Für Ferrari und Sebastian Vettel waren zwei ihrer drei Asien-Auftritte eine Horror-Show. Die Chancen des Deutschen auf den WM-Titel sind nur noch theoretischer Natur. Mercedes-Star Lewis Hamilton dagegen kann sich bereits beim viertletzten Saisonrennen an diesem Sonntag in Austin/Texas zum Formel-1-Champion 2017 krönen.
Es war sein Traum. Im dritten Jahr in Diensten von Ferrari wollte Sebastian Vettel dem Traditionsrennstall seinen ersten Titel in Rot bescheren. Doch vier Rennen vor Saisonende ist der Hesse so gut wie raus aus dem Rennen um die WM. Er hat es nicht mehr in eigener Hand. Vettel kann die WM-Entscheidung nur noch vertagen. Bei einem Sieg von WM-Spitzenreiter Lewis Hamilton an diesem Sonntag in Austin/Texas (21 Uhr MESZ bei RTL und Sky) muss der Deutsche mindestens Fünfter werden, um die Spannung noch aufrechtzuerhalten. Titel-Rivale Lewis Hamilton dagegen rast unbeirrt seinem vierten WM-Titel entgegen. Nach seinem Japan-Sieg, dem achten Triumph in dieser Saison und dem 61. in seiner Karriere, führt der Mercedes-Star (306 Punkte) die Fahrer-Wertung mit 59 Punkten Vorsprung vor Sebastian Vettel (247) an. Das entspricht umgerechnet zwei Siegen und einem sechsten Platz.
Hamilton hat 59 Punkte Vorsprung
Vor dem US-Grand-Prix auf dem „Circuit of the Americas“ in Austin an diesem Sonntag sind noch 100 Punkte zu vergeben. Das bedeutet: Hamilton kann in Texas bereits Weltmeister werden, wenn er gewinnt und Vettel nur Sechster wird. Oder Hamilton wird Zweiter und Vettel nur Neunter. Man kann aber auch so rechnen: Selbst wenn Vettel alle vier verbleibenden Rennen gewinnen würde, wäre die Aufgabe für Hamilton lösbar. Er müsste dann einfach nur 41 Zähler bis zum Saisonende einfahren. Ein Sieg wird mit 25 Punkten belohnt, Platz zwei mit 18 Zählern, Platz drei mit 15 Punkten. Die weitere Punktevergabe: 12, 10, 8, 6, 4, 2, 1 für die Plätze vier bis zehn. „Wir denken von Rennen zu Rennen“, erklärte Mercedes-Sportchef Toto Wolff. „Man muss in der Formel 1 immer damit rechnen, dass etwas Unerwartetes passiert.“
Unerwartet wäre, wenn Hamilton plötzlich Defektteufel und -hexe in den kommenden Rennen als Beifahrer hätte und Vettel alle Rennen gewinnen würde. Dieses Szenario hat aber die Wahrscheinlichkeit eines Sechsers im Lotto mit Superzahl. Austin war bis jetzt eine gute Rennstrecke für den Briten. Seit 2012 ist sie im F1-Kalender. Bei bisher fünf Auftritten gewann Hamilton vier Mal (2012 im McLaren, 2014 bis 2016 mit Mercedes), Vettel dagegen triumphierte nur einmal (2013 mit Red Bull).
Wie schnell sich doch Punkte- und Machtverhältnisse in der Formel 1 ändern, musste Vettel nach der Sommerpause erfahren. Innerhalb von nur fünf Wochen hat sich das Blatt komplett gewendet. Vor dem Monza-Rennen in Italien Anfang September führte Vettel noch mit sieben Punkten vor Rivale Hamilton. Mit seinem Sieg im Ferrari-Land jagte Hamilton dem Monza-Dritten Vettel die Führung in der WM ab (238: 235). Drei Rennen später ist die Titelchance des Deutschen nur noch theoretischer Natur. Die Bilanz der Asien-Tournee mit den Stationen Singapur, Sepang/Malaysia und Suzuka/Japan war für Vettel niederschmetternd. Null Punkte in Singapur nach Startkollision mit Stallgefährte Kimi Räikkönen und Jung-Star Verstappen im Red Bull. Sieger war Hamilton. Auf dem Sepang International Circuit musste Vettel nach einem Desaster im ersten Durchgang des Qualifyings mit Motorenproblemen vom letzten Platz das Rennen aufnehmen. Nach einer furiosen, spektakulären und heroischen Aufholjagd pflügte Vettel durch das Feld auf Rang vier (zwölf Punkte). Sieger wurde der vom Glück begünstigte Max Verstappen vor dem Malaysia-Zweiten Lewis Hamilton.
