beinhaltet, startet um 17.30, 17.45 und um 18 Uhr. Spätestens um 19.15 Uhr sollen alle Gäste fertig und startklar für den kurzen Fußmarsch zu ihren Kulturtempeln sein.
Geboren wurde die Idee zum Vor-dem-Theater-Dinner aus dem eigenen Erleben von „No Name"-Geschäftsführerin Janina Atmadi und ihren Freunden. „Wenn wir uns einen schönen Abend machen, soll der auch kulinarisch entsprechend starten." Das „No Name" liegt direkt neben der Synagoge an der Oranienburger Straße im Kultur-Hotspot Mitte. Der erstreckt sich von Chamäleon und Kino in den Hackeschen Höfen über das Deutsche Theater bis zum Admiralspalast, Friedrichstadtpalast und Quatsch Comedy Club in der Friedrichstraße. Doch auch für Neugierige ist die Kurzform als Schnupper-Menü reizvoll: „Es gibt Gäste, die uns vielleicht erst einmal in vier und nicht gleich in acht Gängen kennenlernen wollen", sagt Atmadi.
Tanneberger liebt Gemüse
Die Umschaltphase von der kulinarischen zur darstellenden Kultur dauert sogar, streng genommen, fünf Gänge lang. Ein kleines Sauerteigbrot mit Molke und grünen Kräuteröl-Augen im Keramiktopf ist beinah eine eigene Mahlzeit. Es ist mit Pilzferment aus gemalztem Roggen angesetzt und wird noch leicht warm serviert. Der Fotograf, die begleitende Freundin und ich warnen einander nach dem ersten Sechstel, bloß nicht zu viel davon zu essen. So köstlich ist das vollmundige Brot, dass wir es mit Butter immer wieder durch die säuerlich frische und wohlig kräuterige Tunke wischen.
Cin Cin! Auf einen schönen Abend nehmen wir den einen oder anderen Schluck vom zart perlenden Rosé Lambrusco von der Cantina della Volta zu uns. Zuvor hatten wir die kühlen, feuchten Handtücher gefeiert, die uns Restaurantleiter Mathias Raue nach dem Eintreten in den Gastraum reichte. „Am besten über die ganzen Unterarme streichen, das kühlt gut ab", empfiehlt er. Ein durchdachter und aufmerksamer Service, für den wir an einem heißen Spätnachmittag umso dankbarer sind.
Der Blick auf die Early-Eve-Karte lässt im zweiten und dritten Gang unterschiedliche Abzweige zu. Ich weiß: Tim Tanneberger liebt Gemüse. Deshalb wähle ich das Veggie-Menü. Goldforelle und Schäufele überlasse ich Fotograf und Freundin. Wir starten aber alle drei mit demselben Teller. Es gibt fermentierten Spargel in Spinatsaft mit Leindotteröl. Der flambierte Spargel wurde mit Wachauer Marillen-Marmelade mariniert und bekommt in den sattgrünen Sud geräucherten Milchbruch an die Seite gelegt. Der Bruch, eine Vorstufe von Käse, ist gestockt und „weicher als Gelee", wie Tanneberger anmerkt. Ein Tupfer Spinatcreme und Fenchelblüten obenauf – fertig ist ein Teller voller Sommerglück. „Es dauert länger, das alles selbst zu machen, ist aber auch viel befriedigender."
Ähnlich sommerfrisch präsentiert sich das erste Glas meiner nichtalkoholischen Getränkebegleitung. Sarah Buchbinder ist Service-Vize und im „No Name" für den Wein zuständig. Sie widmet sich seit der Eröffnung des Restaurants ebenfalls den hausgemachten Noholics. Ein Saft von der gelben Bete wurde mit Zitrone und Soda angereichert. Er flirtet mit aufgestreuten Lavendelblüten mit meiner Nase. Buchbinder hält ständig fünf bis sechs hausgemachte, nicht-alkoholische Getränke bereit. Sie müssen sich, wie in diesem Gang, keineswegs hinter dem 350 NN Weißburgunder von Odinstal aus der Pfalz verstecken.
Ein Blick auf die Karte mit dem „normalen" achtgängigen Menü zeigt: Auf den Early-Eve-Tellern landen dieselben Gerichte wie auf denen in der Langversion. Sie sind nicht kleiner oder abgespeckt. Das würde das Verhältnis der Komponenten zueinander und das Geschmackserleben aus dem Gleichgewicht bringen. „Wir arbeiten durchgängig mit denselben Produkten, Köchen und Küchentechniken", sagt Tim Tanneberger. Zum Beispiel im Fleischgang: „Ich würde nie den Imperial-Kaviar vom Stör zum Schaufelstück durch billige Produkte ersetzen."
