Der Psychologe und Autor Dr. Peter Conzen, Experte für das Phänomen „Fanatismus“, erklärt, warum Menschen in extreme Gedankenwelten abgleiten, die raffinierte Propaganda des IS, und wie Fanatismus ganze Massen beherrschen kann.
Herr Conzen, wo beginnt eigentlich Fanatismus?
Fanatismus ist das Erfasstwerden von ganz leidenschaftlichen Visionen, von Ideologien, moralischen Geboten, religiösen Überzeugungen, die dann mit immer größerer Einseitigkeit ausgelebt werden, immer starrer, intoleranter nach außen vertreten werden, nicht selten unter Enthemmung immer größerer Gewalt. Beim Fanatismus schlägt die gesunde Überzeugung und Begeisterung in eine Verengung und Verhärtung der Identität um. Stets beobachten wir eine starre Spaltung, eine Schwarz-Weiß-Einteilung der Welt.
Was bedeutet Identitätsverengung genau?
Das ganze Dasein, die ganze Persönlichkeit wird auf die Verfolgung des fanatischen Ziels verengt. Nur noch ein ganz überdimensioniertes Feindbild wird verantwortlich gemacht für nahezu alle Übel der Welt. Es existiert die Vorstellung, dass man seine ganze Energie und seine ganze Existenz dafür einsetzen muss, dieses Objekt zu stellen, zu diskreditieren und im Extremfall zu vernichten.
Kann prinzipiell jeder fanatisch werden?
Wir sind alle anfällig für übermäßige Reaktionen und Gefühlszustände. In Extremsituationen laufen wir Gefahr, uns anstecken zu lassen. Es gibt aber bestimmte Menschen, die eindeutig mehr disponiert sind, in fanatische Gedankenwelten abzudriften.
Wo kommt es zu dieser Disposition?
Da spielen Vertrauensthemen eine Rolle. Im Fanatismus geht letztlich das Urvertrauen in das Sichere und Geborgene der Welt verloren. Auf einmal überkommt diese Menschen ein Wahnsinns-Ur-Misstrauen. Dann glauben sie, die Lösung zu haben, die ganze Quelle der Ungerechtigkeit. Und die muss beseitigt werden, wenn nötig, auch gewaltsam, um dann letztlich wieder eine Welt voll von Harmonie und Geborgenheit und Gerechtigkeit herzustellen. Die Visionen von Fanatikern sind eigentlich etwas ganz Frühkindliches. Eine primär-narzisstische Fantasie. Dabei spielen meiner Meinung nach oft Beschämungen eine ganz große Rolle.
Was heißt das?
Wert und Würde der eigenen Person oder des eigenen Volkes sind verletzt worden. Man fühlt sich zurückgesetzt, es gibt narzisstische Wunden, die schlummern. Die heften sich dann an ideale Visionen oder Feindbilder. Man denke an die jungen Menschen, die in die Fänge des IS geraten. Da vermischt sich die eigene Biografie mit dem Kollektivschicksal der Araber. Die arabische Welt ist seit Jahrhunderten vom Westen beschämt und übervorteilt worden. Es gab Ungerechtigkeiten und Massaker und so weiter. Das wird in der Propaganda ganz raffiniert aufgearbeitet. Junge Menschen versetzen sich in solche Welten hinein, werden davon gefangen genommen, wenn die beschämenden Aspekte der eigenen Biografie, wie „Ich bin nichts wert, ich werde an den Rand gestellt, ich bekomme keine Chance“, sich mit so einem Kollektivschicksal vermischen. Durch die suggestiven Botschaften des Internets, unter dem Einfluss scheinbar charismatischer Persönlichkeiten, das Eintauchen in radikale Umfelder gleitet man in eine Parallelwelt ab.
Fanatismus beginnt also schon früh. Auch bei Kindern?
Das radikale Potenzial im Menschen, die Neigung zu extremen Wutreaktionen und Spaltungen baut sich schon bei Kindern und Jugendlichen auf. Aber man muss vorsichtig sein. Es ist nach wie vor nur ein sehr kleiner Prozentsatz von jungen Menschen, die sich in radikale Gedankenwelten hineinbegeben. Von diesem kleinen Prozentsatz ist es nur ein winziger Prozentsatz, der dann die Hemmschwelle zu töten und morden überschreitet.
Mangelndes Selbstwertgefühl spielt also eine Rolle. Und auch die Suche nach Halt …
Ja, das dürfen wir nicht unterschätzen. In manchen Theorien wird unterstellt, dass Fanatismus einer schizophrenen Persönlichkeitsveränderung ähnelt, eine Art Wahn. Oder kriminologische Theorien sagen, dass es sich um eine Enthemmung krimineller Impulse handelt, die latent vorhanden sind. Aus meiner Sicht greift das alles zu kurz. Im Wortstamm von Fanatismus steckt ja das Fanum, der heilige Tempelbezirk. Vom Ursprung ist der Fanatiker jemand, der im Fanum von einem Dämon in rasende Begeisterung versetzt wurde. Also, man darf dieses Moment der pseudo-religiösen Ergriffenheit nicht unterschätzen. Nicht selten sind es auch hochintelligente und gebildete Menschen, die sich in radikalen Gedankensystemen verlieren. Denken Sie beispielsweise an manche Vertreter der ersten Generation der RAF, Bürgerkinder, die eigentlich aussichtsreiche Karrieren vor sich hatten, denen es scheinbar an nichts mangelte.
