Mehr als 1.000 Familien in Deutschland entscheiden sich gegen die allgemeine Schulpflicht und behalten ihre Kinder zu Hause, wo sie sich frei entwickeln und damit auch frei lernen dürfen und sollen. Damit fristen sie ein Schattendasein, denn sie handeln gegen das Gesetz und leben in der Angst vor strafrechtlichen Zwangsmaßnahmen.
Artikel 26 (3) der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte besagt: „Eltern haben das vorrangige Recht, die Art der Bildung und Erziehung, die ihre Kinder erhalten sollen, zu wählen.“ Ein Grundrecht, das in Europa längst verbreitet ist, in Deutschland aber nicht. Es herrscht Schulpflicht und die ist bindend, und zwar für alle Kinder im schulpflichtigen Alter.
Verbände wie das Netzwerk Bildungsfreiheit wollen genau diesen Umstand ändern. Sie fordern „die entwürdigenden und menschenrechtsverletzenden Zwangsmaßnahmen wie Buß- und Zwangsgelder, polizeiliche Zwangszuführungen und Sorgerechtsentzüge unverzüglich einzustellen“. Es geht um die Methoden der schulischen Ausbildung, die manchen Eltern ein Dorn im Auge ist. Sie wollen ihr Kind nicht dem System unterwerfen, sehen seine individuelle Entwicklung gefährdet und entscheiden sich deshalb bewusst dazu, ihre Kinder nicht einzuschulen.
Für das Kind beginnt damit ein Leben im Schatten. Wer auffällt, der muss damit rechnen, empfindliche Bußgelder zu bezahlen. Auch Zwangseinschulungen und sogar Sorgerechtsentzug sind reelle Gefahren. Ein Grund für sogenannte Freilerner-Familien, die Sachen zu packen und sich im Ausland niederzulassen. Frankreich oder die Niederlande sind für sie gute Alternativen. Nah angebunden an Deutschland und doch frei im Schulgedanken, denn hier entscheiden die Eltern, welche Form der Bildung ihr Kind erhalten soll. Dabei stellt sich Experten natürlich unweigerlich die Frage: Erfahren diese Kinder überhaupt Bildung und wenn ja, reicht das aus für ein selbstbestimmtes Leben?
Im Ausland gibt es mittlerweile hervorragende Systeme
Der Bildungsexperte Volker Ladenthin von der Universität Bonn äußert sich in einem Interview klar pro Unschooling: „Schule selbst ist weltfremd geworden und schafft nicht mehr die Vorbereitung auf den Beruf“. Dabei meint der englische Begriff Unschooling nichts anderes als der klare Verzicht auf den Besuch einer Regelschule. Stattdessen bleiben die Kinder zu Hause, lernen von den Eltern.
Hier gibt es zwei Formen, die Anwendung in der Familienpraxis finden. Homeschooler unterrichten ihre Kinder selbstständig zu Hause, also die Vermittlung von Schulwissen in Verantwortung der Eltern. Es gibt Lernübungen über das Internet, Bücher, selbstgeplante Lerneinheiten und Leistungstests. Ein System, was zum Beispiel in Österreich seine Anwendung findet.
Homeschooling bietet den Kindern aber trotzdem die Möglichkeit, ihren Wissensstand regelmäßig zu kontrollieren und auf diese Weise sogar Schulabschlüsse zu erhalten. In Ländern wie den USA sind selbst die Abschlussprüfungen inzwischen via Ferntest am Computer möglich, bequem von zu Hause aus. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, die Tests einfach schriftlich durchzuführen und zur Kontrolle einzuschicken. In Frankreich müssen Homeschooler für ihren Abschluss eine Regelschule besuchen und dort ihre Prüfungen ablegen. Das Zeugnis kommt, sofern bestanden, dann per Post.
Überzeugte Unschooler gehen noch einen Schritt weiter. Bei ihnen gibt es keine Prüfungen, keine festen Lerneinheiten und keine gezielte Wissensvermittlung. Hier entscheiden die Kinder autark, für was sie sich interessieren. Möchten sie zum Beispiel etwas kochen und können das Rezept dafür noch nicht lesen, dann würden sie sich wohl mit dem Thema Lesen beschäftigen wollen. Manche zieht es mehr nach draußen in die Natur und wieder andere wollen den Tag lieber mit Kunst, Musik oder Spielen verbringen. Alle Entscheidungen werden von den Eltern hingenommen. Sie unterstützen falls nötig, leiten aber nicht gezielt an. Intuitiv erziehen, auf die kindliche Neugier vertrauen, den Eifer für Neues wecken, ganz ohne Zwang: Das sind die erklärten Ziele der Unschooling-Eltern. Und deren Überzeugung zum Wohle ihrer Kinder zu handeln hat eine Basis. Sie folgen den Lehren John Caldwell Holts. Der US-amerikanische Autor und Pädagoge gilt als Begründer des Freilernen-Gedankens. Er schrieb in den 70er-Jahren Bestseller wie „Wie Kinder scheitern“ (1964) und „Wie Kinder lernen“ (1967). Als Lehrer stellte er fest, dass Kinder schnell das Interesse am Lernen verlieren wenn es um Themen geht, die sie nicht interessieren. Stattdessen fehle die individuelle Förderung der eigenen Begabungen. Hinzu käme die Versagensangst, angefacht durch das strenge Benotungssystem und den direkten Vergleich mit den Mitschülern.
Jedes Kind lernt anders, jeder Lehrer lehrt anders
Viele Jahre später, im Jahr 2009, bestätigt eine großangelegte Studie diese Meinung. In den USA wurden 12.000 Freilerner-Kinder gemeinsam mit Regelschülern in den Grundlagenfächern Mathematik, Sprache und Naturwissenschaften getestet. Dabei erreichten die Freilerner-Kinder durchschnittlich 85 Prozent. Bei den Regelschülern waren es im Schnitt nur 50 Prozent richtige Ergebnisse. Die nichtbeschulten Kinder schnitten damit deutlich besser ab. Doch was besagen diese Ergebnisse? Dass es grundsätzlich besser ist, nicht in die Schule zu gehen und allein zu lernen? Dass es besser ist, gar nicht angeleitet zu lernen? Oder dass das System Schule womöglich gar nicht funktioniert? Die Lehrer überfordert sind? Verallgemeinerungen sind hier schwer, denn jedes Kind lernt anders, jeder Lehrer lehrt anders und neben Schwarz und Weiß, Regelschule und gar keine Schule gibt es ja immer noch Facetten von Grau, zum Beispiel die Waldorfschulen oder ähnliche Versuche, Schule freier zu gestalten. Für das Freilernen gibt es in Deutschland allerdings keinen Zwischenweg, es ist und bleibt bislang verboten.