Bei der SPD-Kandidatenkür ging es monatelang drunter und drüber. Am Ende konnte es nicht schnell genug gehen. Trotz 100 Prozent Zustimmung auf dem Parteitag bekam Kanzlerkandidat Martin Schulz aber keinen Wahlkreis ab. Das könnte ein Vorteil sein, denn am Wahlabend wird ihm so vermutlich eine weitere schlechte Nachricht erspart bleiben.
in etwas verregneter Montag im rheinischen Würselen. Der Ort gehört zur Städteregion Aachen, mitten im Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Bei diesem nasskalten Wetter könnte man eigentlich mit den Kindern ins Kombibad Aquana gehen. Doch das Spaßbad hat montags geschlossen – die Personalkosten sind zu hoch. Trotz aller Sparmaßnahmen fährt das Schwimmbad jedes Jahr fast eine Million Euro Schulden ein. Der Gesamtschuldenberg, den das Bad seit Mitte der 90er verursacht hat, soll bereits bei fast 50 Millionen Euro liegen. Derjenige, der diese Misere zu verantworten hat, sitzt heute im sechsten Stock eines dreieckigen Bürogebäudes an der Wilhelm-/Ecke Stresemannstraße in Berlin-Kreuzberg und bezeichnet das Schwimmbad im 700 Kilometer entfernten Würselen als seinen politisch schwersten Fehler.
Martin Schulz war zwölf Jahre Bürgermeister von Würselen. Als das Schwimmbad eröffnet wurde, tauchte Schulz ab, aber nicht ins 50-Meter-Becken, sondern ins Europaparlament. Denn als Bürgermeister hatten ihn die Würseler abgewählt, seither hat dort die CDU das Sagen. Das besagte Schwimmbad ist mittlerweile ein Fall für den NRW-Kommunalverband und der ist offenbar drauf und dran, das Würseler Kombibad wegen totaler Überschuldung zu schließen. Eine Entscheidung soll voraussichtlich noch in der Woche vor der Bundestagswahl fallen. Schulz tatsächlich größter politischer Fehler in der Causa Kombibad war ein gewonnenes Bürgerbegehren gegen das Schwimmbad, das er aufgrund von Formfehlern ignorierte und damit den Weg für das Schwimmbad frei machte.
Ein Schwimmbad – sein größter Fehler
Das trägt ihm heute noch in seiner Heimat den Ruf ein, dass er seine Ideen einfach durchpeitscht, ohne Rücksicht auf Verluste. Zugleich dürfte das auch einer der Gründe sein, warum der SPD-Kandidat heute ohne eigenen Wahlkreis dasteht. Der SPD-Unterbezirk Städteregion Aachen, der für den Wahlkreis 88/Aachen II zuständig ist, stellt dies natürlich ganz anders dar. Auf der Webseite wird erklärt, dass man bei der Nominierung im Dezember ja nicht ahnen konnte, dass „Würselens berühmtester Sohn“, so die Lokalzeitung wenige Wochen später über Schulz, in die Bundespolitik nach Berlin wechseln wolle.
Von „Wollen“ konnte damals keine Rede sein, Schulz drohte bekanntermaßen die politische Aufgabenlosigkeit in Brüssel. Zudem geisterte er als möglicher Kanzlerkandidat bereits seit einem halben Jahr durch die Hauptstadtpresse in Berlin. Doch das hielt die Genossen in Würselen nicht davon ab, auf dem Kreisparteitag im Januar Nägel mit Köpfen zu machen. Sie erkoren die völlig unbekannte Altenpflegerin Claudia Moll zur Spitzenkandidatin bei der Bundestagswahl.