Bizarrer Unfall mit Lance Stroll
Vettel verlor sechs Punkte auf den Titel-Anwärter. In der Auslaufrunde drohte ihm noch Unheil der besonderen Art. Nach einem bizarren Zwischenfall nach der Zieldurchfahrt kollidierte der Ferrari-Pilot mit Williams-Fahrer Lance Stroll. Am Ferrari knickte das linke Hinterrad ab. Der rote Renner wurde beim Crash zum Dreirad umfunktioniert und musste abgeschleppt werden. Der sich nähernde Sauber-Pilot Pascal Wehrlein nahm als Taxifahrer seinen Landsmann Huckepack mit zur Box. Sepang war für Vettel der Ort, an dem er 2015 in seinem zweiten Rennen für Ferrari zum ersten Mal in Rot siegte. „Das war mit Sicherheit etwas ganz Besonderes“, erinnerte sich Vettel. Die Strecke, gepaart mit den Wetterverhältnissen, sei immer Garant für gutes Racing gewesen. Doch jetzt heißt es „Terima kasih Sepang“ – Vielen Dank, Sepang! Nach 19 spannenden und spektakulären Grand Prix verabschiedete sich die Königsklasse vorerst vom Sepang International Circuit. Malaysia galt lange Zeit als das härteste Rennen im F1-Kalender. Seit neun Jahren duelliert es sich um diesen Rang mit dem GP von Singapur. Für zwei Rennen auf so engem Raum war kein Platz mehr. Von der F1-Premiere in Malaysia 1999 war keiner der jetzigen Piloten dabei. Dienstältester Sepang-Pilot ist Fernando Alonso, der seit 2001 dabei ist und nur zwei Ausgaben verpasste. „Die Strecke hat mich immer sehr herausgefordert. Die Rennen waren sehr spektakulär, das wird uns fehlen“, blickt der Asturier aus Spanien zurück. „Iceman“ Kimi Räikkönen dagegen wird die Hitzeschlacht im Tropen-Tempel eher nicht vermissen. Der Finne sieht das Aus im Sauna-Dschungel eher nüchtern und typisch cool: „Keine Ahnung, ob ich Sepang vermissen werde. Man sieht ja eh nur den Flughafen, das Hotel und die Strecke“.
„Ich bin noch immer auf der Jagd“
Von Malaysia flog der F1-Tross nach Japan. Auf der Achterbahn in Suzuka wollte der Ferrari-Jäger seinen Mercedes-„Flüchtling“ einfangen. „Ich bin noch immer auf der Jagd, ich verfolge diese Weltmeisterschaft bis zur letzten Flagge, bis ich sie habe“, so ein entschlossen kämpferischer Sebastian Vettel vor der dritten Asien-Station und dem fünftletzten Rennen. Die legendäre Suzuka-Rennstrecke war in den vergangenen Jahren Mercedes-Territorium. Drei Rennen, drei erste Startplätze, drei Siege (2014, 2015 Hamilton, 2016 Rosberg). Mit vier Siegen (2009, 2010, 2012 und 2013 jeweils mit Red Bull) legte Vettel auf der Achterbahn vor. Vor seinem elften Einsatz im Land der aufgehenden Sonne und des Lächelns schien für Vettel die Formel-1-Welt in Ordnung. Im Kampf um seinen ersten ernsthaften Titel mit Ferrari durfte der Vierfach-Champion trotz des 34-Punkte-Rückstands noch hoffen. Denn die Mercedes-Konkurrenz war von weltmeisterlicher Form gerade ziemlich weit entfernt. „Wir hatten in Sepang noch mehr Probleme, als es von außen den Anschein hatte“, sagte Hamilton mit Blick auf Rang zwei in Malaysia. Mercedes-Sportchef Toto Wolff erkannte realistisch: „Wir haben sehr viel Geschwindigkeit auf Ferrari verloren.“
Ferraris „Oberindianer“ Sergio Marchionne versuchte Mercedes ebenfalls zu schwächen und Ferrari zu stärken. Der Ferrari-Boss erklärte im italienischen Fernsehen vollmundig: „Ohne arrogant sein zu wollen, aber unser Auto ist mindestens auf dem gleichen Level wie Mercedes“. In Brackley, Sitz des Mercedes-Rennstalls, und in Stuttgart schrillten schon die Alarmglocken. Suzuka könnte also eine erneute Trendwende im Titelkampf bedeuten. Laut Vettel hat Ferrari die Situation vor dem Japan-GP „unter Kontrolle“. RTL-Experte Christian Danner kontert klipp und klar: „Man hat bei Ferrari die Technik nicht im Griff“.
„Wir haben immer noch eine Chance“
Es folgte ein erneutes Desaster. Nur vier Runden hielt Vettels Ferrari im Suzuka-Rennen durch. Mit einer defekten Zündkerze musste der Hesse in seinem 55. Rennen für den italienischen Traditionsrennstall seinen Dienstwagen abstellen. Ein Nuller und 59 Punkte Vorsprung für Sieger Hamilton (306:247). Ein 59-Euro-Bauteil des japanischen Herstellers NGK mit Firmensitz in der Hafenstadt Nagoya verhinderte wichtige WM-Punkte. Vielleicht sogar die WM-Krone. Die Asien-Horror-Show könnte Ferrari den Titel kosten. Es war Vettels zweiter K.o. in drei Rennen auf dieser Tournee, während Hamilton voll punktete. „Das war ein kleiner technischer Schnickschnack, der solch einen Einfluss hatte, dass er uns Millionen Euro kostet“, tobte Ferrari-Oberboss Marchionne im italienischen Fernsehen. Man habe im Bereich Qualifikationskontrolle offenbar nicht die Standards anderer Teams. „Aber die Saison ist für uns noch nicht verloren“, so der 65-jährige Italo-Amerikaner. Auch Vettel zeigte sich kämpferisch, schätzt die Situation aber deutlich realistischer ein: „Wir haben immer noch eine Chance. Es hängt jetzt natürlich davon ab, wie die nächsten Rennen laufen. Es liegt aber leider nicht mehr so in unserer Hand, wie wir es gerne hätten“. Vettel weiter trotzig: „Man muss kein Mathe-Genie sein, um zu sehen, dass da nicht mehr viel geht. Unser Auto ist stark, das Paket ist da, wir haben die Zutaten. Wir haben noch eine Chance. Man muss sie nur umsetzen“.
Die spanische Zeitung „Mundo Devortivo“ stellte fest: „Hamilton hat sich in Suzuka als japanischer Samurai-Kämpfer verkleidet und Vettel im Kampf um den Titel den entscheidenden Schlag versetzt“. Demnach ist Sebastian Vettel angezählt und taumelt. Treffender kann man vor dem US-Grand-Prix die derzeitige Situation von Ferrari wirklich nicht beschreiben.