Noch wissen viele Unternehmen nicht, was sie in Zeiten der Digitalisierung erwartet. Um sie zu unterstützen, gibt es nun unter der Leitung des Zentrums für Mechatronik und Automatisierungstechnik in Zusammenarbeit mit der Standortagentur Saaris und dem AWS-Institut das Kompetenzzentrum Mittelstand 4.0 im Saarland.
Die Unternehmenslandschaft ist bunt gemischt, die Digitalisierung höchst unterschiedlich fortgeschritten. Welche Branchen wollen Sie konkret ansprechen?
Prof. Dr. Rainer Müller (wissenschaftlicher Geschäftsführer ZeMA): Erste Formen der Digitalisierung sind in den meisten Unternehmen bereits vorhanden, so dass wir nicht von einem radikalen Wandel ausgehen. Es ist vielmehr eine kontinuierliche Entwicklung hin zur Digitalisierung. Die Unternehmen sollten sich der Digitalisierung nicht verschließen und sich bewusst mit Fragestellungen in ihrem Unternehmen auseinandersetzen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Kommunikation auf Augenhöhe
Dr. Dirk Werth (Geschäftsführer AWSi): Der Fokus liegt auf dem produzierenden Gewerbe, das im Saarland besonders stark ausgeprägt ist. Viele kleinere und mittlere Unternehmen sind in Sachen Digitalisierung zurückhaltend, was vor allem aus Unwissenheit und Berührungsängsten resultiert. In zahlreichen Vorgesprächen haben wir festgestellt, dass das in rund 75 Prozent aller Unternehmen so ist. Lediglich fünf Prozent sind mit der Digitalisierung eng vertraut und haben bereits Projekte erfolgreich umgesetzt, die restlichen 20 Prozent gelten als fortgeschritten. Unser Beratungsangebot ist dementsprechend aufgebaut.
Dr. Carsten Meier (Geschäftsführer von „saarland.innovation&standort" (Saaris): Neben den drei genannten Partnern sind über Unteraufträge das IPL Institut für Produktions- und Logistiksysteme aus Saarbrücken und das eBusiness-Kompetenzzentrum für Planen und Bauen aus Kaiserslautern eingebunden, um weitere wichtige Themen abzudecken. Das Kompetenzzentrum arbeitet eng mit den Kammern, Verbänden und Technologietransferstellen im Saarland zusammen, damit die Angebote bestmöglich auf den Bedarf der Wirtschaft ausgerichtet sind. Die Öffentlichkeitsarbeit übernimmt Saaris, die als Schnittstelle zu den kleinen und mittleren Unternehmen aus dem verarbeitenden Gewerbe fungiert. Außerdem bestehen über die bei Saaris angesiedelten Netzwerke enge Kontakte in die Unternehmerlandschaft, neben Automotive und Produktionstechnik auch zur IT-Branche.
Was können sich Unternehmen im Saarland konkret unter dem Beratungsangebot vorstellen?
Dr. Dirk Werth: Es gibt unterschiedliche Angebote, die sich an dem Wissensstand der Unternehmen ausrichten, Pakete für Einsteiger, für Fortgeschrittene und für Experten. Wir sprechen von einem Industrie-4.0-Reifegrad. Mit Hilfe sogenannter kurzer Readiness-Checks sind Unternehmen in der Lage, sich online selbst einzuschätzen und sich die passenden Angebote auszusuchen. Das AWSi wird vier bis fünf Personen abstellen, die die Beratung übernehmen. Ziel ist es, ein Mentoring-Programm auf die Beine zu stellen. Dabei sollen Experten aus erfahrenen Industrie 4.0-Unternehmen als Mentoren für lösungssuchende Betriebe zur Verfügung stehen. Uns ist es wichtig, dass Unternehmen über Erfahrungen und Herausforderungen auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, also von Unternehmer zu Unternehmer.
Prof. Dr. Rainer Müller: Das Angebot umfasst zum Beispiel Infoveranstaltungen und persönliche Sprechstunden im Kompetenzzentrum. Damit Digitalisierung ganz konkret zum Anfassen da ist, gibt es produktionsnahe Demonstratoren in Open-Lab-Form zum Testen und Evaluieren neuer Technologien. Geplant sind ein Co-Working-Space und der Aufbau eines Unterstützungsnetzwerks aus den Kammern, Verbänden und den Experten der Informations- und Kommunikationstechnik. Wir werden im Kompetenzzentrum die Digitalisierung so anschaulich wie möglich machen und auf die Anforderungen der Wirtschaft konkret eingehen. Also viel Praxis und möglichst wenig Theorie.