Dieser Surf-and-Turf-Gang auf die elegante Art hat es dem Fotografen angetan. Das gebratene Schäufele wird mit Bittersalaten wie Endivie sowie Oysterleaf kombiniert. Dazu kommen eine Zwiebelmarmelade, geröstetes Knochenmark und der Kaviar. So entsteht „aus einem Stück Fleisch und zwei geilen Komponenten", so Tanneberger, eine neue, reizvolle Kombination. Der italienische Feinschmecker-Fotograf feiert die Wiederauferstehung der oft weggezüchteten und aus dem Geschmacksgedächtnis verdrängten Bitternoten. Sarah Buchbinder wählte dazu einen Blaufränkisch Koregg, „von einer steilen Lage auf Schieferböden", von Karl Schnabel aus der Steiermark. „Ich habe ein kleines Faible für Österreicher." Für mich kommt ein Rote-Bete-Saft mit schwarzer Johannisbeere, Aronia und Kirsche ins Glas. „Ich habe versucht, einen Rotwein nachzubauen." Das gelingt. Der herb-erdige, aber dennoch warmtonige Saft hält den kräftigeren Noten von Pilzen, Kohl und Miso stand. Zuvor hatte es im zweiten Gang für mich einen überraschend süßen Boskop-Apfelsaft mit Verjus und Fichtensprossen-Sirup zur Roscoff-Zwiebel gegeben. Und die Begegnung mit einer hierzulande eher unbeachteten Gewürzpflanze – dem Lorbeer. Ein Kollege hatte ihn in Portugal entdeckt. „Eine viel zu unterbewertete Zutat", befand Tanneberger und stellte ein Lorbeeröl und Lorbeeressig selbst her. Ersterer kommt an eine Ziegenmolke, die eine mit Kümmel aromatisierte Brotcreme toppt. In letzterem wurde die mild-süßliche bretonische Zwiebel mariniert bevor sie gegrillt wurde.
Dessert gedacht wie eine Vorspeise
Zwiebel findet sich ebenfalls in einer Hollandaise sowie als Asche auf der Grillzwiebel wieder, die von einem Kranz von Dillblüten, Lavendel und Kornblumen umrahmt wird. „Also von allem, was der Garten gerade hergibt." Zweites Gebot neben der Hochwertigkeit der Produkte ist für Tanneberger deren möglichst regionale Herkunft. Davon zeugt die Liste der Partner auf der Karte. Wildkräuter und Blüten etwa stammen von „Schnelles Grünzeug" aus dem vorpommerschen Grammendorf. Die Goldforelle kommt von „25 Teiche", einem bewährten Lieferanten für heimischen Fisch aus dem brandenburgischen Gräben/Rottstock. Sie wird mit Karotten-Kimchi-Curry, einem marinierten Karottensalat, Bärlauchöl und einem Fond auf Fischbasis mit geschwärztem Bärlauch angereichert. „Wir haben den Bärlauch, ähnlich wie schwarzen Knoblauch, vier Wochen eingelegt", erklärt Tanneberger. „Das gibt einen kräftig-malzigen Geschmack."
Tanneberger ist überzeugt: „Vegetarisch ist kein Trend, das wird sich weiterentwickeln. Als Köche haben wir die Verantwortung, pflanzenbasierte Küche populärer und attraktiv zu machen. Wir geben dem Gemüse beim Entwickeln der Gerichte die Hauptrolle statt es als Zweitbesetzung zu sehen." Dass er was mit Gemüse am Laufen hat, war bereits im „eins44" zu erleben. In den sieben Jahren dort wurden seine Veggie-Teller immer spannender und komplexer. Ein Non-Veggie-Gang auf der Karte würde Tanneberger reichen. Doch – noch – wünschen es die Gäste anders. Es gehe aber nicht allein um sie, sondern ebenso um die Verantwortung auf Profi-Seite: „Wir sind die Vorbilder für die nächste Generation von Köchen", sagt der 29-Jährige. Die Leidenschaft für eine wegweisende pflanzenbasierte Küche teilt Tanneberger mit befreundeten Köchen. Deshalb verfällt das „No Name" im August in einen veritablen Gemüserausch mit vegetarischen und veganen Gerichten. An den vier Donnerstagen zudem in wechselnder Begleitung immer vierhändig: Tim Tanneberger teilt sich dann Küche und acht Gänge mit Nikodemus Berger vom „Bonvivant", Sebastian Leyer vom „Gut Boltenhof" und dem eigenen Gemüsehof „Hortus Tayta" in der Uckermark, mit Martin Müller vom „Oukan Dining" sowie mit Christopher Jäger aus dem „Volt" auf.
Highlight zum Schluss ist ein Dessert mit Kirschen und Sellerie. Marinierte Kirschen und Scherben von einer Kümmel-Kirsch-Meringue treffen auf Staudensellerie-Eis. Beide Komponenten werden durch eine Kirsch-Staudensellerie-Vinaigrette verbunden. Das macht wach und erfrischt vor dem Aufbruch zu Show oder Kino. Ein nicht zu säuerlicher Erdbeershrub komplettiert mein Sommerabend-Feeling im Glas. Überraschung: Der Küchenchef musste, als er im Oktober 2021 im „No Name" anfing, ohne Pâtissier im Team seinen eigenen Zugang zu den Desserts finden. „Ich komme nicht aus der klassischen Pâtisserie, das wäre auch nicht mein Ding. Ich versuche, meine Desserts wie eine Vorspeise zu denken." Der Versuch und die Umsetzung sind gelungen – und vor allem köstlich.