Vor 100 Jahren versuchten die Vereinigten Staaten, die Auswüchse des Alkoholismus durch die Prohibition zu bekämpfen. Das Experiment sollte jedoch grandios scheitern, dem organisierten Verbrechen den Weg ebnen und Staatsdiener in nie gekanntem Ausmaß korrumpieren.
Halb Amerika war an diesem Tag unterwegs, um auf den letzten Drücker alles zu hamstern, was an alkoholischen Getränken auf dem US-Markt noch verfügbar war. Um Mitternacht an diesem 16. Januar 1920, an dem im fernen Genf der Völkerbund zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengekommen war, wurden die USA gewissermaßen trockengelegt. Um Punkt 12 Uhr nachts trat der 18. Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten in Kraft, der Herstellung, Verkauf oder Transport von berauschenden alkoholischen Getränken innerhalb der Vereinigten Staaten verbot und zusätzlich Ein- oder Ausfuhr dieser Alkoholika untersagte. Die gesetzlichen Grundlagen für den Beginn von Amerikas Prohibitionszeit dafür wurden vor genau 100 Jahren, im August und September 1917, gelegt.
Nachdem der Senat die entsprechende Vorlage im August mit großer Mehrheit verabschiedet hatte, musste sich Anfang September das Repräsentantenhaus damit befassen. Nachdem dessen Abgeordnete noch einige Veränderungen vorgenommen hatten, wurde der Verfassungszusatz am 17. Dezember 1917 von beiden Kammern des Kongresses gebilligt und daraufhin von US-Präsident Woodrow Wilson am 16. Januar 1919 ratifiziert. Die Alkoholgegner, die seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Unterstützung in puritanischen oder streng fundamentalistisch-christlichen Kreisen im ländlichen Amerika gefunden hatten, hatten am 8. September 1917 bereits einen ersten großen Sieg erringen können. Denn an diesem Tag wurde per Regierungsdekret jegliche Produktion destillierter Getränke, „distilled spirits“, verboten, für die kriegsrelevante Rohstoffe wie Getreide oder Zucker benötigt wurden.
Präsident Wilson hatte die Zielvorgabe, ausgerechnet ein Volk von notorischen Trinkern durch ein aufoktroyiertes Konsumverbot zur heiligen Nüchternheit zu führen, gleich zu Anfang als „nobles Experiment“ bezeichnet. „Kein Volk der Welt“, so schrieb der „Spiegel“ einmal, „ – ausgenommen vielleicht das der Iren … – ist wohl in seinem Alltagsleben von Alkohol so durchtränkt worden wie das amerikanische.“ Vor allem der Konsum von hochprozentigen Spirituosen war rekordverdächtig. Um 1830 tranken die US-Bürger pro Jahr im Durchschnitt rund 23 Liter harten Alkohols, 1880 waren es schon etwa 50 Liter. Dagegen waren die Deutschen mit im Schnitt zehn Litern wahre Musterknaben. In dem Maße, wie der Schnapspegel in den USA nach oben schnellte, formierte sich vor allem auf dem Land, speziell in den Südstaaten, als Gegenbewegung ein ständig wachsendes Heer von Mäßigkeitsaposteln oder Total-Abstinenzlern. Sie pflegten den Alkohol nicht nur als Sünde zu geißeln, sondern machten ihn für sämtliche sozialen Missstände wie Armut oder Gewalt verantwortlich. Aus ländlicher Perspektive bündelte sich die ganze Verkommenheit städtischer Zivilisation – geprägt von Liberalen, Sozialisten, Juden und einer Vielzahl neuer Einwanderer aus Süd- und Osteuropa – in den Saloons.
Amis wurden ein Volk von Heimlichtrinkern
Kein Wunder also, dass sich die einflussreichste 1893 gegründete Lobby-Organisation der Alkoholgegner „Anti-Saloon League“ nennen sollte. Im Unterschied zu lokalen oder nationalen Vorgängervereinigungen wie der 1869 gegründeten „Prohibition Party“ oder der 1874 gebildeten „Woman’s Christian Temperance Union“ konnte die Anti-Saloon League dank Unterstützung durch Kirchen und Großindustrie immer massiveren Druck auf die politisch Verantwortlichen ausüben. Bis 1916 war die Prohibition bereits in 23 US-Bundesstaaten eingeführt worden, wobei Maine 1851 den Anfang gemacht hatte.
Der Erlass eines zentralen Prohibitions-Bundesgesetzes war bis 1913 eigentlich ausgeschlossen. Die Alkoholsteuer war gemeinsam mit den Warenzöllen die wichtigste Einnahmequelle der US-Bundesregierung. Ein Alkoholverbot hätte den Staat um mindestens ein Drittel seiner Einnahmen beraubt und so zum Bankrott geführt. Erst nach Einführung der Einkommenssteuer 1913 war die Regierung nicht mehr auf die Alkoholsteuer angewiesen. Der 18. Zusatz zur Verfassung konnte verabschiedet werden, wobei durch den am 28. Oktober 1919 ergänzend beschlossenen „Volstead Act“ jedes Getränk mit mehr als 0,5 Prozent Alkohol als „berauschend“ definiert wurde und daher unter die Verbotsbestimmungen fiel. Untersagt war allerdings nicht der Besitz oder das Trinken von Alkohol. Es musste sich also nur jemand finden, der illegal Nachschub für die durstigen Kehlen herstellte oder aus dem Ausland importierte.
