„Die Kultur ist zentraler Bestandteil unseres Lebens“, sagt Martin Schulz. Das SPD-Kulturforum hatte zur Diskussion eingeladen – Wahlkampf der etwas anderen Art.
Bier und Rotwein gibt es später, sagt die Hostess am Tresen. Jetzt ist Kultur angesagt. Wir sind im Lapidarium, einem ehemaligen Pumpwerk am Halleschen Ufer in Berlin-Kreuzberg, das heute einer Werbeagentur gehört und jahrzehntelang Skulpturen beherbergte. Thorsten Schäfer-Gümbel als Vorstand des SPD-Kulturforums eröffnet den Abend, belässt es aber bei einer Empfehlung der Lektüre der „Kulturpolitischen Leitlinien“, die überall auf den Plätzen liegen. Stattdessen versucht er es mit einem Scherz: Die SPD sei nicht dafür bekannt, zu jammern ohne zu leiden, sondern eher für das Gegenteil.
Iris Berben kommt in ihrem Grußwort von der Kultur auf die Demokratie. Beides gehöre zusammen, Kultur stifte Zusammenhalt, wecke Neugier, sei aber auch wie ein „zartes Pflänzchen, das man immer wieder gießen müsse.“ Sie komme gerne zur SPD, sagt sie am Ende, und: „Auf mich können Sie zählen!“ Martin Schulz springt auf, herzt die schmale Schauspielerin und nimmt sie in den Arm. Aber noch ist er nicht an der Reihe.
Auf der Bühne gruppieren sich zwei Schriftstellerinnen und ein Schriftsteller um Nils Minkmar, den Feuilleton-Redakteur vom „Spiegel“. Martin Schulz sitzt neben Minkmar. Der eröffnet die Runde mit der Frage, wie die Autoren denn zur Politik gekommen seien. Olga Grjasnowa, die aus Aserbaidschan stammt und Deutsch schreibt („Gott ist nicht schüchtern“), hatte ihr erstes Erlebnis mit deutscher Politik unter Roland Koch in Hessen. Die ausländerfeindliche Kampagne des damaligen Ministerpräsidenten hat sie tief erschreckt. Juli Zeh, bekannt als Autorin von „Unter Leuten“, hoffte wie viele in den 90er-Jahren auf einen politischen Neuanfang und sah, wie nach dem 11. September 2001 ihre Euphorie kalt erwischt wurde. Heute spüre sie in ihren Kreisen große Vorbehalte gegen Politiker, deswegen sei es auch unter den Eliten so ruhig. „Es ist so, als würde man seinen Ruf beschädigen, wenn man sich mit Politikern abgibt. Mein öffentliches Eintreten für die SPD hat mir so manchen Shitstorm eingebracht.“ Robert Menasse schließlich, österreichischer Essayist und Romanautor, meint, er habe schon als Kind rote Strampelhosen getragen. Der Großvater war Mitbegründer der SPÖ. „Ich bin freischaffender Sozialist“, beschreibt er sich selbst, denn aus der SPÖ ist er vor gut zehn Jahren ausgetreten.
