Union Berlin muss lernen, nun deutlich öfter als Favorit in ein Spiel zu gehen. Der Pokal-Auftakt beim Regionalligisten Chemnitzer FC ist dafür eine gute Übung.
Urs Fischer wollte sehr wahrscheinlich nur den Platz aufgeräumt verlassen, dennoch hatte das Bild ohne Zweifel Symbolcharakter: Nach einer harten Einheit im Trainingslager im österreichischen Neukirchen am Großvenediger packte der Schweizer tatkräftig mit an, um ein Tor auf seine ursprüngliche Position zurückzubringen. Wer mag, konnte daraus ableiten: Alle ziehen an einem Strang, niemand ist etwas Besseres. Und noch etwas sagte diese Szene aus, die nicht nur die anwesenden Journalisten mitbekamen, sondern eben auch die Spieler: Vor dem Erfolg steht die Arbeit. Es ist so etwas wie Fischers Lieblings-Credo, und daran hat sich auch vor dieser Saison nichts geändert. Warum auch?
Mit Fischers Methoden und seiner Art der Mannschaftsführung erlebt Union Berlin Jahr für Jahr neue Höhen. Erst der Aufstieg (2019), dann der Klassenerhalt (2020) und schließlich die Qualifikation für die Conference League (2021) und Europa League (2022). Geht diese erstaunliche Entwicklung so weiter, stünde am Ende der kommenden Saison die Champions League zu Buche. Doch so denken sie bei Union nicht, für Träumereien seien andere zuständig. „Viele in der Liga leben von ihrer Größe in der Vergangenheit, und einige wollen es wahrscheinlich nie begreifen, dass dies vorbei ist", sagte Union-Präsident Dirk Zingler. Die Eisernen sind in der Bundesliga nach wie vor ein eher kleiner Verein – dennoch haben sie dank cleverer Entscheidungen in Personal- und Strategiefragen einige vermeintlich größere Clubs längst überholt.
Jahr für Jahr neue Höhen
Das zeigte sich auch auf dem Transfermarkt in diesem Sommer. Nottingham Forest hätte sicherlich nicht die im Vertrag festgeschriebene Ablöse von 20,5 Millionen Euro für Taiwo Awoniyi bezahlt, wenn Union gegen den Abstieg gespielt hätte. Und Union wäre auch nicht in der Lage gewesen, für dessen Nachfolger, den US-Nationalspieler Jordan Siebatcheu, sechs Millionen Euro hinzublättern, wenn der Club kein höheres Personalbudget stemmen könnte. Auch ein Diogo Leite wäre auf Leihbasis nicht nach Köpenick gewechselt, würde er sich mit der Mannschaft nicht in der oberen Tabellenhälfte sehen. „Und unsere letzte Europa-Reise in der Conference League hat dazu beigetragen, dass der FC Porto nicht erst googeln muss, wer wir sind", sagte Zingler: „Die Spieler und Spielerberater kennen den Fünften der Bundesliga. Sonst wären es auch schlechte Fachleute."
Die stetige Entwicklung von einem finanziell angeschlagenen Zweitligisten zu einem Europacup-Starter sorgt aber auch für eine höhere Erwartungshaltung. Diese versuchen die Verantwortlichen zwar durch das öffentlich kommunizierte Saisonziel „Klassenerhalt", das auch für die Spielzeit 2022/23 gilt, zu dämpfen. Doch klar ist: Union wird künftig in mehr Spielen der Favorit als in der geliebten Rolle des Außenseiters sein. Beim ersten Pflichtspiel der Saison trifft das erst recht zu: Zum Pokal-Auftakt am kommenden Montag (1. August, 18 Uhr) wäre ein Aus beim Regionalligisten Chemnitzer FC eine peinliche Angelegenheit. Sportchef Oliver Ruhnert sprach von einem „interessanten Los" gegen einen „spannenden Verein mit sehr euphorischen Fans". Schon im Vorjahr habe es in der ersten DFB-Pokalrunde Überraschungen gegeben, so Ruhnert, „die wollen wir natürlich vermeiden."
Eine gewisse Stolpergefahr besteht jedoch. Der CFC hatte in der Rückrunde der Regionalliga Nordost sehr stark aufgetrumpft, der neue Trainer Christian Tiffert führte die Himmelblauen auf ein neues Leistungsniveau. Insgesamt 15 Spiele blieb Chemnitz ungeschlagen – das ist auch in der Regionalliga kein leichtes Unterfangen. Union ist also gewarnt, zumal auch finanziell einiges auf dem Spiel steht: In der Vorsaison nahm der Pokal-Halbfinalist allein aus der Zentralvermarktung des DFB mehr als zwei Millionen Euro ein.
