Die WHO empfiehlt, Babys mindestens sechs Monate ausschließlich mit Muttermilch zu nähren. Immer mehr Frauen entscheiden sich heute für das Stillen ihres Säuglings und eröffnen damit gleichzeitig eine gesellschaftliche Diskussion über das Für und Wider dieser ursprünglichsten aller Ernährungsformen.
Für die einen die natürlichste Sache der Welt, für die anderen einfach „eklig". Was hier die Gemüter erregt, ist nicht etwa der Toilettengang oder das Nasenbohren, sondern die Versorgung eines Säuglings. Stillen ist die erste Form menschlicher Ernährung und laut Gesundheitsexperten auch die wichtigste. Ob eine Frau ihr Kind stillt oder nicht, war vor dem Jahr 1865 mit der Erfindung der ersten „Säuglingssuppe" keine bewusste Entscheidung oder aus einer medizinischen Notwendigkeit heraus geboren. Es gab schlicht noch keine Säuglingsmilch, daher blieb den Müttern nichts anderes übrig, als die Babys an die Brust zu legen. Klappte das bei Mutter oder Kind nicht, sprangen Ammen ein und halfen aus. Sie nährten fremde Babys und erhielten für ihre wertvolle Gabe einen Lohn.
Heute wird die Still-Entscheidung meist bewusst und schon lange vor der Geburt gefällt. Will ich mich über Monate so eng an mein Baby binden und ihm die einzige Nahrungsquelle sein oder nicht? Möchte ich die neugewonnene Freiheit genießen oder bewusst darauf verzichten? Grundsätzlich hat jede Mama dazu eine andere Meinung. Viele entscheiden sich für den Mittelweg und starten mit dem Stillen, nur um wenige Wochen oder Monate später auf handelsübliche Folgemilch oder Pre-Milch umzusteigen. Beides eignet sich als einzige Nahrung für einen Säugling bedingt.
Wichtige Nährstoffe für Start ins Leben
Vielleicht hilft es zu erfahren, warum künstlich hergestellte Produkte kein voller Ersatz sein können: Muttermilch enthält von Natur aus alle Nährstoffe, die es braucht, damit Babys gesund aufwachsen können. Dabei ist Milch nicht gleich Milch. Die Vormilch, das sogenannte Kolostrum, ist noch sehr klebrig und hat eine eher gelbliche Farbe. Es bildet sich schon vor der Geburt und schenkt dem Neugeborenen die ersten leicht verdaulichen Schlucke voll reichhaltiger Inhaltsstoffe. Deshalb wird es im Volksmund auch als flüssiges Gold bezeichnet. Das Kolostrum enthält einen besonders hohen Anteil an weißen Blutkörperchen und Antikörpern, um das Baby vor Krankheiten und Infektionen zu schützen, wenn es die sichere Hülle des Mutterleibs verlässt. Die Trinkmenge an den ersten Tagen ist nicht viel größer als eine Murmel. Trotzdem ist sie wichtig, denn die noch durchlässige Darmschleimhaut der Säuglinge wird durch die Vormilch ausgekleidet, das Immunsystem erhält seinen ersten Booster. Außerdem helfen die Stillmahlzeiten dabei, die Darmentleerung anzukurbeln, damit das sogenannte Kindspech ausgeschieden werden kann. Zu diesem Zweck ist die Konzentration der Proteine höher, auch Mineralstoffe und Vitamine sind enthalten.
Ab etwa dem fünften Tag nach der Geburt verändert sich die Farbe und Zusammensetzung der Milch. Sie erhält eine cremigere, milchigere Konsistenz. Fett-, Laktose- und Kaloriengehalt steigen, um das Wachstum des Säuglings zu unterstützen. Die Übergangsmilch hilft, die Brust auf die steigende Stillmenge einzustellen. Schon an Tag fünf trinkt der Säugling innerhalb von 24 Stunden zwischen 500 und 800 Milliliter Milch. Dem wachsenden Bedarf ordnet sich die Brust unter. Nach etwa 14 Tagen ist es Zeit für die reife Muttermilch. Sie enthält eine relativ konstante Zahl an Vitaminen, Proteinen, Mineralstoffen, Zucker und bioaktiven Inhaltsstoffen wie Wachstumsfaktoren, Enzymen, Hormonen und lebenden Zellen. Der Übergang von der wässrigeren zur reifen Milch lässt sich mit bloßem Auge nicht erkennen. Die Entwicklung ist sehr individuell. Die Qualität der Muttermilch bleibt über die gesamte Stillzeit auf einem gleichen Niveau, ganz gleich, wie lange sie dauert.
