Die erste Rikscha brachte ein Seemann nach Berlin. Helmut Millan und seine Kollegen haben die besondere Art der Stadtführung inzwischen perfektioniert und bieten auch Touren abseits der ausgefahrenen Pfade.
Das wichtigste zu Beginn: Warm einpacken. Helmut Millan (55) wickelt mich sorgfältig in zwei Lagen Wolldecken. Von unten wärmt ein Schafspelz. Millan erklärt die Philosophie seines Unternehmens „Berlin Rikscha Tours“: „Wir fahren das ganze Jahr über.“ Egal bei welchem Wetter, ob warm oder kalt – Millan und seine Kollegen stehen bereit für eine Fahrt. Also auch Anfang November. Ich mache den Test.
Wir treffen uns am Hauptbahnhof. Auf dem Programm steht heute eine ganz besondere Tour: Moabit für Fortgeschrittene. Eine Tour für Stammkunden, wie Helmut Millan vorab erklärt. Von Berlinern für Berliner oder für die, die es gerne werden wollen. „Typische Touristen wollen natürlich lieber das Brandenburger Tor und die Siegessäule sehen.“ Aber in Moabit gäbe es Dinge zu entdecken, da staune manch Einheimischer nicht schlecht.
Also los. Es schaukelt und holpert am Anfang ein bisschen, wenn der RikschaFahrer sich seinen Weg über Bordsteine, Ampelübergänge und Gehwege sucht, doch die Federung macht die Reise komfortabel. Die erhöhte Sitzposition ist optimal. Als Fahrgast ist man mittendrin und doch ein bisschen privilegiert. Und überhaupt: Die Leute gucken – und zwar nicht schlecht. Bei Helmut Millan wird wahr, was andere nur versprechen: Der Kunde ist König – einmal auf der Rikscha-Sänfte durch Berlin.
Mittendrin und ein bisschen privilegiert
Erste Station der Moabit-Tour ist das ehemalige Zellengefängnis schräg gegenüber vom Hauptbahnhof. Hier zeigt sich neben der Federung ein zweiter Vorteil des exotischen Gefährts: Es ist wendig. Der Eingang ist schmal, selbst ein normaler Fahrradfahrer hätte seine Probleme. Helmut Millan fährt eine zackige Rechts-links-Kombination und ist drin im Komplex des ersten preußischen Mustergefängnisses, gebaut um 1840. Langsam fährt er die einzelnen Stationen ab und erzählt die Geschichte der Kladow- Bande oder die von Henker Hannes, der hier sein Handwerk verrichtete. Millan erklärt, wie die Redensart „Im Dreieck springen“ in den winzigen dreieckigen Höfen entstand und erläutert anschaulich die Gestaltung der Gefängnis-Gedenkstätte. Noch ein schneller Blick auf die ausgestellten Grafiken, und die Fahrt geht weiter. Denn das nächste Ziel ist etwas für echte Sport- und Geschichtsfans.
Nicht weit vom Gefängnis liegt das Poststadion. Neben dem historischen Tribünengebäude führt ein schmaler Weg links in den Wald und endet vor einem Zaun. Millan zeigt die dahinter liegenden Hügel hoch: „ Alles überwuchert inzwischen. Das waren hier die Tribünen für 45.000 Zuschauer.“ Es braucht etwas Fantasie. Millan wendet die Rikscha auf engstem Raum und erzählt, warum das Stadion besonders interessant für Schalke 04-Fans sei: „Die wurden hier 1934 das erste Mal Deutscher Meister“. Inzwischen spielt der Berliner AK 07 (Regionalliga Nordost) im Poststadion. Sein größter Erfolg: Vor fünf Jahren haben sie Hoffenheim einmal aus dem Pokal geworfen. Das Stadion ist also noch in Betrieb, die Zuschauerränge allerdings auf 10.000 Zuschauer reduziert.
Sehr interessant, denke ich noch, da geht es auch schon weiter. Am ehemaligen Frauengefängnis vorbei, ganz neuen Berliner Wohnträumen im Luxussegment, an dem Atelier der weltberühmten Architekten Sauerbruch-Hutton – alles noch Lehrter Straße. Über Kopfsteinpflaster rattern wir durch Wohngebiete, die Anwohner staunen über den Mann mit der roten Pudelmütze und seinen gut verpackten Fahrgast.
Helmut Millan biegt links ab. Durch den verwunschenen Unionpark in einer vom Krieg gezogenen Bombenschneise biegen wir zurück auf die Bremer Straße. Hier wartete das nächste Highlight – die Arminius-Markhalle. Eine von vier verbliebenen Markthallen in Berlin. Abstieg – Helmut Millan schließt sein Vehikel an und lädt mich zu einem Rundgang ein. Noch bevor wir die Halle durch eine alte Drehtür betreten, gerät er ins Schwärmen.
An den Rändern der Halle steht die Zeit. Das alte Westberlin, konserviert. Auf der Hauptachse das typische Markhallen-Getriebe mit Businessmenschen in Anzug, Kostümchen und einem Glas Weißwein in der Hand, etwas Eventgastronomie, leider auch ein Supermarkt. Doch wer rechts und links schaut, taucht in eine andere Welt.