Die immer größere Empörung über Ungerechtigkeiten, Hasspotenziale, wie gesagt, und die Erfahrung mangelnder Zugehörigkeit sind sehr ausschlaggebend. Entscheidend ist oft auch ein Sinndefizit. Junge Menschen streben nach Sinn. Und die Postmoderne hat da nicht mehr ganz so viel anzubieten. Reichtum, Macht, Erfolg, Prestige, ob das den Menschen glücklich macht und erfüllt, wissen wir nicht.
Wann im Lebenszyklus entwickelt sich Fanatismus? Kann sich Fanatismus auch im fortgeschrittenen Alter entwickeln?
Fanatische Entwicklungen können auch im Erwachsenenalter erfolgen. Denken Sie an Kleists Michael Kohlhaas, bis heute eine der eindrucksvollsten Darstellungen einer fanatischen Persönlichkeitsentgleisung. Dennoch würde ich sagen, das Eingangstor ist die mittlere und späte Adoleszenz, die richtige Verhärtung erfolgt jedoch meistens im jungen Erwachsenenalter zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Hier spielen auch psychopathologische Momente oft eine starke Rolle. Dennoch: Fanatische Entwicklungen sind umkehrbar, Fanatiker können sich rückbesinnen. Denken Sie an manche Terroristen, die in bürgerliche Existenzen zurückkehrten, die zum Teil Reue zeigten und ihr gewalttätiges Agieren im Nachhinein als eine quasi unwirkliche Phase ihrer Biografie erlebten.
Auf dem Höhepunkt ihres Agierens sind Fanatiker nicht erreichbar und nicht therapierbar. Das würden sie als absolute Schwäche erleben. Im Vorfeld sind beraterische und therapeutische Einflussnahmen möglich und in der De-Radikalisierung in den Aussteigerprogrammen.
Wie kann man denn im Vorfeld sich anbahnenden Fanatismus erkennen?
Eine schwierige Frage. Es gibt keine spezifischen Warnzeichen. Keine typischen Symptome. Hinweise können sein: Der Rückzug von Familie und Freundschaften. Auf einmal ganz, ganz streng religiös leben. Ganz streng die Partnerin überwachen. In sich gekehrt sein, ernst werden. Sich hineinbegeben in radikale Umfelder, zum Beispiel rechtsextreme Gruppierungen. Das Schwärmen für bestimmte Fanatiker, Parolen verkünden.
Gibt es außer dem radikalen Fanatismus noch andere Formen?
Es gibt viele Formen, den originären und den indizierten, den heißen und den kalten, den stummen und den expansiven. Es gibt auch den matten Fanatismus, Menschen, die eigenbrötlerisch ihren Ideen nachhängen und meist nicht gefährlich werden. Hinter vielen Formen heutigen Rechtsextremismus steckt eher ein dumpfer Fanatismus. Viele jugendliche Neonazis wissen ja oft kaum etwas vom Nationalsozialismus, wer eigentlich Rudolf Heß war. Daneben gibt es auch ganz stark ideologisierte Formen, die scheinbar höchst rational durchdrungen sind. Vielleicht ist die Tendenz zu fanatischem Zusammenschluss von der Evolution ein Stück weit vorgegeben – wenn schwere Gefahren drohen und Menschen entsprechend entschlossen reagieren müssen. Demagogen verstehen es immer wieder, Gefahren zu suggerieren und zu übertreiben und so in kritischen historischen Situationen ganze Gruppen und Massen mit radikalem Gedankengut zu infiltrieren.
Wie kommt es zum Massenfanatismus, wie zum Beispiel im Nationalsozialismus?
Die rationalen und zweifelnden Funktionen der Psyche werden ausgeschaltet und man lässt sich von primitiven Parolen anstecken und gerät in euphorische und hasserfüllte Gefühlszustände. Es ist eine Gruppendynamik. Eine Gruppenfantasie wird genährt: Wir sind großartig, wir sind ein erhabenes Volk, wir sind rein, wir haben einen Vorherrschaftsanspruch. Der persönliche Narzissmus, das Größen-Selbst wird in solchen Situationen aufgewertet, man kommt in übertrieben euphorische Stimmungen, das ist gerade für selbstunsichere, ressentimentbeladene Menschen mit narzisstischen Defekten und mit Schamproblemen attraktiv. Aber auch ganz normale gebildete, intelligente Menschen können in so einen Rausch verfallen und werden zu Handlangern totalitärer Systeme.
Glauben Sie, dass so etwas wie der Nationalsozialismus unter Hitler in Deutschland noch mal passieren kann?
Eine solch furchtbare historische Entgleisung wie den Nationalsozialismus halte ich in unserem Land nicht mehr für denkbar. Wir haben in den letzten sechs Jahrzehnten demokratische Strukturen aufgebaut, auf die wir stolz sein können. Allerdings muss, gerade bei jungen Menschen, das Bewusstsein hochgehalten werden, dass demokratische Verhältnisse nichts Selbstverständliches sind, dass immer wieder um demokratische Umgangsformen gerungen, das demokratische System wehrhaft verteidigt werden muss. Das Ausmaß an Populismus, Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit ist besorgniserregend, die primitiven Parolen und gewalttätigen Übergriffe sind beschämend. Wir haben als Deutsche besondere historische Verantwortung im Kampf gegen alle Formen von Extremismus und Totalitarismus.