Astrid Lindgren, die vor 110 Jahren geboren wurde, gehört zu den bekanntesten Kinderbuchautoren der Welt. Die Bücher über Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter und Michel aus Lönneberga sind Kult. Zu ihrer ersten Geschichte wurde Lindgren durch die Fantasie ihrer Tochter inspiriert.
Alles begann mit einer Lungenentzündung. Es war im Herbst 1941, als Astrid Lindgrens Tochter Karin krank zu Hause saß und sich furchtbar langweilte. Eines Abends quengelte sie wieder einmal, ihre Mutter solle ihr etwas erzählen – von Pippi Langstrumpf. Den Namen hatte sich die Siebenjährige in diesem Moment ausgedacht, es war ein reiner Fantasiename. Und so fing Astrid Lindgren an zu erzählen und füllte die Fantasie ihrer Tochter mit Leben: von Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf, einem Mädchen mit roten Zöpfen, das allein in der Villa Kunterbunt wohnt. Zusammen mit einem Affen namens Herr Nilsson und einem weißen Pferd mit schwarzen Punkten, das Kleiner Onkel genannt wird. Weil Pippi Langstrumpf „ein so komischer Name war, bekam auch das Mädchen eigenartige Züge", erklärte Lindgren später. Doch Karin liebte es, und auch ihre Freunde wollten danach immer wieder die Abenteuer von Pippi Langstrumpf hören, wenn sie bei ihr zu Besuch waren. Was als Gute-Nacht-Geschichte begonnen hatte, wuchs so mit der Zeit zu einer ausgedehnten Erzählung heran.
Drei Jahre später, als sie selbst wegen eines verstauchten Fußes zu Hause bleiben musste, schrieb Astrid Lindgren die Geschichte nieder. Eigentlich nur, um Karin zu ihrem zehnten Geburtstag eine Freude zu machen. Zusätzlich schickte sie ein Manuskript an den schwedischen Verlag Bonnier – „nicht, weil ich auch nur eine Sekunde lang glaubte, dass sie die Erzählung in Buchform herausgeben würden, einfach nur so", sagte sie später. Sie fügte einen Brief hinzu, der mit der Worten schloss: „In der Hoffnung, dass Sie nicht das Jugendamt alarmieren." Immerhin war Pippi Langstrumpf eine rotzfreche Göre und so aus Sicht mancher Pädagogen nicht gerade ein gutes Vorbild für Kinder.
Besuch vom Amt bekam sie keinen, doch gedruckt wurde das Buch zunächst auch nicht. Der Verlag Bonnier lehnte freundlich ab und dürfte diese Entscheidung bis heute bereuen. Denn nachdem sich ein anderer Verlag – Raben & Sjögren – 1945 die Rechte an dem Werk gesichert hatte, wurde „Pippi Langstrumpf" zum Welterfolg. Der Roman wurde in 70 Sprachen übersetzt, weltweit wurden mehr als 66 Millionen Exemplare davon verkauft. Die Popularität von Pippi Langstrumpf ist ungebrochen, und auch die anderen Figuren von Astrid Lindgren sind bis heute Kult: Michel aus Lönneberga und Ronja Räubertochter, Madita und Kalle Blomquist, Karlsson vom Dach und die Brüder Löwenherz, die Kinder aus Bullerbü und Lotta aus der Krachmacherstraße. Insgesamt 147 Millionen Mal haben sich ihre Werke verkauft, allein 31,5 Millionen Mal in Deutschland, wo sich der Oetinger-Verlag 1949 die Rechte gesichert hatte – nachdem wie zuvor in Schweden fünf andere Verlage das Potenzial von Lindgrens Literatur nicht erkannt hatten. Damit gehört Astrid Lindgren zu den bekanntesten Kinderbuchautoren überhaupt.
Mehrere Verlage lehnten anfangs dankend ab
Dabei wollte die Schwedin, die vor 110 Jahren das Licht der Welt erblickte, eigentlich nie Schriftstellerin werden. In ihrem Buch „Das entschwundene Land" schrieb sie: „Schon in meiner Schulzeit erhoben sich warnende Stimmen: ‚Du wirst mal Schriftstellerin, wenn du groß bist.‘ Das entsetzte mich derart, dass ich einen förmlichen Beschluss fasste: Niemals würde ich ein Buch schreiben. Ich hielt mich nicht für berufen, den Bücherstapel noch höher anwachsen zu lassen." Gelesen hatte sie dagegen schon immer gern. Im selben Buch heißt es: „Das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer. Für mich begann es, als ich zum ersten Mal ein eigenes Buch bekam und mich da hineinschnupperte. In diesem Augenblick erwachte mein Lesehunger, und ein besseres Geschenk hat das Leben mir nicht beschert".