Drei Damen vom Grill – hier ist der Original-Imbiss, und er ist noch in Betrieb. Eine Rentnerin nestelt an den Lottoscheinen vor der Annahmestelle und scheint ihren persönlichen Glücksschein zu suchen. An der Theke nebenan schmeckt das Berliner Pils auch nachmittags um vier.
Die Rikscha ist kein Velotaxi
Zeit für uns, unter der lichtdurchfluteten Dachkonstruktion ein wenig zu fachsimpeln. Zwischen 30 und 40 Kilometer pro Tag fahren seine Fahrerinnen und Fahrer, manchmal fünfzig. Wie am Anfang schon erwähnt, bei Wind und Wetter. Für kaltes oder nasses Wetter gibt es das ausklappbare Verdeck für die zwei Fahrgäste, mehr nicht. Schafsfelle und Decken halten warm.
Doch woher kommt die Rikscha ursprünglich und wie kam sie überhaupt nach Berlin? Aus Japan stammt sie, erklärt Millan. Das Wort Rikscha komme vom japanischen Begriff „jin-riki-sha“ – übersetzt: „Mensch-Kraft-Fahrzeug“. Die Erfindung sei ursprünglich für Europäer im Tokio der 1870er-Jahre gedacht gewesen, die die engen japanischen Sänften nicht benutzen konnten. Der berühmte Journalist Egon Erwin Kisch beschreibt 1933 die Entstehung der Rikscha in seinem Buch „China geheim“:
„Die Jinrikscha kommt aus Japan, wenn auch ihr Erfinder ein Europäer war. Der Mann, der als erster den Einfall hatte, einem Handwagen einen Stuhl aufzusetzen und diesen Fahrstuhl als öffentliches Verkehrsmittel zu verwenden, war der anglikanische Geistliche Reverend M. B. Bailey.“
Die Rikscha kommt also aus Japan und nicht aus China – das überrascht mich jetzt schon. Hatte ich doch immer das Bild der endlosen Karawane von wild wuselnden Fahrrad- und Rikscha-Fahrern im riesigen Land der Mitte vor Augen. Kisch erzählt in seinem Buch auch, wie die Rikscha schließlich von Japan nach China kam: „Ein Franzose namens Ménard eilte nach China, nach Shanghai, um eine Konzession für den Rikscha-Verkehr zu erlangen. Aber die Stadträte der amerikanischen und englischen sowie der französischen Gemeinde (…) dachten gar nicht daran, dem flinken Importeur ein so einträgliches Monopol zu schenken. Sie beschlossen, gegen ansehnliche Steuern zwanzig Lizenzen für je zwanzig Rikschas auszugeben.“
Doch wie kam das japanische Mensch-Kraft-Fahrzeug nun nach Berlin? Helmut Millan erzählt eine Geschichte von einem Seemann, der die erste Rikscha in den 1990er-Jahren mit nach Berlin brachte und sich damit vor das Brandenburger Tor stellte. Die Vorstellung klingt romantisch.
Eins ist Millan noch wichtig zu betonen: Der Unterschied zwischen Rikscha und Velotaxi. Das Velotaxi ist eine Art Rikscha 2.0 und bevölkert seit Jahren zunehmend die Berliner Straßen. Die Fahrgäste sitzen in einem Designer-Ei aus Kunststoff – immer überdacht. „Da geht einiges vom unmittelbaren Gefühl für die Stadt und die Menschen verloren.“
Bei diesen Gedanken sind wir schon wieder in Bewegung – Richtung Oldtimer Halle in der Wiebestraße. „Kennt auch kein Rot“ brummt Millan einem Autofahrer hinterher. Wir befinden uns auf der Turmstraße, mitten im Feierabendverkehr. Unser Ziel: die „Classic-Remise“ – so heißt die Ausstellungs- und Verkaufshalle für Sport und Luxuswagen offiziell. Angekommen steigen wir auch hier ab und lassen den Drahtesel vor der Tür. Obwohl – „für eine Veranstaltung bin ich schon mit der Rikscha durch die Halle gefahren“ erzählt Millan. Groß genug ist sie und beherbergt Hunderte von wertvollen Oldtimern. Porsche, Jaguar, Rolls Royce, Aston Martin, die Liste lässt sich endlos fortführen. Für Autofans ein Eldorado – und keine Angst: Kaufen muss hier keiner etwas. Auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof streifen wir noch die historische Turbinenhalle von Siemens. Als wir die Heilandskirche an der Thusnelda-Allee passieren sagt Millan: „Das ist der höchste Kirchturm Berlins.“ Ich gucke die 87 Meter zweifelnd in die Höhe und frage besserwisserisch: „Höher als der Berliner Dom?“ Wir gleiten langsam weiter, Helmut Millan dreht sich kurz um und sagt mit einem sympathischen Lächeln: „Turm oder Kuppel?“
Eine Sache ist jedenfalls klar nach meiner exklusiven Rikscha-Tour mit Helmut Millan: Zweifle niemals an deinem lokalen Rikschafahrer.