Dass Depressionen zu den Volkskrankheiten der Deutschen gehören, ist längst bekannt. Der Experte Prof. Dr. Ulrich Hegerl erklärt im Interview unter anderem, welche Arten von Depressionen es gibt, wie man sie erkennt und behandelt.
Herr Dr. Hegerl, wie äußern sich Depressionen?
Depressionen schleichen sich meist über mehrere Wochen hinweg ein. Sie beginnen oftmals mit dem Gefühl einer permanenten inneren Anspannung und Erschöpfung, mit Ein- und Durchschlafstörungen, Appetitstörungen und Gewichtsverlust sowie gedrückter Stimmung und eine alle Lebensbereiche betreffende Freudlosigkeit. Es fällt Patienten schwer, im Gespräch zu antworten oder irgendeine Tätigkeit zu starten. Sie stehen permanent wie vor einem großen Berg, auch bei kleinen Dingen wie Aufstehen, Morgentoilette oder einem Telefonat. Die Menschen leiden zunehmend unter übertriebenen Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen, verbunden mit dem Gefühl der Auswegs- und Hoffnungslosigkeit. Dies führt zu großer Verzweiflung bis hin zu dem Gedanken, sich etwas anzutun, um dieser unerträglichen Situation zu entfliehen. Die Krankheit kann sich allerdings auch sehr rasch, bei manchen Menschen innerhalb eines Tages, entwickeln – und dies auch ohne äußere Auslöser.
Welche verschiedenen Arten von Depression gibt es?
Am häufigsten ist die unipolare Depression, bei der es zu depressiven Krankheitsphasen kommt, die meist mehrere Monate anhalten. Die Mehrzahl der Betroffenen erleidet mehr als eine derartige Erkrankungsphase in ihrem Leben, man spricht dann von einer rezidivierenden depressiven Störung. Eine weitere Depressionsdiagnose ist die Dysthymie, die mit weniger schweren Symptomen einhergeht, jedoch bereits im jungen Erwachsenenalter beginnt und sich unbehandelt eher chronisch durch das ganze Leben zieht. Dann können Depressionen im Rahmen manisch-depressiver Erkrankungen auftreten, sogenannten bipolaren affektiven Störungen, bei denen die Betroffenen nicht nur unter depressiven, sondern auch unter manischen Krankheitsphasen leiden. Hier kann es manchmal sogar über Nacht zum Umkippen in eine Manie kommen, in der die Patienten plötzlich überschießende Energie und gehobene Stimmung verspüren, verbunden mit Größenideen und deutlichen Fehlhandlungen wie zum Beispiel große Geldausgaben. Depressionen gehen im Schnitt mit einer um zehn Jahre reduzierten Lebenserwartung einher und sind die Hauptursache der jährlich circa 10.000 Suizide in Deutschland.
Manche erkranken aufgrund eines bestimmten Anlasses an einer Depression, etwa wegen dem Tod eines geliebten Menschen oderProblemen auf der Arbeit. Beianderen wiederum scheint kein Auslöser vorzuliegen. Welche Ursachen nimmt man hier an?
Ein häufiges Missverständnis ist, dass Depressionen nur eine Reaktion auf Stress, Verlusterlebnisse, Überforderungssituationen oder andere Bitternisse des Lebens seien. Ein Grund hierfür ist, dass die Depression sich ein Stück weit selbst ihre scheinbaren Ursachen sucht. Schleicht sich eine Depression ein, rückt sie bestehende Probleme, welcher Art auch immer, ins Zentrum des Erlebens. Dies können Partnerschaftskonflikte, Belastungen am Arbeitsplatz, körperliche Erkrankungen oder auch eine vermasselte Prüfung sein. Eine Reihe von Studien zeigt jedoch, dass negative Lebensereignisse als Ursache oder Auslöser einer Depression deutlich überschätzt werden. Patienten berichten, dass sich der Zustand einer Depression ganz anders anfühlt als Trauer, Stress, ein Misserfolg oder Stimmungstief. Typisch für eine Depression ist zum Beispiel die Unfähigkeit, Gefühle irgendwelcher Art wahrnehmen zu können, auch keine Trauer. Der Fachausdruck hierfür ist Gefühl der Gefühllosigkeit. Oft ist beim besten Willen auch für den Betroffenen kein Auslöser zu erkennen. Gehen Betroffene von einer falschen Ursache aus, bleibt die Depression oft unbehandelt. Sie muss aber genauso konsequent behandelt werden wie Diabetes mellitus oder eine Blinddarmentzündung. Und: Die Depression kann jeden treffen. Ob man eine Depression bekommt oder nicht, hängt in hohem Maße von der Veranlagung ab. Die kann genetisch bedingt sein oder auch erworben, zum Beispiel durch Traumatisierungen oder Missbrauchserfahrungen in der Kindheit.
Wie gut sind die Ursachen von Depression inzwischen erforscht? Gibt es neue Erkenntnisse?
