Er hat nichts von seiner Power eingebüßt. Das „Kanzler-Duell“ hat ihn offensichtlich gereizt und neue Kräfte freigesetzt. Martin Schulz lässt keinen Zweifel, er wird kämpfen bis zur letzten Minute.
Kühl war es schon, aber die Sonne schien. Kanzlerwetter, murmelte es aus dem dichten Gedränge. Für den Kandidaten gab es kein Vorankommen, zu dicht bedrängt war er, von Neugierigen, von Fotografen und Kamerateams. Quasi über Nacht war dieser Mann, Ex-Bürgermeister, „Europafuzzi“, Bartträger ohne Abitur zum Politstar und Hoffnungsträger nicht nur der SPD geworden. Das war Anfang Februar, Martin Schulz war kurz nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten zu seinem ersten Wahlkampfauftritt nach Saarlouis gekommen. Noch war er nicht offiziell von seiner Partei nominiert, noch war kein Bundestagswahlkampf. Aber das Mammutwahljahr nahm Anlauf mit der Landtagswahl im Saarland. Und die sollte den Sozialdemokraten den Weg von einer 20-Prozent-Partei zurück zur Volkspartei ebnen.
Sieben Monate später ist Schulz zurück an gleicher Stelle. Von Kanzlerwetter diesmal in Saarlands heimlicher Hauptstadt keine Spur. Im Gegenteil. Der Kandidat kämpft sich durch heftige Regengüsse und ein Meer von Schirmen zur Bühne durch. Dort hatte sich zuvor das Bandprojekt „2. Chance“ vom gleichnamigen Saarbrücker Integrationskulturverein alle Mühe gegeben, die Stimmung im schon fast wörtlichen Sinn über Wasser zu halten. Sollten gehässige Zyniker im Namen des Bandprojekts eine Anspielung auf den Umfrage-Stand der Partei gewittert haben, behielten sie klugerweise witzelnde Anspielungen für sich.
Kanzlerwetter sieht anders aus. Zu Beginn der Rede konnte der Kandidat nicht einmal mit Zwischenapplaus Bestätigung finden. „Mit Schirm in der Hand lässt sich nur schwer klatschen“, witzelte Schulz zum Gefallen der knapp 1.500 Unentwegten.
Bemerkenswert, dass sich der Platz trotz der unangenehmen Verhältnisse keineswegs leerte. Wer gekommen war, um dem Kandidaten zu lauschen, hielt trotzig den Güssen von oben stand. Es schien, als wollte man ein demonstratives Zeichen gegen die widrigen Umstände setzen.
Angriffslustig gegen Merkel
Das Durchhaltevermögen wurde belohnt. Je mehr Schulz in seiner kämpferischen Rede Fahrt aufnahm, umso mehr zeigte sich der Wettergott gewogen. Der Regen nahm ein Ende, die Schirme verschwanden, die Jacken wurden ausgeschüttelt, der Kanzlerkandidat durfte sich ein ums andere Mal durch heftigen Applaus bestätigt sehen. Der fiel besonders lautstark aus, als er Angela Merkel direkt herausforderte. „Ich bin gerne bereit, wenn Sie wollen morgen früh, zu einem neuen Duell.“ Das tun Sportler vor allem dann, wenn sie sich im ersten Kampf ungerechtfertigt um den Sieg gebracht fühlen und auf Revanche aus sind. Der Auftritt vermittelt den Eindruck, als habe das „Kanzler-Duell“ dem Herausforderer so etwas wie die zweite Luft gebracht, Kraftreserven für den Endspurt freigesetzt, zur Freude auch des leidenschaftlichen Triathleten, Bundesjustizministers und saarländischem Spitzenkandidaten Heiko Maas, der solche Situationen kennt, aus eigenen früheren Wahlkämpfen und wohl auch aus dem Sport.
Schulz konzentriert sich auf das, wo er besonders wunde Punkte bei der Kanzlerin ausmacht: Das Verhältnis zur Türkei, Aufrüstung oder Rente. Im großen TV-Aufeinandertreffen hatte sich die Kanzlerin zwar klar zum Thema Rente mit 67 festgelegt. Nur, fragt der Herausforderer, propagieren nicht längst führende Unionspolitiker die Rente mit 70, und hatte sich die Kanzlerin nicht weiland ebenso klar gegen die Maut festgelegt, die nun doch kommt? Martin Schulz hält dagegen, kündigt einen „neuen Generationenvertrag“ an. Für Details ist bei einem Wahlkampfauftritt wenig Raum. Aber das Ziel ist klar: für ein Leben in Würde, auch im Alter.
Und damit ist er ganz bei seinem zentralen Thema, mit dem er sieben Monate zuvor beim Auftakt im Saarland geradezu Begeisterungsstürme ausgelöst hatte. Im Mittelpunkt seiner Rede stand bereits damals die Erinnerung an den Satz des Grundgesetzes über die Würde des Menschen, aus dem er schließlich sein Wahlkampfmotto ableitete: Zeit für Gerechtigkeit.
