Haarsträubende Familientragödie mit rechtsradikalem Hintergrund trifft auf romantisch-nostalgische Liebeskomödie: Die prämierten Filme des Günter-Rohrbach-Preises in Neunkirchen könnten unterschiedlicher nicht sein. Eins haben sie dennoch gemeinsam: die schonungslose Demaskierung der gesellschaftlichen Mitte.
Die Kamera richtet sich auf Karl Holzer, verkörpert von Herbert Knaup. Der gutbetuchte Friseurmeister ist gerade dabei seiner kleinen Enkelin Nora die Haare zu schneiden, als diese urplötzlich „Die Wacht am Rhein" losträllert. Mit ihrer dünnen Kinderstimme. Ohne jegliche Emotion. Als handle es sich bei dem NS-Titel um irgendein Lied, das sie beiläufig aufgeschnappt hat. Holzer friert vor Entsetzen ein. Nur sein Blick richtet sich zum Spiegel, an dem das kleine Mädchen Platz genommen hat. Die Angst, die Wut, der unbändige Schmerz einer längst überreifen Erkenntnis – der deutsche Schauspieler braucht keinen Text, die Augen bergen das ganze Ausmaß seiner Verzweiflung.
„Was er aus mir bei diesem Film rausgeholt hat, das hat mich selber umgehauen", lobt Herbert Knaup die intensive Zusammenarbeit mit dem Regisseur Stephan Lacant in höchsten Tönen. „Er hat mich reduziert und damit gleichzeitig meine Qualität als Schauspieler wieder gefordert". Nein, mit Routine hatte die Arbeit mit Lacant wirklich nichts zu tun.
Im Übrigen ist er kein Unbekannter. Der Regisseur erhielt 2013 den Günter Rohrbach Filmpreis für das Drama „Freier Fall", ein Film über eine homosexuelle Beziehung, die an gesellschaftlichen Konventionen und eigenen Ängsten der Protagonisten zerbricht. Schon damals verlangte der Regisseur seinen Hauptdarstellern eigenes ab. Mit seinem neuen Film „Toter Winkel" packt der vielschichtige Regisseur ein weiteres Tabuthema an: aufkeimenden Rechtsradikalismus in der Mitte unserer Gesellschaft.
Themen mit doppeltem Boden
Der Plot ist nichts für schwache Nerven: Friseurmeister Karl Holzer – dafür erhält Knaup beim diesjährigen Günter Rohrbach Filmpreis den Preis des Saarländischen Rundfunks – führt ein schönes, beschauliches Leben in einer deutschen Kleinstadt. Er ist glücklich verheiratet und erfreut sich an seinem Sohn Thomas, gespielt von Hanno Koffler, und seiner kleinen Enkeltochter Nora, gespielt von Eve Marie Gleißner. Das Familienidyll kommt ins Wanken, als Fotos von Thomas auftauchen. Die Schnappschüsse zeigen den Mann als Jugendlichen bei einem NS-Treffen. Als Holzer Verdacht schöpft, sein Sohn sei in ein rechtsradikales Attentat verwickelt, beginnt sein emotionaler Kampf zwischen Moral und Vaterliebe.
„Der Film hat viele anspruchsvolle Szenen", betont Knaup. Die Figur des Vaters ist sehr reduziert, er zeigt sich wortkarg, beinahe wortlos. Meistens sind es nur die Augen, die den inneren Kampf der in Holzer tobt, wiederspiegeln. Aber es geht nicht nur um die Frage, ob der Sohn das Verbrechen mitbegangen hat und mit der Ermordung einer Flüchtlingsfamilie aus Kosovo etwas zu tun hätte. Parallel sucht Holzer verzweifelt nach einem Grund für diese bestialische Ermordung Unschuldiger. Hat sein Sohn das furchtbare Verbrechen wirklich begangen, und wenn ja – aus welchem Grund? Vieles, was früher selbstverständlich war, erscheint Knaup nun in neuem Licht. Was ist Vertrauen? Was ist Familie? Was gibt die eine Generation an die nachfolgenden weiter?
„Diesen Schmerz darzustellen, als der Vater erkennt, dass er auch an der totalen Verirrung des Sohnes eine Mitschuld trägt, das gehörte für mich mit zu den anspruchsvollsten Einstellungen", gibt Knaup offen zu. Mit dieser direkten, sehr klaren Verkörperung erntet der Schauspieler großes Lob. Die Wochenzeitung „Die Zeit" kürt Karl Holzer sogar zu seiner besten schauspielerischen Darbietung. „Ich bin älter geworden und habe mehr Erfahrung", erwidert der Schauspieler bei der siebten Filmpreisverleihung in der Hüttenstadt, „aber ich hatte auch einen tollen Regisseur, der mich gut lesen konnte. Das ist natürlich auch sehr wichtig."