Claudia Moll, Jahrgang 1968, räumte bei ihrer Nominierung selbst ein, dass sie politisch noch sehr unerfahren sei. „Aber ich finde, es müssen mehr Menschen aus Pflegeberufen in die politischen Entscheidungen eingebunden werden“, warb sie für sich. Moll also als regionale Antwort auf den Kanzlerkandidaten aus dem gleichen Ort – das lässt sich auch als gelebte Basisdemokratie verstehen. Schulz ist ohnehin über den Listenplatz Nordrhein-Westfalen eins abgesichert, das muss reichen.
Ähnlich missachtet wurde Schulz kein halbes Jahr später im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf. In der Freilichtbühne Burg Wilhelmstein hatte die örtliche SPD-Spitzenkandidatin Eva-Maria Voigt-Küppers drei Tage vor dem Urnengang zum Wahlabschluss geladen und als satte Überraschung Martin Schulz im Gepäck. Würselen war mit Plakaten zugekleistert. Die örtliche Polizei bereitete sich wegen des Schulz-Hypes mehr oder weniger auf Popkonzert-ähnliche Verhältnisse vor. Doch das Wetter war nicht so richtig gut, Mai 2017 eben. Das Freilichtkino war abends vielleicht zur Hälfte besetzt, wie Gutmeinende danach zu berichten wussten. Das mit der Beliebtheit des SPD-Kanzlerkandidaten in seiner Heimatstadt Würselen ist eben so eine Sache, aber vielleicht zeigt man dort auch nur nicht so gern seine Sympathien.
„Gerd und Münte“ treten für Schulz ein
Doch diese Episoden aus der rheinischen Heimat des Kandidaten untermauern eine Geschichte, die immer wieder gern auf dem Berliner Politikparkett kolportiert wird: Schulz‘ Beliebtheit in seiner Heimat sei noch ausbaufähig. Dabei geht es allerdings weniger um Würselen, sondern vielmehr um Nordrhein-Westfalen als Ganzes. Das zeigte sich schon beim Umgang mit der im Mai abgewählten Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.
Im Vorfeld der Debatte um Schulz als Kanzlerkandidat hielt sich die damalige Landesmutter aus Düsseldorf mit Kommentaren völlig zurück. Mehr noch – sie strafte diesen beinahe schon mit Nichtachtung. Dann auf dem 100-Prozent-Parteitag im März konnte man beim Schlussbild des Parteitages zuschauen, wie Hannelore Kraft zusah, nicht zu nah bei Martin stehen zu müssen. Sie suchte eher die Distanz, während sich die damalige Familienministerin Manuela Schwesig förmlich ranschmiss.
Ein ähnliches Beispiel lieferte der Sauerländer (ebenfalls NRW) Franz Müntefering ab. Auch dem ehemaligen Generalsekretär und Doppel-Ex-Vorsitzenden der SPD war über Monate nicht ein Kommentar zum Kanzlerkandidaten zu entlocken. Erst als auf dem Wahlparteitag der SPD Ende Juni in Dortmund Schulz plötzlich im verheerenden Umfragetief steckte, erbarmte sich Müntefering und brachte auch noch Ex-Kanzler Schröder mit, der sich vorher übrigens auch nicht zu Schulz geäußert hatte. „Münte und Gerd“ lieferten ihre Wahl-Show für „unseren Freund Martin“ ab und einige der Delegierten rieben sich verwundert die Augen. So viel Eintracht war lang nicht mehr.
Diese fehlende politische Liebe aus Nordrhein-Westfalen und der fehlende Wahlkreis könnte für Martin Schulz aber auch etwas Gutes haben. Denn im Schulz-Wahlkreis Aachen II ist seit acht Jahren der CDU-Mann Helmut Brandt recht erfolgreich. Glaubt man den Umfragen, dann dürfte Brandt auch in zwei Wochen Würselen wieder direkt holen, die Stimmung in NRW ist derzeit offenbar eher Pro-CDU. Wäre Schulz neben Kanzler- auch noch Direktkandidat, müsste er am Wahlabend sehr wahrscheinlich nicht nur Merkel, sondern obendrein auch noch Brandt zur gewonnenen Wahl gratulieren.