Gegen die Merkel’sche „Taktiererei“
Es hat etwas gedauert, aber jetzt ist er dran: Der Kanzlerkandidat, gelernter Buchhändler und Vielleser, muss seine kulturelle Kompetenz nicht betonen. „Ich betrachte Kultur nicht als Randphänomen, sondern als zentralen Bestandteil unseres Lebens“, ruft Martin Schulz aus. Und: „Das ist sie heute nicht!“ Denn zu einer Demokratie gehöre eine Kultur des Streits. Und dem weiche die Gegenseite systematisch aus. „Ja, mehr noch: Die Entpolitisierung der Demokratie wird regierungsamtlich betrieben!“ Er ballt die Faust, umklammert das Mikrofon, seine Stimme vibriert vor Kraft – doch dann nimmt er sich wieder zurück. Seine Mutter, aus einem bürgerlichen Haushalt stammend, habe ihm als jüngstes von fünf Kindern die Welt der Bücher nahegebracht. Wer liest, lerne mit jedem neuen Buch Menschen kennen, neue Denkweisen, andere Leben. „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ – das Buch von Günter Grass über den Wahlkampf 1969 – habe er jetzt wieder gelesen. Und dann zitiert er aus dem Gedächtnis eine Stelle, die der Autor nicht ohne Ironie der SPD ins Stammbuch geschrieben hat: „Sozialdemokraten sind Leute, denen die Leuchtkraft ihrer Resolutionen wertvoller ist als die praktische Politik.“
Das passt für einen kulturellen Abend, an dem es nicht immer so ernst zugeht. Als Robert Menasse sich dazu versteigt, Politik dann gut zu nennen, „wenn sie mich nicht behelligt“, bekommt er sofort eine Breitseite von Juli Zeh. „Genau so eine Politik macht Merkel“, sagt sie. „Alle sollen in Ruhe gelassen werden und sich nicht aufregen. Demokratie aber geht nicht, wenn die Leute nicht das Gefühl haben, daran teilzunehmen.“ Nils Minkmar, der Moderator der Runde, ist in diesem Moment gar nicht mehr vorhanden.
Als der Österreicher dann die selbstzufriedene Stimmung aufgreift, die in Deutschland herrsche, und von „intellektueller Dürftigkeit“ und der angemaßten deutschen Führungsrolle in Europa spricht, fühlt sich Schulz als Europäer angesprochen. Gerade in Brüssel habe er oft erlebt, dass deutsche Politiker angesichts der hohen Exportüberschüsse aufträten, als könnten „die anderen sich mal gefälligst bei uns eine Scheibe abschneiden.“ Das werde er abstellen. „Wir sind für ein europäisches Deutschland, nicht für ein deutsches Europa“, zitiert er Thomas Mann.
Ernst wird es noch einmal, als die Türkei-Frage aufgeworfen wird. Wie soll man mit einem Autokraten umgehen, der Schriftsteller, Journalisten, Menschenrechtler einsperren lässt, ja sie als Geiseln missbraucht? Schulz lässt erkennen, wie nah ihm die Sache geht. Er habe als Europaabgeordneter und als Parlamentspräsident für die Aufnahme der Türkei in die EU gekämpft. „Stellen Sie sich vor: Ein Land mit 80 Millionen Einwohnern, darunter 90 Prozent Muslimen, gehört zur EU und bekennt sich zu den europäischen Grundwerten – das wäre doch der Beweis, dass Islam und Demokratie nicht unvereinbar sind.“ Er kenne Erdogan seit der Zeit, als dieser noch Bürgermeister von Istanbul war. Damals habe er ihn als Reformer gesehen und bewundert. „Heute schlägt er einen anderen Weg ein – weg von der EU, in ein autoritär geführtes Land, in dem die Menschenrechte nichts gelten. Das ist ein Gegenputsch.“ Weil er Erdogan so gut kenne, wisse er aber auch, dass er nur eine Sprache verstünde: einen klaren Schnitt, also Stopp der Beitrittsverhandlungen. Dafür werde er sich als Bundeskanzler in der EU einsetzen, für eine klare Haltung, gegen die Merkel’sche „Taktiererei“.
Ein Statement der Autorin Juli Zeh an diesem Abend verdient, festgehalten zu werden: „Man erwartet von der Politik ein optimales Angebot“, sagt sie. „Und wenn man das nicht vorfindet, macht man nichts – statt sich zu engagieren und selbst etwas zu tun.“ Das Angebot am Buffet des Kulturforums ist jedenfalls optimal, und während alles hinausströmt, sitzt Martin Schulz auch spät am Abend noch in einer Runde junger Leute. Sie haben Stühle zu einem Kreis gestellt und stecken die Köpfe zusammen.