Sie trotzt gellenden Trillerpfeifen und Tomatenwürfen. Sie reist kreuz und quer durchs Land und bleibt trotzdem auf ihre Art unnahbar. FORUM hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in den vergangenen Wochen beim Wahlkampf-Endspurt durch die Republik begleitet.
Es gibt Tage, da läuft es für die Kanzlerin irgendwie verkehrt herum: Erst kommt die Kür und dann die Pflicht. Solche Tage mag Angela Merkel eigentlich gar nicht. Dass Politik alles nur kein Wunschkonzert ist, hat sie in allen Facetten in den zwölf Jahren an der Spitze durchlebt.
Dazu gehört auch das alljährliche Ritual des Sommerinterviews nach den großen Ferien. Üblicherweise Auftakt und Ausblick für die politische zweite Jahreshälfte wird der Auftritt vor der Bundespressekonferenz in diesem Jahr zum Auftakt für die letzte, heiße Phase des Bundestagswahlkampfs umgemünzt. Um die 300 Hauptstadtjournalisten drängeln sich zu diesem Event. Zuerst sind die Fotografen dran, die die Kanzlerin ablichten, als wäre dies jetzt zum ersten Mal überhaupt möglich. Unwillkürlich fühlt man sich an Szenen erinnert, als würde der Berliner Zoo einen neuen Eisbären Knut präsentieren.
Im Osten wird es für die Kanzlerin zunehmend ruppiger
Die Kanzlerin lässt das alles routiniert über sich ergehen. Nach gefühlten zehn Minuten Blitzlichtgewitter dürfen dann querbeet einfach mal die Hauptstadtjournalisten alle Fragen stellen, die man so stellen kann. Die Kanzlerin antwortet mal konkret, meist aber eher wolkig, oder lächelt die Fragen einfach weg. Der Inhalt der Antwort ist egal, wird von den Fragern hingenommen, und wenn die Kanzlerin mal schlagfertig antwortet oder gar eine Pointe setzt (was sie durchaus beherrscht, aber äußerst dosiert einsetzt), dankt es die Hauptstadtjournalisten-Schar mit großem Hallo und Gelächter, frei nach dem Motto: Mutti ist ja doch gar nicht so streng, sie hat gerade einen Witz gemacht. Wenn dann noch der legendäre „Herr Wonka“ seine Frage losgeworden ist, dann hat die Kanzlerin zumindest an diesem Tag ihre Kür im Heimspiel vor der Bundespressekonferenz leider schon hinter sich.
Bitterfeld-Wolfen
Der nächste Eintrag im Terminkalender verspricht, deutlich weniger gemütlich zu werden. In der ostdeutschen Provinz muss sich die Angela Merkel zwar auch als Bundeskanzlerin, vor allem aber als wahlkämpfenden CDU-Parteivorsitzende blicken lassen. Der Kanzlerinnen-Tross mit fünf Wagen und Blaulicht macht sich auf in Richtung Sachsen-Anhalt, Ziel: Bitterfeld-Wolfen an dem Fluss Mulde, gelegen zwischen Dessau und Halle im ehemaligen Chemiedreieck der DDR. Merkel ist darauf eingestellt, dass auf sie trotz ostdeutscher Herkunft hier alles andere auf sie warten dürfte als ein jubelnder Empfang und mehr oder minder freundlich-höfliche Journalistenfragen.
In Wolfen stand einmal die alte Agfa-Fabrik, die zu DDR-Zeiten dafür sorgte, dass westdeutsche Fotoapparate mit genügend Filmmaterial versorgt waren. Das Bitterfelder Chemiekombinat war nicht nur das Rückgrat der DDR-Dünge-Produktion, auch die Felder in der „BRD“ (so der damalige DDR-Jargon) blühten hervorragend durch deren Produkte. Die blühende Landschaft im Westen hatte für Bitterfeld-Wolfen den Nachteil der schmutzigsten Luft von ganz Europa. Aber das ist lange her. Damals war zwar die Umwelt völlig ruiniert, dafür herrschte Vollbeschäftigung. 27 Jahre nach der Wende hat sich die Umwelt zwischen Mulde und Saale erstaunlich gut erholt, dafür gibt es kaum noch Arbeitsplätze. Bei Wahlen gilt diese Region als politisch instabil. Mit einem Erdrutschsieg landete die AfD bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr in Sachsen-Anhalt mit über 24 Prozent im Magdeburger Parlament. In Bitterfeld-Wolfen direkt standen fast 32 Prozent zu Buche, bundesweit ein Rekordergebnis.