Astrid Lindgren wurde am 14. November 1907 als zweites Kind des Pfarrhofpächters Samuel August Ericsson und seiner Ehefrau Hanna Ericsson geboren. Sie hatte einen älteren Bruder , Gunnar, und zwei jüngere Schwestern, Stina und Ingegerd. Die Kinder wuchsen glücklich auf, denn „zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit". Auch gute Bildung war den Eltern wichtig. Zu jener Zeit gingen die Kinder einfacher Leute meist nur drei Jahre zur Schule, doch Astrids Eltern zahlten viel Geld, um ihrer Tochter den Besuch einer weiterführenden Schule zu ermöglichen. So lernte sie Englisch, Französisch und Deutsch sprechen, das sie so gut beherrschte, dass sie später sogar ihre Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels auf Deutsch halten konnte.
Nach der Schule begann Astrid Lindgren ein Volontariat bei der örtlichen Zeitung „Vimmerby Tidning". Sie wurde schwanger vom Chefredakteur der Zeitung, lehnte es aber ab, ihn zu heiraten – im traditionell geprägten Smaland ein Skandal. Lindgren verließ ihre Heimat und zog nach Stockholm. 1926 brachte sie in Kopenhagen heimlich ihren Sohn Lasse zur Welt, der zunächst bei einer dänischen Pflegefamilie unterkam – erst ab 1930 lebte er wieder bei seiner Mutter. Wie sich ihr Sohn ohne sie gefühlt haben musste, war für Lindgren später eine wichtige Inspiration beim Schreiben. Sie selbst sagte einmal: „Schriftstellerin wäre ich wohl allemal geworden, aber ohne das mit Lasse wohl nie eine berühmte."
Lindgren schrieb auch Kriegstagebücher
Nach der Geburt arbeitete Lindgren zunächst als Sekretärin in der schwedischen Buchhandelszentrale sowie im „Königlichen Automobil-Club". Dort lernte sie auch ihren Ehemann Sture Lindgren kennen. Später war sie als Stenografin für einen Professor für Kriminalistik sowie ab 1940 in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendiensts tätig. In ihren Kriegstagebüchern, die erst 2015 unter dem Titel „Die Menschheit hat den Verstand verloren" auch als Buch erschienen sind, erfährt man, dass sie wie viele andere Schweden schon früh über die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs und den Holocaust der Nationalsozialisten Bescheid wusste. Wenn man das berücksichtige, „dann kann man auch ,Pippi Langstrumpf‘ noch mal ganz anders lesen, wie so ein Widerstandsbuch eigentlich, oder ein Buch, was sie dieser ganzen Grausamkeit versucht entgegenzusetzen", sagte die Journalistin Antje Ravic Strubel im „Deutschlandfunk". Sie hat das Vorwort zur deutschen Ausgabe geschrieben.
Nach der Veröffentlichung von „Pippi Langstrumpf" arbeitete Astrid Lindgren bei Raben & Sjögren als Lektorin und baute die Kinderbuchabteilung des Verlags mit auf. Daneben schrieb sie weiter an ihren eigenen Büchern. „Ich schreibe, um das Kind in mir selbst zu unterhalten, und hoffe, dass auf diese Weise auch andere Kinder ein wenig Spaß haben". Mit dieser Motivation verfasste sie ihre Geschichten. Tatsächlich ist Astrid Lindgren wohl nie ganz erwachsen geworden. Bis zu ihrem Tod 2002 bewahrte sie sich ihren kindlichen Humor, der auch in ihren Werken immer wieder durchscheint. 1974, zum 80. Geburtstag einer Freundin, kletterte sie mit dieser um die Wette auf einen Baum – schließlich gebe es „kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern". Und bei der Preisverleihung zur „Schwedin des Jahres" 1997 kommentierte sie ihre Wahl vergnügt mit den Worten: „Ihr verleiht den Preis an eine Person, die uralt, halb blind, halb taub und total verrückt ist. Wir müssen aufpassen, dass sich das nicht rumspricht."
Doch Astrid Lindgren konnte auch ernst sein. In ihrer Biografie „Astrid Lindgren. Ihr Leben", von Jens Andersen geschrieben, fasst dieser zusammen: „Von 1976 an nahm sie sich 20 Jahre lang einer Vielzahl von Themen an: von der schwedischen Steuerpolitik und der Charta 77 über Atomkraft, Kinderpornografie und die Schließung öffentlicher Bibliotheken bis hin zu Rassismus, Tierschutz, EU-Mitgliedschaft, Robbenschlachten und dem Wohnungsmangel von Jugendlichen. Ohne es eigentlich zu wollen oder sich ein bestimmtes Ziel gesetzt zu haben, wurde Astrid Lindgren in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre zu einer Schriftstellerin mit einer politischen Durchschlagskraft, die in der Geschichte Skandinaviens beispiellos war."
Stete Kämpferin für die Rechte von Kindern
Vor allem die Rechte der Kinder lagen ihr zeitlebens am Herzen. Ihre Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978 stellte sie unter das Motto „Niemals Gewalt". Wörtlich sagte sie: „Ja, aber wenn wir unsere Kinder nun ohne Gewalt und ohne irgendwelche straffen Zügel erziehen, entsteht dadurch schon ein neues Menschengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt? Etwas so Einfältiges kann sich wohl nur ein Kinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, dass es eine Utopie ist. […] Es könnte trotz allem mit der Zeit ein winziger Beitrag sein zum Frieden in der Welt".