So schön und entspannt kann eine Woche wandern sein! Der Lechweg, neuer Shootingstar unter den Weitwanderwegen, folgt dem letzten Wildfluss der nördlichen Alpen durch drei Regionen. Er beginnt im schroffen Lechquellengebirge in Vorarlberg, schlängelt sich über Tiroler Hochweiden und endet in der Kulturstadt Füssen im Allgäu.
Schloss Neuschwanstein mag ja wunderschön sein, aber eben auch schön voll. Doch jetzt, wo auf dem Pfad durch den verwunschenen Wald nach Alpsee und Schloss Hohenschwangau schließlich Neuschwanstein ins Blickfeld rückt und dabei kein einziges Anzeichen von Zivilisation auszumachen ist, erscheint alles in einem anderen Licht. Der weiße, schnörkelige Kitsch-Bau des Märchenkönigs Ludwig II. inmitten buntgefärbter Wälder, majestätisch über dem beinahe türkisen Wasser – einfach fabelhaft. Aber je mehr wir aus der Einsamkeit den Schlössern entgegenwandern, desto heftiger melden sich die Erinnerungen von einst zurück. Am Seeweg wird es zunehmend lebhafter und im Burghof dann herrscht regelrechtes Besuchergewimmel inklusive Selfie-Stick-Erstechungsgefahr. Nach den vergangenen Tagen auf dem Lechweg ein Schock!
Ach, wären wir doch nur weiter dem weißen L auf schwarzem Grund gefolgt. Die Wegmarkierung will Wanderer wohlweislich ein paar hundert Meter vorher ablenken – Richtung Füssen. Also schnell zurück auf den Pfad der Tugend, wo wir sie spätestens auf dem Alpenrosenweg Richtung Kalvarienberg wiederfinden: die Ruhe. Die Erhabenheit der Natur. Die Freiheit, sich im maximal entspannenden Tempo fortzubewegen.
Abstecher in Seitentäler und auf Berggipfel
Überraschend: Trotz Traumwetter begegneten wir in den vergangenen Tagen kaum Mitwanderern. Vermutlich liegt es daran, dass die allermeisten, so wie wir, flussabwärts gehen und es zudem kaum zu entgegengesetzten Begegnungen kommt, viele zudem auf Varianten zurückgreifen oder Abstecher in Seitentäler oder auf Berggipfel unternehmen. Nicht zuletzt dank dieser Möglichkeiten ist der 125 Kilometer lange Lechweg, 2012 als erster grenzüberschreitender Weitwanderweg mit dem Qualitätssiegel „Leading Quality Trails – Best of Europe“ ausgezeichnet, ein Riesenerfolg. In den letzten Jahren verzeichnete das von Vorarlberg durch Tirol bis ins Allgäu führende Tal ein Besucherplus von gut 20 Prozent. Die Gründe? Generell bescheren derzeit Weitwanderwege den beteiligten Regionen eine erhöhte Nachfrage. Im Speziellen erweitert der Lechweg noch die potenzielle Zielgruppe, gilt er doch als vergleichsweise leichter Weitwanderweg, für den es weder überdurchschnittliche Kondition noch Kletterexpertise braucht. Für weitere Pluspunkte sorgen die abwechslungsreiche Wegführung am Fluss, durch Wiesen, Felder und Auwälder, ferner eine lückenlose Beschilderung, interessante Veranstalterangebote inklusive Gepäckservice sowie mannigfaltige Unterkünfte von der Pension bis zum Vier-Sterne-Hotel.
In der noblen „Alpenrose“ in Elbigenalp etwa ließe sich leicht der ganze Tag in der Wellnessoase verbringen, würde nicht die Gruppe zum Aufbruch drängen, um die 21 Kilometer nach Stanzach entspannt zu schaffen. Der Tenor: Es soll ja noch Zeit bleiben für einen Cappuccino in der Sonne, eine Brotzeit auf der Alm oder einen Abstecher zum Doser Wasserfall. Dieser entspringt bei Häselgehr aus einer Felsgrotte und zwar jedes Jahr exakt vom 23. April bis zum 11. November. Da die Wissenschaft keine endgültige Erklärung für dieses Phänomen hat, hält sich unermüdlich die Volkssage vom Drachen als Auslaufwächter. Mystische Geschichten haben im Lechtal ohnehin Konjunktur, allen voran die Geierwally.
Die berühmte Geierwally lebte hier
Aus Elbigenalp stammte mit Anna Stainer nämlich jene junge Frau, deren Geschichte als Vorlage für den mehrfach verfilmten Roman Pate stand. 1858 hatte sich die 17-Jährige über steilen Felsen abgeseilt und einen Adlerhorst ausgenommen, was sich viele Männer nie getraut hätten. Der Mythos lebt bis heute, nicht zuletzt dank sommerlicher Freilichtaufführungen in der Bernhardstalschlucht. Dramen bietet der Lechweg auch jenseits der Theaterbühne, schließlich verläuft er zum Großteil in Sichtweite des letzten ungezähmten Wildflusses der Nordalpen – inklusive Tobel, Schluchten und Auen mit verschlungenen Wasserläufen, die einen oft genug an Kanadas Wildnis denken lassen.
