Warum es uns nicht gut tut, jede Sekunde des Tages optimal nutzen zu wollen
Um Mitternacht. Du, solo am Tresen einer Großstadtbar, eingehüllt von einem Klangteppich, geflickt aus fahrig vorgetragenen Kuriositäten, keckem Glucksen und Strophen von David Bowie. Charles Schumann, Grandseigneur des gepflegten Ausschanks, schreitet Dir entgegen. Er hebt die Braue, haucht über den Marmor, er werde Dir seinen absolutesten Cocktail mischen. Er greift nach dieser und jener Zutat, hantiert mit Flaschen, nestelt und drapiert.
Das Resultat parkt er vor Deiner Brust. Eine cremeweiße Melange; vom Rand verschwimmt eine Uhr aus Sesamkörnern. „Das ist ein Carpe Diem", tippt er mit dem Zeigefinger auf den Tresen. Du setzt das Glas an Lippe –
und schmeckst: the Pureness of Ödnis.
Charly, wieso bitte einen Carpe Diem? Warum soll ich den Tag nutzen, wenn um mich herum die Nacht ihre Fackeln abbrennt? Da hinten auf der Couch – womöglich ein Au-pair-Girl, das sich aus ihrer Schlafkammer geschlichen hat; sie umkrallt den Hals eines Clickworkers. Auf dessen Schoß schnurrt ein Notebook um Aufmerksamkeit, fahre mich wenigstens herunter, du Lüstling.
Doch die beiden ignorieren den Wunsch, schleudern sich die Zungen in die hintersten Winkel der Backentaschen. Draußen zündet derweil, mitten auf der Kreuzung, eine Breakdancerin wahnwitzige Moves. Die wartenden Automobilisten: gefesselt, Beifall hupend. Tagsüber? Forget it.
„Escape into Darkness!", lautet daher die Lösung. Im Schutz der Düsternis fällt es leichter, die Regeln und Normen des Tages abzustreifen. Die prüfenden Blicke werden weniger. Plötzlich scheint mehr möglich. Dies belegen verschiedene psychologische Studien, bei denen Probanden bei schlechter Beleuchtung bereitwilliger intime Informationen über sich preisgeben, eher fremde Menschen umarmen.
Im Dunkel dürfen wir uns endlich wandeln, der Schachprofi zum Kirmesboxer, die Bankangestellte zur Burlesquetänzerin. Unser angepasstes Tages-Selbst bleibt wie die Haut einer Schlange zurück – und ein abenteuerhungriges Nacht-Selbst übernimmt das Zepter.
Doch Nacht ist mehr als Freiheit. Sie ist auch Poesie. So wurde der türkische Begriff Yakamoz, der „die Spiegelung des Mondes im Wasser" beschreibt, 2007 zum schönsten Wort der Welt gekürt. Nacht ist Liebe, wie Patti Smith auf dem Album „Easter" ausruft: „Because the Night belongs to the Lovers / Because the Night belongs to Lust". Es hat einen guten Grund, warum wir One-Night-Stand sagen und nicht One-Day-Stand, warum wir den Heiratsantrag nicht beim morgendlichen Zähneputzen – den Fuß in der Badezimmertür – loswerden, sondern im Nobelrestaurant, zu kerzenscheinendem Glockenschlag.
Ferner ist Nacht Mythos und Gefahr. Bei Vollmond sollen mehr Kinder geboren werden, Tiere häufiger beißen; im Schatten der Dämmerung erwachen Drogenhandel und Rotlicht aus ihrem Schlaf.
Also – Gürtel festziehen, Boots schnüren, und dann: totaler Fokus auf die Magie der vorgerückten Stunden. Und zwar nicht, um sie zu „nutzen", sondern um sie zu „leben", denn es geht nicht darum, seine nächtlichen Touren sekundengenau durchzutakten, sie mit etlichen To-dos vollzustopfen. Zappelst Du Dich in Trance, ist es egal, ob Deine Insta-Follower mitbekommen, wie Deine Gesichtszüge entgleiten; ob auf der Agenda drei weitere angesagte Clubs stehen.
Und exakt das meinte der römische Dichter Horaz auch, als er 23 vor Christus in seiner Ode „An Leukonoë" sein „Carpe Diem" entwarf: bewusst zu erleben, seinen Intuitionen zu folgen. Dieser Zauber des Augenblicks wird in einer Gesellschaft des dauernden Abgleichs allzu oft kaputtgedacht.
00:17 Uhr. Du nimmst einen zweiten Schluck von Deinem Drink. Nach wie vor keine Offenbarung, kaum Alkohol, Aromen von der Stange. Du winkst Charles Schumann herbei und forderst: „Einen Carpe Noctem, bitte." Dabei schaust Du den Maestro eindringlich an. Dann checkst Du: Es ist gar nicht Charles Schumann. Sondern einer Deiner Chefs aus der Anwaltskanzlei. Der mit der fancy Frisur. Morgen wirst Du dort den Tag nutzen, und die Nacht. Das verkünden Dir seine fiebrig flackernden Augen. Dann schrillt der Wecker. Salut.