Dr. Carsten Meier: In Praxisprojekten können Unternehmen gemeinsam mit Experten des Kompetenzzentrums Lösungen für ihre konkrete Digitalisierungsidee entwickeln und umsetzen. Durch das Zusammenbringen unterschiedlicher Akteure sollen Kreativität und neue Ideen gefördert werden. Vielleicht entstehen sogar neue Geschäftsmodelle.
Alle Angebote des Kompetenzzentrums sind übrigens für die teilnehmenden Unternehmen kostenfrei.
Wie wollen Sie die Mitarbeiter in den Unternehmen für die Digitalisierung begeistern?
Dr. Carsten Meier: Die Unternehmen müssen ihre Beschäftigten über alle Altersklassen hinweg noch stärker als bisher auf die notwendigen Veränderungen einstimmen, die mit der
Digitalisierung der Geschäftsprozesse und der Arbeitsabläufe verbunden sind. Denn ob und wie rasch der digitale Wandel im Betrieb gelingt, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Akzeptanz der Mitarbeiter.
Prof. Dr. Rainer Müller: Gerade die Älteren, also die Ü50, haben noch ein Viertel ihres Arbeitslebens vor sich. Schon aufgrund des demografischen Wandels müssen wir sie zwingend in die digitale Welt mitnehmen. Die jüngeren, aber auch die älteren Mitarbeiter sollten aktiv in die Digitalisierungsprozesse eingebunden werden. Ihre Ideen und Bedenken erhöhen letztendlich die so wichtige Akzeptanz.
Was erklären Sie den Mitarbeitern, wenn die Digitalisierung ihren Arbeitsplatz kostet?
Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer: Die Digitalisierung können wir nicht aufhalten. Es wird zu Jobverlusten kommen. Das hat die Praxis bereits gezeigt. Wir denken oft, dass es die ganz einfachen Tätigkeiten sind, die verlorengehen. Ersetzt werden aber vielmehr Arbeiten, die sich im Produktionsprozess am besten automatisieren lassen. Businesskonzepte und Arbeitsstrukturen werden sich ändern und müssen in den Unternehmen neu gedacht werden. Facharbeiter, Meister, zweite und dritte Führungsebene, sie alle werden betroffen sein. Aber es entstehen auch neue Arbeitsplätze. Ein hoher Automatisierungsgrad hat immer auch zu höherer Beschäftigung geführt. Aus Facharbeitern werden Ingenieure, aus Produktionsfirmen werden Servicefirmen, aus Autoherstellern IT-Unternehmen. Der beste Schutz gegen die Digitalisierung heißt „lebenslanges Lernen" und zwar entlang der Wertschöpfungskette der gesamten Bildung. Dazu gibt es keine Alternative. Für seinen eigenen Marktwert ist letztlich jeder selbst verantwortlich.
Dr. Carsten Meier: Die Digitalisierung wird Jobs kosten. Doch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben es in der Hand, mit klugen Entscheidungen die nachteiligen Folgen des digitalen Wandels so abzufedern, dass möglichst wenig Menschen auf der Strecke bleiben. Der Schlüssel zum Erfolg ist, unser Bildungssystem so aufzustellen, dass es den Anforderungen des digitalen Zeitalters gerecht wird.
Prof. Dr. Rainer Müller: Wie jede industrielle Revolution zuvor wird auch die vierte industrielle Revolution die Gesellschaft verändern. Die Digitalisierung ist mit Blick auf die smarten Anwendungen in der Gesellschaft längst angekommen und stellt sie in puncto Datenschutz und Arbeitnehmerrechte vor ganz neue Herausforderungen.
Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten der Digitalisierung in Deutschland ein?
Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer: Wir müssen ein Stück weit ehrlich sein und feststellen, dass die Digitalisierung in Deutschland im internationalen Vergleich keine Erfolgsgeschichte ist. Hard- und Softwareentwicklung findet im großen Stil in Deutschland so gut wie nicht statt, mal von einigen Ausnahmen abgesehen.
Noch keine Erfolgsstory
Aber es gibt jede Menge positive Beispiele wie alte Geschäftsmodelle erfolgreich durch disruptive Ideen abgelöst wurden. Ein Hersteller von Turbinen verkauft heute „Schub" und die dazugehörigen Services. Ein Produzent von Kompressoren verkauft heute „Druckluft". Die Geschäftsmodelle ändern sich. Was beispielsweise früher als Dienstleistung angeboten wurde, ist heute Kostenfaktor. Digitalisierung erfolgreich zu gestalten, erfordert nicht zuletzt, sich im eigenen Unternehmen Gedanken über sein Geschäftsmodell zu machen.
Mit dem Kompetenzzentrum verfügt die saarländische Wirtschaft nunmehr über ein wichtiges und für sie kostenloses Medium, sich der Digitalisierung anzunähern. Es muss nur genutzt werden.