Schreien löst keine Probleme
Für Angela Merkel ist eine Wahlkampfarena am idyllischen Goitzsche-See aufgebaut, die Landes-CDU hat den Auftritt zur Chefsache erklärt, die Junge Union sorgt in einheitlich orangefarbenen T-Shirts für Ordnung. Knapp 600 Parteifreunde finden Platz, sozusagen ausverkauft. Auch das Kontrastprogramm hat sich bereits draußen organisiert. „Ich bin das Pack“ prangt auf vielen T-Shirts. Eine Reaktion auf Sigmar Gabriels Ausbruch, der sich seinerzeit dazu provozieren ließ, Pegida-Demonstranten als „Pack“ zu beschimpfen.
Dass der Adressat des Protestes weder für diesen Abend angekündigt, noch Mitglied der hier wahlkämpfenden CDU ist, schienen vernachlässigbare Detailfragen. Hauptsache, man kann „denen da oben“ mal zeigen, was man von ihnen hält.
„Das wird nicht einfach“, raunt einer der orangegekleideten Ordner, während Merkels Limousine vorfährt. Der Jubel der eigenen Anhänger zur Begrüßung geht in den gellenden Pfiffen unter. „Manche glauben, dass man die Probleme der Menschen in Deutschland mit Schreien bewältigen und lösen kann. Ich glaube das nicht und gehe davon aus, die Mehrheit heute hier auf diesem Platz auch nicht.“ Merkel ist bemüht, Ruhe zu bewahren. Unvorstellbar, dass sie sich zu Worten wie „Pack“ oder Gesten wie mit dem berüchtigten Mittelfinger hinreißen lassen würde.
Nüchtern, analytisch, distanziert. So kennt man sie. Dafür schätzen sie ihre Anhänger. Und wohl auch deshalb scheint sie vielen als der letzte ruhige Pol in den Zeiten von Trump, Putin, Erdogan, Kim Jong-un und wie sie alle heißen zu sein.
Da passt der CDU-Bundesvorsitzenden so gar nicht, was aus dem Landesverband Sachsen-Anhalt für Schlagzeilen sorgt. Teile der CDU-Fraktion hatten einen Antrag der AfD auf Einsetzung einer Enquetekommission zur Untersuchung von Linksextremismus unterstützt. Für Merkel ein schweres Pfund, wird sie doch nicht müde, immer wieder zu erklären: keine Koalition und keine Zusammenarbeit mit AfD oder Linken. Dass sie das ausdrücklich und explizit betont hat, war wohl auch an die örtliche Parteiprominenz adressiert. Deren Stimmung will danach gar nicht so recht zum malerischen Panorama am Goitzsche-See passen, während Merkel der nächsten Herausforderung entgegenfährt.
Brandenburg
Der Tross hat sich bereits vom Chemiedreieck zur ehemaligen „Stahlstadt“ Brandenburg an der Havel in Bewegung gesetzt. Die hat sich in den letzten zehn Jahren nicht nur äußerlich rausgemacht, sieht mittlerweile aus wie eine Bilderbuch-Filmstadt für Barock-Dramen. Auch die Arbeitslosenzahlen können sich sehen lassen, innerhalb Brandenburgs im unteren Drittel, und in der Kriminalitätsstatistik belegt die ehemalige Stahlstadt den besten, nämlich letzten Platz. Eigentlich ideale Rahmenbedingungen für die CDU-Direktkandidatin Dietlind Tiemann, die als Bürgermeisterin des Havelstädtchen seit 14 Jahren fest im Sattel sitzt. Hier, sollte man denken, müssten die Menschen doch zufrieden sein, mit sich, der Welt und eigentlich auch mit der Kanzlerin.
Aber Merkels Marsch von ihrem Wagen zur Bühne auf dem Neustädtischen Markt durch die Kundgebungsmasse gleicht einem Spießrutenlauf. Die Pfiffe scheinen noch lauter, die Trillerpfeifen greller als in Bitterfeld-Wolfen. Dazu skandierende Sprechchöre, die „Merkel raus“ oder „Merkel in den Knast“ intonieren. Die schwarzen T-Shirts mit der Aufschrift „Wir sind das Pack“ haben auch hier reißenden Absatz gefunden.
Die Trillerpfeifen-Menschen in Muskelshirt oder Lederweste, tätowiert bis unters Ohrläppchen, geben sich mit der Pfeife zwischen den Lippen und Bierflasche in der Hand alle Mühe, rein äußerlich allen denkbaren Vorurteilen Nahrung zu geben. Beim Versuch unseres Fotografen, über die Köpfe hinweg die Kanzlerin auf der Bühne abzulichten, wird ihm sein Arbeitsgerät weggeschlagen, wohl, weil einer der Protestierer glaubte, er sei Ziel des Fotos. Schnell nehmen sich drei Polizisten, freundlich aber robust, der Sache an, Platzverweis.