Die Amerikaner wurden zu einem Volk von Heimlich-Trinkern. An Stelle der geschlossenen Saloons traten die illegalen, Speakeasies getauften Flüsterkneipen jeglicher Kategorie – von schlimmsten Fusel-Spelunken bis hin zum flotten Club. Wer Einlass begehrte, musste durch eine geöffnete Luke nur das richtige Codewort aussprechen. Allein in New York soll es Mitte der 1920er-Jahre 32.000 solcher Trinker-Treffs gegeben haben. Für 1927 bewegen sich die Schätzungen zwischen 30.000 und 100.000 Lokalitäten. Deren „Moonshine“ genannte Getränke produzierte eine heimliche amerikanische Großindustrie bestehend aus kleinen Hinterhofbrennereien bis zu riesigen Destillieranstalten, „stills“ genannt, im Licht des Mondes. Die Ware wurde von Bootleggern geschmuggelt. Früher hatten sie in ihren Stiefelschäften (Englisch bootlegs) illegal Alkohol zu den Indianern transportiert, nun schafften sie als Ein-Mann-Unternehmen oder bestens organisierte Trupps den Schnaps zu den Speakeasies. Die benötigten Mengen schafften sie natürlich nicht mehr nur mithilfe der Boots, sondern mit präparierten Lastwagen, Flugzeugen oder Schiffen aus dem angrenzenden Ausland heran. Der Alkohol war aber nicht selten von teils gewissenlosen Schwarzbrennern gepanscht und forderte Tausende Todesopfer.
Die Prohibition hatte wohltätige Auswirkungen auf die Volkswirtschaften der Nachbarländer. Vor allem die kanadische Alkoholindustrie boomte. Der Stoff schnellte mengenmäßig zwischen 1923 und 1929 von 110.000 auf 1,4 Millionen Gallonen hoch, also auf mehr als fünf Millionen Liter. Und er wurde über alle erdenklichen Routen – Tunnels, Seen, Flüsse oder das Meer – in die USA geleitet. „Seagram’s Distillery“ aus dem kanadischen Montreal stieg zum weltweit größten Spirituosenhersteller auf. Das Risiko, erwischt zu werden, war für die Schmuggler vergleichsweise gering. 1926 konnten nach Schätzungen hoher Prohibitionsbeamter höchstens fünf Prozent der gesamten Schmuggelware konfisziert werden. Immerhin kam es in Zusammenhang mit Alkoholdelikten bis 1930 zur Verhaftung von einer halben Million Amerikanern.
Mafia und Cosa Nostra blühten auf
Zur Überwachung von mehr als 30.000 Kilometern Staatsgrenze, neun Millionen Quadratmetern Bundesgebiet und über 100 Millionen US-Bürgern standen 1920 gerade einmal 1.512 schlecht bezahlte Prohibitions-Agenten zur Verfügung, die von Zoll- und Einwanderungsbehörden sowie der Küstenwache und der Polizei kaum Unterstützung erhielten. Auch später sollte die Zahl der Agenten auf maximal 3.000 ansteigen. Die Bereitschaft, die Einhaltung der Prohibition möglichst effektiv und mit hohem Kostenaufwand zu kontrollieren, war ohnehin nicht sonderlich ausgeprägt. Der Republikaner und spätere Bürgermeister von New York, Fiorello La Guardia, hatte daher seinerzeit süffisant angemerkt, dass es „einer Polizeimacht von 250.000 Mann sowie weiterer 250.000, die diese Polizei überwachen“, bedürfe.
Damit spielte er auf die gängige Bestechung dieser Agenten und anderer Staatsdiener an, denn die systematische Korruption öffentlicher Ämter zählte zum Standardprogramm des organisierten Verbrechens, das in den USA erst durch die Prohibition so richtig groß und mächtig werden sollte. Die Mafia oder Cosa Nostra riss das im Vergleich zu Schutzgelderpressungen, Glücksspiel und Prostitution weitaus lukrativere Alkoholgeschäft an sich, pflasterte im Konkurrenzkampf die Straßen mit Toten. Statt weniger Kriminalität hatte die Prohibition in manchen Städten, vor allem in Al Capones Chicago, die völlige Gesetzlosigkeit zur Folge. Auch andere Gruselhelden der amerikanischen Unterwelt-Folklore wie Jack „Legs“ Diamond, Meyer Lansky, George „Bugs“ Moran oder Dutch Schultz gelangten erst durch die Prohibitions-Party zu wirklicher Macht.
1933 wurde die Prohibition aufgehoben
Anfang der 1930er-Jahre wurde die Zahl der Prohibitionsgegner immer größer. Vor allem der künftige US-Präsident machte sich im Wahlkampf für die Aufhebung des Alkoholverbots stark, das sich die USA wegen der Folgen der Großen Depression von 1929 auch finanziell nicht mehr leisten konnten. Angesichts des Wegbrechens der Einkommenssteuererlöse um die Hälfte war die Regierung händeringend auf der Suche nach Geld. Man erinnerte sich der Alkoholsteuer. Die Aufhebung des 18. Zusatzartikels am 20. Februar 1933 und die landesweite Beendigung der Prohibition am 5. Dezember 1933 waren daher wenig überraschend. Roosevelt wurde zum Präsidenten gewählt, verschaffte sich dank der Alkoholsteuer den nötigen finanziellen Spielraum für seinen „New Deal“, der daher als das alkoholhaltigste Konjunkturprogramm der Wirtschaftsgeschichte gilt.