Die krankhaften Veränderungen im Erleben und Verhalten während einer Depression sind Ausdruck von krankhaften Veränderungen in den Hirnfunktionen. Depression ist deshalb auch eine Erkrankung des Gehirns. Da fast alle Antidepressiva die Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin enthalten, gibt es die Vermutung, dass Störungen in diesen Botenstoffen die Ursache der Depression darstellen. Dies ist jedoch keineswegs gesichert und eine irreführende Vereinfachung. Das Angebot mancher „Heiler“, den Serotoninspiegel zu bestimmen, ist Scharlatanerie. Es gibt verschiedene weitere Erklärungsansätze, die zurzeit beforscht werden. Einer geht davon aus, dass die Krankheit Depression mit einer Überaktivierung des Gehirns einhergeht. Dies zeigt sich in den Angaben vieler Betroffener, sich permanent wie vor einer Prüfung zu fühlen, und ebenso in der Überaktivität von Stresshormonen und der Gehirnrinde, die mittels eines EEG untersucht werden kann. Unter Ruhebedingungen mit geschlossenen Augen entwickeln die meisten Menschen im EEG Zeichen von Entspannung und Dösigkeit, während dies bei Menschen mit Depression nicht der Fall ist. Diese bleiben permanent in einem Zustand hoher Aktivität und haben deswegen oft Schwierigkeiten zu entspannen und einzuschlafen.
Dieses Erklärungsmodell macht auch verständlich, warum mithilfe des therapeutischen Schlafentzugs, der bei stationärer Depressionsbehandlung angeboten wird, mehr als die Hälfte der depressiv Erkrankten eine abrupte Besserung ihrer Depression in den frühen Morgenstunden erleben. Durch eine Verkürzung der Bettzeit werden schlaffördernde Mechanismen im Gehirn gestärkt und wachheitsfördernde geschwächt, was der hochregulierten Hirnaktivierung in der Depression entgegenwirkt. Diese Wirkung ist jedoch nur kurzfristig, da nach dem nächsten Schlaf die Depression meist wieder zurückkehrt. Die hochregulierte Hirnaktivierung erklärt auch die Rückzugsneigung der Menschen mit Depressionen, da der Organismus jede weitere Stimulierung durch äußere Reize wie laute Musik oder soziale Interaktionen vermeiden möchte.
Was schätzt man, wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind?
In Deutschland sind jedes Jahr mehr als acht Prozent der erwachsenen Bevölkerung betroffen, wobei Frauen doppelt so häufig wie Männer erkranken. Dass die Diagnose heute häufiger gestellt wird, liegt daran, dass mehr Menschen mit Depressionen sich Hilfe holen und Ärzte Depressionen besser erkennen.
Bei einigen Patienten schlagen Antidepressiva sehr gut an, bei anderen hingegen scheinen sie nicht oder kaum zu wirken. Warum ist das so?
In den allermeisten Fällen gelingt es, eine medikamentöse Behandlung zu finden, die wirkt und gut vertragen wird. Wichtig zu wissen ist, dass die Wirkung von Antidepressiva in der Regel erst innerhalb von zwei Wochen eintritt. Im Gegensatz zu Schlaf- und Beruhigungsmitteln machen sie nicht süchtig. Es gibt keine Neigung zur Dosissteigerung, ein Gesunder wird davon nicht high. Ist die Depression unter der Behandlung abgeklungen, sollte das Antidepressivum mindestens sechs Monate bei gleicher Dosierung weiter gegeben werden, damit die Depression nicht sofort wieder aufflammt.
Wie sieht die ideale Therapie bei einer Depression aus?
Die beiden wichtigsten Behandlungssäulen sind die Pharmako- und die Psychotherapie. Bei einer mittelschweren bis schweren Depression ist eine Behandlung mit Antidepressiva zu empfehlen. Bei schwereren Depressionen, die oft mit einer Suizidgefährdung einhergehen oder bei weiteren komplizierenden Faktoren wie körperlichen Erkrankungen ist eine stationäre Behandlung oftmals der beste Weg. Bezüglich der Psychotherapie liegen die besten Wirksamkeitsbelege für die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie vor. Hier geht es darum, im Tagesablauf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Belastungen und angenehmen Dingen herzustellen, als auch um das Korrigieren von negativen Gedankenautomatismen und -kreisen.
Wie sollten sich Angehörige verhalten, wenn Sie erkennen, dass eine nahestehende Person eine schwere Depression durchlebt?
Angehörige sollten zunächst wissen, dass sie an der Depression keine Schuld tragen und diese auch selbst nicht heilen können. Wichtig ist, den Betroffenen dabei zu unterstützen, möglichst rasch in eine professionelle Behandlung zu kommen. Besteht eine ganz akute Suizidgefährdung, kann es auch nötig sein, Hilfe zu organisieren, obwohl der Erkrankte das nicht möchte.
Wieso ist Depression immer noch ein Tabuthema?
Viele Menschen glauben, dass Depressionen keine richtige Erkrankung sei, sondern eher Ausdruck persönlicher Schwäche. Man müsse sich doch nur zusammenreißen. Durch die Depression ändert sich jedoch das Verhalten der Betroffenen grundlegend. So tritt einem eine bisher verantwortungsvolle und vielleicht hilfsbereite und leistungsorientierte Person plötzlich mit verzweifelter Hilflosigkeit gegenüber, was Angehörigen, Partnern und Freunden unheimlich erscheint und sie stark verunsichern kann. Leider gibt es keinen Laborwert, der eine Depression anzeigen würde.