Diese Meinung teilt auch Lana Cooper. Für ihre Rolle als Kerstin in der romantisch-nostalgischen Komödie „Beat Beat Heart" wird die deutsche Schauspielerin mit dem weiblichen Darstellerpreis ausgezeichnet. Damit ehrte die Jury vor allem ihre schauspielerische Improvisationskunst, denn die meisten der Dialoge entstanden ganz spontan aus dem Nichts. „Wir hatten kein Skript", schildert Cooper die Situation am Set. Die ganze Filmproduktion stützte sich auf eine 30-seitige Outline, „das war unsere Grundlage für die Inszenierung und Improvisation".
Das Spielfilmdebüt von Luise Brinkmann ist gleichzeitig auch ihre Abschlussarbeit. „Ich hatte keine Förderung und auch keinen Sender", beschreibt die Regisseurin die Anfänge von „Beat Beat Heart". Dennoch kratzt die angehende Filmemacherin 22.000 Euro zusammen und dreht ihren ersten Spielfilm in lediglich 19 Tagen ab.
Kerstin, eine verspielte Romantikerin, hofft sehnsüchtig auf die Rückkehr ihrer großen Liebe Thomas. Doch der Exfreund lässt auf sich warten. Stattdessen zieht Kerstins Mutter Charlotte, eine sich „aus versehenen getrennte" Mittfünfzigerin in die renovierungsbedürften Räumlichkeiten, in denen Kerstin lebt, ein. Während Kerstin immer weiter in ihre Sehnsucht zu versinken droht, scheint sich Charlotte auf die neue Lebenssituation viel besser einzustimmen. Sie sucht ihr neues Liebesglück, mit einer Dating App.
„Ich wollte verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen zur Liebe an einem fiktiven Ort zusammenbringen, um herauszufinden, wie Beziehungen in der heutigen Zeit überhaupt noch funktionieren können", beschreibt die Regisseurin die Idee hinter dem Film, „und was nun der richtige Umgang mit der Sehnsucht ist".
Für Brinkmann hat die einfühlsame, nostalgische Komödie mit viel Liebe zum Detail eine sehr persönliche Note. So wie ihre Filmfigur Kerstin, verliert auch Brinkmann nach einer längeren Beziehung ihren Partner, die Liebe bricht auseinander. Brinkmann wird mit einer Single-Welt konfrontiert, in der die Gefühle scheinbar an Wert verloren haben.
„Überall gibt es mittlerweile alles – und das dazu ganz unverbindlich", sagt die Regisseurin. „In der heutigen Schnelllebigkeit hat kaum jemand mehr Zeit, auf den Richtigen zu warten. Und der Mut, einfach mal sein Pferd zu satteln und um seine Angebetete zu kämpfen, ist bei den vielen Sonderangeboten für das schnelle Glück offenbar verloren gegangen".
Keine fertigen Lösungen
Dennoch bietet Brinkmann mit ihrem Film keine fertigen Lösungen. So wie auch bei „Toter Winkel" geht es vielmehr um die Frage nach dem Wahrnehmen, der eigentlichen Realität. Ist Sehnsucht eigentlich etwas Erstrebenswertes? Und sind eigentlich alle Online-Bekanntschaften so unseriös wie das so oft angenommen wird? Zumindest das Zweite kann Brinkmann schon mal abstreiten.
„Mein Film nahm mir die Scheu vor Online-Dating", verrät die junge Regisseurin während der Preisverleihung in Neunkirchen. „Nach der Fertigstellung des Films war ich viel unterwegs, um diesen überall vorzustellen", berichtet Brinkmann. „Ich bekam zwar viel Lob, aber abends saß ich dann doch ganz alleine im Hotel und hatte weiterhin Liebeskummer."
Und dann, nach einer Zeit, springt sie doch über ihren Schatten und vertraut sich Charlotte, ihrer eigenen Filmfigur an. „So wie auch die Mutter war ich am Anfang skeptisch, aber auf der anderen Seite: Was hatte ich denn zu verlieren? Und so ließ ich mich von meinem eigenen Film inspirieren und wagte den ersten Online-Schritt."
Mittlerweile hat Luise Brinkmann einen neuen Partner, kennengelernt durchs Internet. „Das hätte ich mir früher so nie vorstellen können. Aber man sollte auch nicht so festgefahren im eigenen Denken bleiben."