Gleichzeitig ist auf der Bühne lautstärkemäßig die Hölle los. Es tönt, als seien Tausende Menschen hinter der Absperrung zu den geladenen Gästen gestürmt, geschätzt waren es wohl etwa 300 gekommen. Eine Geste zeigt an, dass Merkel auch ein Leben vor ihrer Polit-Karriere hatte. Ganz Physikerin hat sie die Ursache für den ohrenbetäubenden Lärm im Blick, lenkt den Blick von CDU-Landeschef Ingo Senftleben, den Zeigefinger nach oben gereckt, auf das gut 400 Quadratmeter große Kunststoff-Sonnensegel.
Die Trillerpfeifen-Schallwellen fangen sich darin, werden tausendfach zurückgeworfen. Die Kanzlerin wirkt etwas angesäuert.
So mancher Profi-Moderator hätte vor dieser Lärm-Front kapituliert. Nicht so Merkel. Was hätte sie auch tun sollen? So arbeitet sie Punkt für Punkt ab, verspricht sich kaum und verzettelt sich auch nicht. Und auch wenn allenfalls Redefetzen akustisch zu verstehen waren, gibt es Lob für die standhafte Kanzlerin und Unverständnis für die Trillerpfeifen-Menschen.
Merkel hat längst Wahlkampf gelernt
Es sind diese Auftritte, die vergessen machen, dass Angela Merkel in früheren Jahren für wenig wahlkampftauglich gehalten wurde. Zu analytisch, zu kopflastig, zu ruhig, und was sonst noch vorzubringen war. Es sind Auftritte wie diese, in denen Inhalte allein schon wegen der akustischen Kulisse in den Hintergrund treten, dafür aber das Bild einer Frau vermitteln, die sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, die ihr Ding durchzieht, in gewisser Weise über allem steht. Da kann vor, hinter oder neben der Bühne noch so viel lärmendes Getöse inszeniert werden. Solche Bilder liebt die Kanzlerin, wissend, dass die mehr sagen als zig Seiten Parteiprogramm und noch findige Wahlplakat-Slogans.
Tomaten in Heidelberg
Merkel kann Wahlkampf. Und wie es scheint: Je widriger die Umstände, umso mehr läuft sie zur Hochform auf. Merkel, die Coole, an der Angriffe abperlen oder eben überspielt werden. Wie im beschaulichen Heidelberg auf dem zentralen Universitätsplatz. Heidelberg ist eigentlich die Brutstädte der Bürgerlichkeit, hier sind CDU und Grüne so dicht beieinander, dass spürbarer Protest bei einer Wahlkampfveranstaltung der CDU fast schon einer Gotteslästerung gleich kommt.
Merkel hat ihre Sicht der Dinge längst dargelegt, als plötzlich zwei Tomaten Richtung Bühne fliegen. Die Kanzlerin bekommt an der linken Hüfte zwei Spritzer ab, die sie begleitende Moderatorin Claudia von Brauchitsch ist ein bisschen mehr betroffen. Merkel reicht ihr daraufhin locker ein Papiertaschentuch, von den Lippen glaubt man ihr ablesen zu können: „Alles halb so schlimm, ist ja nur Wasser.“ Helmut Kohl war in Situationen, als mit Eiern nach ihm geworfen wurde, schon mal mit aufgereckten Fäusten auf die Werfer losgestürmt. Da war zugegebenermaßen die Distanz auch eine andere.
Torgau
Einzelne schlecht gezielte Tomaten in Heidelberg können in diesem Bundestagswahlkampf Angela Merkel eher zum Schmunzeln bringen, im Vergleich zu dem, was ihr im Osten der Republik entgegenschlägt. Damit ist nicht der Nieselregen bei unangenehm niedrigen Temperaturen samt unterkühltem Publikum in Torgau gemeint. Und ohne die Trillerpfeifen würde sie inzwischen beim Wahlkampfauftritt in der sächsischen Provinz schon fast etwas vermissen. Auffallend ist, dass sich hier AfD- und NPD-Sympathisanten ganz offen zu erkennen geben. Die „Merkel hau ab“-Chöre treten nicht mehr anonym auf. Die Kanzlerin bleibt äußerlich gelassen, gibt auf Journalisten-Nachfrage, warum sie sich das antue, fast schon beleidigt: „Mir ist es wichtig, auch dorthin zu fahren, wo ich nicht nur freundlich empfangen werde.“
Trillerpfeifen-Menschen als ständige Begleiter
Von Torgau nach Finsterwalde, wo die Kameraden von NPD, AfD, Pegida und Legida sich zu allem eingefunden haben, nur nicht, um die Kanzlerin freundlich zu empfangen. Ermittlungen des BKA ergeben später, dass ein Großteil von ihnen aus Sachsen kam, um 30 Kilometer jenseits der Landesgrenze „mal richtig Theater“ aufzuführen, so ein Sprecher der brandenburgischen Polizei gegenüber FORUM. Da mögen der Wahlkämpferin die paar Tomaten, die in Wolgast in ihrer mecklenburgischen Heimat Richtung Bühne flogen, fast schon wie zivilisierte West-Verhältnisse vorgekommen sein.
