Der „Lutherweg in Sachsen“ führt Wanderer und Pilger an zahlreiche Wirkungsstätten der Reformation. Bis heute sind viele Spuren in der traditionsreichen, historisch gewachsenen Landschaft zu entdecken.
Was wäre wohl gewesen, wenn Heinrich Stromer, Stadtrat und Medizinprofessor in Leipzig und außerdem Besitzer von Auerbachs Hof, am 3. Dezember 1521 Furcht gehabt hätte? Hatte er nicht und ließ den als Junker Jörg verkleideten Martin Luther heimlich in seinem Gasthaus übernachten. Zwei Jahre zuvor, während der „Leipziger Disputation“, hatte Luther öfter bei ihm einen Schoppen getrunken. Doch nun – nach dem Reichtag in Worms – war der junge Protestler vogelfrei und wurde von Kaiser und Kirche verfolgt. Heinrich Stromers Mut hätte beiden das Leben kosten können und wäre womöglich das Aus für die Reformation gewesen. Ein Bild in der Lutherstube illustriert das riskante Treffen. „Auerbachs Keller“ heißt heutzutage diese weltbekannte Gaststätte in der Mädler-Passage.
Für die meisten Gäste ist sie – wegen Faust und Mephisto vor dem Eingang – „Goethes Kneipe“. Der war während seines Studiums von 1765 bis 1768 hier Stammgast, doch Martin Luther war weit vor ihm dort. Nun kennzeichnet ein grünes „L“ auf weißem Grund „Auerbachs Keller“ als eine Station auf dem etwa 550 Kilometer langen Lutherweg durch Sachsen.
27 Stationen auf 550 Kilometer
Von den insgesamt 27 Stationen auf diesem 2015 eröffneten Pilger- und Wanderweg ist Leipzig die wichtigste – schon wegen der Anzahl der mit Luther direkt und indirekt verbundenen Bauten. Dazu zählen vor allem die Nikolai- und die Thomaskirche. 1539 kletterten die Luther-Fans auf Leitern draußen an der Thomaskirche empor und drückten die Scheiben ein, um seiner Predigt bei der Einführung der Reformation zu lauschen. Ein Fenster von 1882 zeigt ihn flankiert von Melanchthon und Friedrich dem Weisen, seinem Beschützer.
Zu den Lutherweg-Punkten gehören dort auch die neue Uni sowie die moderne, zusammen mit ihr neu erbaute, Universitätskirche St. Pauli. Eine Wiedergutmachung ihrer Sprengung 1968 durch die DDR-Regierung. Die vorherige Dominikanerkirche von 1240 hatte Luther 1545, ein Jahr vor seinem Tod, zum evangelischen Gotteshaus geweiht.
Eine weitere Station ist das Alte Rathaus, das sich in einer neuen Ausstellung der schon erwähnten „Leipziger Disputation“ widmet. Zu sehen sind wichtige Schriftstücke, der Lutherbecher, ein Geschenk des schwedischen Königs Gustav I. Wasa, und der Ehering seiner Frau, Katharina von Bora. Luther und sein katholischer Kontrahent Johannes Eck kommen auch selbst mit ihren Argumenten per Kopfhörer zu Wort. Letztlich fühlte sich jeder von ihnen als Sieger.
Ein gutes Gefühl haben wohl auch die Lutherweg-Wanderer bei diesem Parcours durch das lebendige Leipzig. Wenn sie sich dann noch in den schon von Luther besuchten Gaststätten „Thüringer Hof“ und „Barthels Hof“ stärken, sind sie fit für weitere Entdeckungen.
Und die gibt es von Bad Düben im Norden bis nach Zwickau im Süden. Oft führen die Wege durch reizvolle Landschaften. Manch tausendjährige Orte mit fein restaurierten Kirchen und Schlössern warten auf diesem Rundkurs, der sich aber auch queren lässt. Wanderpässe und Lutherweg-Stempel liegen bereit, auch für diejenigen, die nicht per pedes unterwegs sind.
Leisnig verewigt im Guinness-Buch
Die „Kleinen“ am Wegesrand überraschen mitunter noch mehr, so zum Beispiel Löbnitz, westlich von Bad Düben und nördlich von Leipzig. Luther kam öfter dorthin, hatte er sich doch in die hübsche Ade Schönberg verliebt. Mit Genuss verzehrte er nach der Predigt gekochte Henne mit Reis und Brühe, so wird erzählt und den Besuchern gerne die Luthereiche gezeigt.
Statt seiner predigt seit 1691 die „Löbnitzer Bilder-Bibel“, Deutschlands größte bemalte Holzkassettendecke mit 250 Feldern aus dem Alten und Neuen Testament. Ein kindlicher David steht da neben dem grimmigen Goliath, ein frierender Jesus wird von Johannes im Jordan getauft, und der auferstandene Jesus schwebt fast über seinem Sarg. Ein herzhafter Renaissance-Comic und ein Clou auf Sachsens Lutherweg.