Aufregend geht es gleich zu Beginn des Fernwanderwegs los, am Formarinsee in 1.793 Meter Höhe. Dort müssen sich die zwischen Felsvorsprüngen, Alpenrosen und Edelweiß hervorsprudelnden Bäche erst einmal zu einem breiteren Rinnsal sammeln, das dann sanft Richtung Lech am Arlberg fließt. Hinter den schindelverkleideten Hotelpalästen und blumenumrankten Häusern des mondänen Urlaubsortes geht es hoch über einem Canyon weiter nach Warth und via Steeg ins charmante Holzgau. Ganz in der Nähe gabelt sich dann der Weg. So wollten seine Planer jenen Wanderern eine Alternative bieten, die sich vor der 200 Meter langen Hängebrücke ängstigen, die sich in 110 Metern Höhe über das Höhenbachtal spannt. Wer indessen Gefallen an Schaukelbrücken findet, sollte im lechabwärts gelegenen Reutte einen Abstecher zur 403 Meter langen Fußgängerbrücke „highline179“ einplanen, die die Ruine Ehrenberg mit dem Fort Claudia verbindet.
Vorher jedoch warten noch andere Höhepunkte. Hinter Holzgau und Bach zieht der mittlerweile stattliche Lech in weiten Schleifen seine Bahn durch das breiter werdende Tal, bildet Kiesel- und Geröllbänke sowie Inseln aus. Unsere Wandergruppe überlegt, einen diesbezüglich besonders ausgeprägten Flussabschnitt, den Lechzopf, vom erhabenen Baichlstein aus zu betrachten. Doch die Beine sind schwer vom Wandern und das Angebot von Toni Selb zu verlockend. Da seine „Pension Waldhof Lechtal“ nur Frühstück bietet und der Koch im örtlichen Restaurant ausfällt, kutschiert er uns ins zehn Kilometer entfernte Weißenbach. „Service des Hauses“, nennt er das. Bei einer nächtlichen Runde Lechweg-Bier, exklusiv und regional gebraut, kommen wir noch ins Reden. „Der Lechweg“, so Toni, „hat uns viel gebracht, sorgt er doch auch unter der Woche für Auslastung.“ Besonders freut er sich mit seiner Frau Doris über die zunehmenden „Wiederholungstäter“, also Lechweg-Wanderer, die Folgeurlaube buchen. Bei Doris und Toni als Basislager.
Am nächsten Tag offenbart das wolkenlose Wetter ein Manko: Der Lechweg führt immer wieder durch Passagen, die eine nicht mehr ganz hochstehende Sonne schlecht erreichen kann. Daher sehnen wir uns ab und an nach erhabeneren Wegen – und schlagen etwa den Orchideenleiterweg ein. Von oben blicken wir dann auch immer wieder auf die Lechauen, wo der Wildfluss auf einer Breite von bis zu 400 Metern nach Lust und Laune mit Zehntausenden Tonnen Geröll spielt, ungehindert Schotterbänke formt und mit häufigem Hochwasser auch wieder zerstören durfte. Und dennoch so viel Leben ermöglicht. Infotafeln, Faltkarten und das Begleitheft erwähnen bis zu 600 Jahre alte Wacholderbäume, Flussregenpfeifer, Flussuferwolfsspinnen und das mit 5.000 Pflanzen größte Frauenschuhvorkommen Österreichs bei Martinau. Was uns wohl im breiter werdenden Talkessel von Reutte erwartet? Das Infomaterial kündigt auf den knapp 30 Kilometern nach Wängle-Hinterbichl verstärkte Siedlungsdichte an. Doch der Weg führt galant um Häuser herum und recht anspruchsvoll hinauf zum verträumten Frauensee, wo der Sundowner wichtige Impulse für die letzten Tageskilometer gibt. Das beste Getränk der Tour aber ist das „Wir haben’s tatsächlich geschafft“-Getränk, das tags darauf auf der Terrasse des familiären Wohlfühl-Hotels „Rübezahl“ kurz hinter der Füssener Altstadt ansteht. Irre, wie sensationell eine Spezi nach so vielen Wanderkilometern schmecken kann!
Vom Außenbereich des Restaurants genießen wir uns zuprostend noch mal einen absoluten Logenblick auf die Berge, aus denen wir gerade kommen, sowie auf Schloss Neuschwanstein, das sich hier erneut von seiner herrlich-kitschigen Seite präsentiert. Und als wir gerade die letzten Tage gedanklich Revue passieren lassen, tippt uns ein Angestellter von hinten an, dass in wenigen Minuten die Steinmassage in der „Beauty Alm“ beginnen würde. Die haben wir uns auch redlich verdient!