Ist das Baby krank, produziert das Immunsystem der Mutter mehr Abwehrstoffe, die sie über die Milch ans Kind weitergibt, damit der Nachwuchs schnell wieder gesund wird. Steigert sich die Trinkmenge, dann passt sich die Milchmenge automatisch an.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt „Babys sechs Monate lang (180 Tage) ausschließlich zu stillen, das heißt ohne weitere Speisen und Getränke außer Muttermilch zu ernähren". Die gesamte Stilldauer sollte zwei Jahre und länger betragen. Ein konkretes Ende nennt die WHO in ihrer Publikation „Guiding principles for complementary feeding of the breastfed child" aus dem Jahr 2003 nicht, sie betont aber, „dass eine adäquate Ernährung in den ersten Lebensjahren essenziell für die Entwicklung eines vollen menschlichen Potenzials ist". Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts aus den Jahren 2014 bis 2017 wurden neun von zehn Kindern jemals gestillt. Dabei erhielt aber nur jedes Achte die Muttermilch für volle sechs Monate. Die durchschnittliche Stilldauer betrug acht Monate. Die Quote ist insgesamt besser als die der Vergleichsgruppe mit Säuglingen der Jahrgänge 2001/2002. So entschieden sich statt der vorher 77 Prozent, bei den Jahrgängen 2013/2014 immerhin 87 Prozent aller Mütter bewusst für das Stillen. Das Bildungsniveau spielte bei der Entscheidung ebenso eine wichtige Rolle wie das Alter der Mutter und der Reifegrad des Neugeborenen. Als Hauptgrund für das Abstillen wurde die Abnahme der Milchmenge genannt.
Es herrscht also eine breite Schere zwischen den Empfehlungen der WHO und der tatsächlichen Stilldauer. Dabei wird alles über ein Jahr hinaus gemeinhin als Langzeitstillen bezeichnet. Ein Begriff, der mit Vorurteilen verbunden ist, viele davon sind gesellschaftlich verankert. Aus anthropologischer Sicht ist eine Stillzeit von 14 Monaten eher als kurz anzusehen. Studien mit Naturvölkern belegen, dass hier zwischen drei und sechs Jahre als normal gelten. Wissenschaftler der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York konnten nachweisen, dass Neandertaler etwa ein Jahr lang stillten. Fanden die Urmenschen wenig Nahrung, begannen sie zu einem späteren Zeitpunkt nochmals damit, Muttermilch bereitzustellen, um ein Heranwachsen des Nachwuchses zu gewährleisten.
Neben den gesundheitlichen Vorteilen für das Kind dürfen dabei auch die Mütter nicht außer Acht gelassen werden. Wer länger als sechs Monate stillt, senkt nachweislich sein Risiko für Gebärmutterhals-, Brust- und Eierstockkrebs, Typ-2-Diabetes und Herzkrankheiten. Mit etwas Glück bleibt währenddessen die Periode aus, ein weiterer Vorteil.
Andere Länder, andere Still-Sitten
Speziell im globalen Süden ist die Stillzeit deutlich höher als in Industrienationen. Das liegt vor allem am Mangel an Pre-Nahrung, aber auch an der gesellschaftlichen Verankerung der Babypflege allgemein. Hierzulande existiert in vielen Köpfen nach wie vor der Gedanke, Langzeitstillen kann schädlich sein für die kindliche Entwicklung und eine gesunde Abnabelung von der Mutter. Dem widerspricht die American Academy of Pediatrics, der größte Verband der Kinderärzte weltweit: „Es gibt (…) keine Hinweise auf schädliche Effekte auf die Psyche oder die Entwicklung des Kindes, wenn ins dritte Lebensjahr hinein oder länger gestillt wird."
Und was ist, wenn in der Zwischenzeit ein weiteres Baby geboren wird? Dann setzen manche Mütter auf Tandemstillen. Sie nähren also zwei oder mehr unterschiedlich alte Geschwisterkinder gleichzeitig oder abwechselnd über den Tag verteilt mit ihrer Milch. Während einer erneuten Schwangerschaft stellt sich der Körper hormonell komplett um. Die Milch geht oft schon zu Beginn der Schwangerschaft zurück, versiegt im zweite Trimenon fast vollständig und steigt dann erst wieder mit dem ersten Kolostrum am Ende der Schwangerschaft. Rein medizinisch ist Tandemstillen kein Problem, solange sich Mütter ausreichend Ruhepausen gönnen und sich gesund ernähren. Wem es zu viel wird, der kann den Prozess sanft und langsam auflösen.
In der Welt des Stillens gibt es kein richtig oder falsch, es gibt nur einen gefühlvollen und innigen Umgang miteinander. Mütter, die nicht stillen können oder wollen, sind nicht schlechter oder besser als solche, die sich gleich über Jahre dem Thema verschreiben. Das Wichtigste ist, keinen Druck aufzubauen, auf das innere Bauchgefühl zu vertrauen und entspannt zu bleiben.