Wenn jetzt in der letzten Phase vor allem die Angriffe gegen die Kanzlerin und die Union immer mehr Raum einnehmen, war dieses Grundmotiv schon von Beginn an formuliert: Es gebe „kein Abonnement für andere Parteien auf den ersten Platz“ nach dem Motto: Das war schon immer so, das wird auch so bleiben. „Nee, das war nicht immer so, das wird auch nicht so bleiben“, begeisterte er bereits im Februar nicht nur die Parteifreunde. Im ersten Schulz-Hype schnellten nicht nur die Umfragewerte in für die SPD lange nicht mehr gewohnte Höhe, auch die Geschäftsstellen vermeldeten plötzlich viel Arbeit mit einer hohen Zahl von Beitrittserklärungen. „Wir haben unsere Potenziale gesehen“, kommentiert Schulz im FORUM-Interview das, was sich in einer ersten Euphoriewelle gezeigt hat.
Hoffen auf die Unentschiedenen
Darauf stützen sich Schulz und seine Partei auch in den letzten Tagen bis zum Wahlsonntag. Natürlich gehört es zum Ritual all derjenigen, die in Umfragen nicht auf Platz eins liegen, auf die hohe Zahl der noch Unentschlossenen zu verweisen und damit den Wahlkämpfern an der Basis Mut zu machen. Was oft wie das trotzige Pfeifen im Wald daherkommt, klingt bei diesem Auftritt nicht nur bei Schulz selbst, sondern auch in den Gesprächen lange nach, als der Kandidat selbst schon längst zum nächsten Auftritt entschwunden ist, durchaus nach Überzeugung. Aufgegeben haben sich die Genossen hier zumindest nicht (siehe Umfrage).
Da werden selbst die wenigen am Rande hochgereckten Plakate mit dem provozierenden Schriftzug: „Wir geben auf. SPD“ schlicht kommentarlos ignoriert. Später wird einer aus der Ecke der kleinen Protestgruppe mit den Plakaten seinem pauschalen Ärger über die nie gehaltenen Versprechen, übrigens aller Parteien, wie er betont, Luft machen. Zitieren lassen will er sich nicht, will anonym bleiben. Ob er der Rede überhaupt zugehört habe? Nein. Warum auch, bei dieser Grundhaltung. Diesen Teil der Gesellschaft wird kein Wahlkämpfer erreichen. Auch nicht der Ex-Bürgermeister einer Provinzstadt mit Bart und ohne Abitur.
Schulz spielt mit den Attributen, die ihn von Anfang an begleiten. „Kann ein Mann ohne Abitur Kanzler werden?“ – das zieht er durch, seit Anfang Februar beim Start im Saarland. Ein halbes Jahr später hat er Satz unter seinen Anhängern Kultstatus. Wenn er ihn jetzt in die Mikrophone auf Wahlkampfbühnen spricht, schallt ihm aus dem Publikum ein vielstimmiges „Ja“ entgegen. Man fühlt sich unvermittelt ins Fußballstadion zur Ansage nach einem Tor versetzt. Die anfänglichen Witzeleien über Schulz als „Heilsbringer“ nach dem Motto, wenn er übers Wasser geht, beweist das doch nur: Schwimmen kann er auch nicht, haben sich längst abgenutzt.
Von Saarlouis nach Saarlouis, vom Beginn des Hypes über einen neuen Polit-Star mit Popkultur-Format bis zum Wahlkämpfer mit harten Bandagen für die letzten Runden im Endspurt säumen auch drei Landtagswahlen mit niederschmetternden Ergebnissen für die SPD den Weg zum Finale am 24. September. Wäre der Auftritt in Saarlouis Maßstab, sollte man die SPD trotz der herben Verluste und ernüchternden Umfrageergebnisse keineswegs jetzt schon abschreiben. Schulz lässt keinen Zweifel, dass er bis zur letzten Minute kämpfen wird.
Anfang Februar stand in Saarlouis der zentrale und immer wiederholte Satz: „Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“ Jetzt, im September, sagt er: „Wenn ich Kanzler bin, dann ...“ Aus dem bloßen Machtanspruch, getragen von einer damals noch recht diffusen Gerechtigkeits-Woge sind fokussierte Schwerpunkte geworden, auch wenn Kritiker dabei immer noch das Fleisch an den Knochen und Konkretes hinter den Slogans vermissen. In seiner Haltung etwa zur Türkei, die er nicht nur bekräftigt, sondern zunehmend verschärft, wird man ihm diesen Vorwurf kaum machen können. „Es geht nicht um einen Bürgermeister eines Dorfes in der Türkei, sondern das Staatoberhaupt, das sich anmaßt, in die deutsche Innenpolitik einzugreifen.“ Und das zu einer Zeit, wo deutsche Staatsbürger in der Türkei willkürlich verhaftet werden.
Vergangenheit oder Zukunft
Wenige Tage vor der Wahl dekliniert Schulz seine zentralen politischen Absichten: Bildungsgerechtigkeit und Generationengerechtigkeit, und sucht die Konfrontation beim Rüstungsthema. „Ich bin nicht bereit, massiv in die Aufrüstung zu investieren.“ Die letzte Wahlkampfphase wird zur direkten Auseinandersetzung mit Angela Merkel. Weiter so mit der Kanzlerin oder Zukunftsideen mit der SPD, so seine Kernbotschaft. „Merkel will die Vergangenheit verwalten, ich will die Zukunft gestalten.“
Andere Mitbewerber waren Schulz übrigens keine besondere Würdigung wert. Auf die Frage, ob er noch ein zusätzliches Ass für den Countdown im Ärmel habe, präzisierte der Herausforderer routiniert die bekannten Themen, und das mit einem Blick, der nichts anderes hieß: Wenn es so wäre, würde ich Ihnen das ganz sicher nicht jetzt zum Mitschreiben erzählen. Die Spannung hochhalten hat Schulz gelernt.