In südöstlicher Richtung kann Leisnig zu Füßen der Burg Mildenstein Besonderes bieten. Luther alias Norbert Hein führt vom Marktplatz zur Dauerausstellung im Stadtgut. Dort wohnte der Reformator 1522 und 1523 jeweils fünf Tage und verfasste zusammen mit den Bürgern die „Leisniger Kastenordnung“, das älteste evangelische Sozialpapier mit Richtlinien, wie die in einem Kasten gesammelten Einnahmen sozialgerecht zu verwenden seien. Vielleicht imponiert der dort gefertigte, weltgrößte und 439 Kilo schwere Stulpenstiefel im Stiefelmuseum noch mehr. Seit 1997 ist er im „Guinness-Buch der Rekorde“ verzeichnet.
Wer Trutzbauten liebt, wird auf dem Lutherweg ebenfalls fündig und freut sich über die Burgen Gnandstein, Kriebstein und das mehr als tausendjährige Schloss Rochlitz, wo schon 1523 die Reformation eingeführt wurde. Johannes Mathesius, ein Schüler Luthers, verfasste dort die erste Luther-Biographie.
Witzigerweise gehört auch Wurzen südlich von Leipzig mit seinem 900-jährigen Dom und dem einstigen Bischofsschloss (jetzt Schlosshotel) zu den Stationen auf dem Lutherweg, obwohl der Reformator den papsttreuen Ort aus Sicherheitsgründen nie betreten hat. „Wir werben halt damit, dass Luther nie hier war“, lacht die Fremdenführerin. Später wurde auch Wurzen evangelisch. Stattdessen setzt man auf den berühmtesten Sohn der Stadt, den Schriftsteller Joachim Ringelnatz (1883-1934) und seinen Seemann Kuttel Daddeldu.
Der Lutherweg ist nachhaltig konzipiert
Von Wurzen ist es nicht weit nach Grimma mit seinem schönen Renaissance-Rathaus und der doppeltürmigen Frauenkirche von 1329. Die leere Klosterkirche St. Augustin, wo Luther mehrfach predigte, stimmt allerdings traurig. Immerhin fanden seine Schriften den Weg ins nahe gelegene Frauenkloster Marienthron in Nimbschen.
Davon ermutigt flohen im Frühjahr 1523 neun Nonnen mithilfe des Torgauer Ratsherren Leonhard Koppe aus dem Kloster. Den Wagen hatte Luther geschickt, und versteckt hinter Heringsfässern gelangten sie nach Wittenberg, darunter auch seine spätere Ehefrau Katharina von Bora. Luther ist schon 42, als er sie 1525 heiratet, eher aus Pflichtgefühl als aus Liebe. Eine bessere Gefährtin hätte er aber kaum finden können. Katharina kann lesen, schreiben und mit Geld umgehen, bekommt sechs Kinder, bewirtschaftet ein Landgut, braut Bier und bekocht auch seine zahlreichen Gäste. „Herr Käthe“ nennt er die Tüchtige mitunter, doch Luther ist lernfähig. „Ich wollt meine Käthe nicht für ganz Frankreich und Venedig mehr hergeben“, bekennt er nach wenigen Jahren. Was wäre ohne sie aus ihm und der Reformation geworden? Als Witwe flüchtet sie 1552 vor der Pest aus Wittenberg nach Torgau, verunglückt unterwegs und stirbt in der Elbestadt. „Herr Käthe“ heißt dort noch ein Speiselokal. Ihr eigentliches Andenken bewahrt jedoch die „Katharina-Luther-Stube“, die einzige ihr gewidmete Gedenkstätte weltweit. Ein Bronzeporträt von Appel-Bregler (1993) zeigt ihr „Janusgesicht“, einerseits selbstbewusst, andererseits demütig. In der Marienkirche findet sich ihre letzte Ruhestätte.
Die meisten Besucher strömen jedoch lieber zum fein herausgeputzten Renaissanceschloss Hartenfels. Von jenseits der Elbe betrachtet, wirkt es wie eine Märchenresidenz, und die war es auch. Fantastische Feste mit bis zu 31.000 Gästen feierten hier die Fürsten. Hingucker ist der komplett restaurierte Große Wendelstein, ein graziler Treppenturm ohne inneren Stützpfeiler, errichtet von 1533 bis 1536. „Schaun Sie sich auch die Wappen am Söller an, wie die jetzt glänzen“, strahlt die Stadtführerin.
Ganz anders der unscheinbare Torbogen, durch den die Besucher in die restaurierte Schlosskirche gelangen, den ersten protestantischen Kirchbau überhaupt. Das lichte, von Lucas Cranach dem Älteren betont schlicht ausgestattete Kirchenschiff entspricht den reformatorischen Idealen. Als einziges „Schmuckelement“ verdeutlicht die farbige, fein gearbeitete Kanzel das Wesentliche: die Verkündigung des Evangeliums. Auf Deutsch wohlgemerkt.
Martin Luther hat die Schlosskirche am 5. Oktober 1544 selbst geweiht und war mehr als 40 Mal in der Stadt. „Torgaus Bauten übertreffen in ihrer Schönheit alle anderen. Und selbst Salomons Tempel war nur aus Holz“, begeisterte er sich. Nun können sich die Lutherweg-Wanderer für diese schöne Stadt begeistern, und das nicht nur im Jahr 2017.
Sachsens Lutherweg ist nachhaltig konzipiert und hat schon länger Anschluss an die Luther-Strecken in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die insgesamt 1.200 Kilometer reichen hinein nach Hessen und Bayern und treffen auch auf die Jakobswege. Das 500-jährige Reformationsjubiläum hat Gehirne und Füße munter gemacht.