Münster, Weltfriedensfest
Die Bilder gleichen sich. Im Osten wird der Protest gegen die Kanzlerin immer schärfer, im Westen hat sie dagegen ein ums andere Mal eher Heimspiele. Die Eröffnung des Weltfriedensfestes in Münster muss ihr nicht nur wegen des freundlichen Empfangs wie ein Urlaubstag mitten in der heißen Wahlkampfphase vorgekommen sein. Während sie ansonsten, Bühne rauf, Bühne runter, ein eng getaktetes Programm durchzieht, das aus (beabsichtigter?) Zeitknappheit praktisch keinen Raum für Gespräche, weder mit Publikum noch Journalisten, lässt, nimmt sich Angela Merkel hier Zeit. Plaudert mit dem orthodoxen Patriarchen aus der Ukraine, macht Scherze mit dem Essener Bischof Overbeck. „Die Kanzlerin weiß sehr gut, wie wichtig Frieden ist, und darum ist es sehr wichtig, dass sie heute hier ist“, so der Militär-Bischof, der sich unter anderem auch schon um das seelische Wohl der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan gekümmert hat.
Sicherheit hat auch beim Weltfriedensfest höchste Priorität. BKA-Personenschützer haben den Weg vom Foyer in die große Messehalle wie immer hermetisch abgeriegelt. Selbst für die die Münsteraner CDU-Kandidatin Sybille Benning ist am rot-weißen BKA-Flatterband Schluss. Der Mann mit „Knopf im Ohr“ zeigt keine Gnade. Bis die Kanzlerin ihre Parteifreundin in der Menge entdeckt, zielstrebig auf sie zugeht: „Na, sag mal, lassen die dich nicht durch, das kann ja wohl nicht wahr sein, komm mal gleich mit mir mit“, sprach’s und hob die Flatterleine leicht an. Ihre wahlkämpfende Parteifreundin schlüpft überglücklich unten durch, den mürrischen BKA-Mann schiebt Merkel mehr oder weniger zur Seite. Merkel hätte sich vermutlich auch unbeobachtet von Journalisten nicht anders verhalten. Aber wann ist eine Kanzlerin die Tage vor der Wahl schon unbeobachtet? So weiß sie auch in solchen Momenten um die Wirkung der kleinen Gesten. Umso mehr, als solche direkten Kontakte eher die Ausnahme sind.
Merkel weiß um die Wirkung der Bilder
Wie überhaupt die Station in Münster eine Ausnahme in der Wahlauseinandersetzung ist. Hier trifft sie auf die, die sie für das feiern, wofür sie andernorts ohrenbetäubenden Protest erntet: Ihre Entscheidung auf dem krisenhaften Höhepunkt der Entwicklung im Sommer vor zwei Jahren, als die Protestantin aus dem ostdeutschen Mecklenburg-Vorpommern mit einer vergleichsweise einsamen Entscheidung das christliche Wort von der Nächstenliebe in praktische Politik übersetzte und die Öffnung der Grenzen für Hunderttausende Menschen auf der Flucht ermöglichte.
Die 22-jährige Klara Zimmerman aus Wien, die seit einem halben Jahr für den Frieden durch Europa pilgert, hat in Südfrankreich vom Auftritt der Kanzlerin erfahren und wollte unbedingt dabei sein, „seit dem Refugee-Sommer hab ich vor der deutschen Kanzlerin einen riesen Respekt, in allen Friedenscamps in ganz Europa wird von ihr gesprochen“, so die Friedens-Pilgerin aus dem 14. Bezirk in Österreichs Hauptstadt. Mit ihrem großen Rucksack und der untergebundenen Isomatte hat sie keine Chance, die Kanzlerin direkt in der Messehalle erleben zu können, sitzt nun nebenan mutterseelenallein vor der riesigen Videowand und hört nun den Satz, den die Kanzlerin auf ihren zahlreichen deutschen Wahlkampfbühnen in letzter Zeit eher gekonnt umschifft hat: „Natürlich wird Deutschland auch weiterhin Flüchtlinge aufnehmen, und ich hoffe, dass das auch die anderen europäischen Staaten tun werden.“