Geld, das der Club auch in Beine investieren konnte. Der portugiesische Innenverteidiger Leite war Neuzugang Nummer neun, den Ruhnert unter Dach und Fach gebracht hat. Als Königstransfer gilt aber Jordan Siebatcheu, der in große Fußstapfen tritt. In Sachen Robustheit kann der Franko-Amerikaner mit seinem Vorgänger Awoniyi ohne Zweifel mithalten, der 1,90 Meter große und 90 Kilogramm schwere Angreifer weiß seinen Körper einzusetzen. Eine Kostprobe davon bekam im Testspiel gegen Udinese Calcio sein Gegenspieler Tolgay Arslan zu spüren. Der Ex-Hamburger hatte den wuchtigen Angreifer mit fiesen Attacken so sehr zur Weißglut getrieben, dass dieser sich vor ihm aufstellte und ihn bedrohlich an der Kehle packte. Davor war Siebatcheu am Trikot gezerrt worden, was die Twitter-Abteilung von Union zu einem scherzhaften Kommentar verleitete: „We all want the new shirt" (Wir alle wollen das neue Trikot).
Siebatcheu muss oft treffen
Damit das Siebatcheu-Trikot mit der Nummer 38 aber ein Kassenschlager wird, muss der 26-Jährige möglichst oft das Tor treffen. Am besten schon zum Pflichtspielstart in Chemnitz. Nach einem reduzierten Start, als Fischer aufgrund einer vorherigen Bauchmuskelverletzung beim Stareinkauf nicht gleich alles riskieren wollte, kam Siebatcheu immer besser in Schwung. „Wir müssen noch an einigen Dingen, Automatismen arbeiten", sagte der Angreifer: „Mit der Zeit werden wir sie finden. Ich sehe nur Positives." Auch, weil sich der frühere Topscorer von Young Boys Bern bei Union auf Anhieb heimisch fühlt: „Ich bin überrascht, dass ich auf eine wirklich sehr gute Gruppe gestoßen bin, die in sich zusammengeschweißt und geeint wirkt." Es fühle sich so an, „als ob ich die Mannschaft schon kennen würde", ergänzte er: „Das hilft mir."
Auch Jamie Leweling fühlt sich bei den Eisernen von Tag eins an pudelwohl. Dass nach ihm mit Siebatcheu ein noch teurerer und noch erfahrener Angreifer verpflichtet wurde, macht die Sache für der U21-Nationalspieler einfacher. Im Mittelpunkt steht der extrovertierte Siebatcheu, Leweling kann in dessen Schatten den nächsten Schritt machen. Denn das ist der Wechsel von Absteiger SpVgg Greuther Fürth zu Union – trotz seines unbestritten großen Talents. „Für mich ist es eine neue Welt", gab Leweling im Trainingslager in Österreich zu und fügte hinzu: „Es freut mich, dass ich auf so einer Bühne spielen darf." Der Sohn eines Ghanaers und einer Deutschen hofft vor allem wegen der Dreifachbelastung auf möglichst viele Einsätze: „Es wird viele Spiele geben, hier kommt jeder auf seine Spielzeit, das bringt die Mannschaft weiter."
Ansprüche wird Leweling zunächst keine stellen, im ersten halben Jahr heißt es für ihn vor allem lernen. In der Vorbereitung hat er gemerkt, dass mit Fischer keine Sperenzien zu machen sind. „Die Ansprachen sind direkter", berichtete er. Er freue sich auf den „neuen Input", dem ihn das Trainerteam geben würde. Das betrifft nicht nur seine Schwächen wie das Kopfballspiel, sondern auch seine Stärken wie Schnelligkeit und Dribbling, die er bei Union noch gewinnbringender einsetzen soll. Zudem fordert Fischer von allen Spielern eine hohe Disziplin beim Anlaufen und Pressen.
Dafür haben die Berliner in der Vorbereitung hart gearbeitet. „Ich freue mich auf die Saison, weil ich glaube, dass sie erfolgreich sein wird", sagte Zingler. Ein standesgemäßer Pokalsieg zum Start wäre die erste Bestätigung dessen.