Zu Saisonbeginn begeisterte Borussia Dortmund mit schnellem Offensiv-Fußball die Bundesliga. Schon damals gab es Mahner bezüglich des defensiven Risikos. Ihre Warnungen haben sich schneller als geahnt erfüllt.
Marcel Schmelzer war ziemlich genervt. Er versuchte nach dem peinlichen 1:1 in der Champions League gegen APOEL Nikosia zu erklären, warum der BVB nur mit Pech nicht gewonnen hatte. Dass man so klar überlegen war und die Zyprer doch nur einmal aufs Tor geschossen hätten. Sky-Reporterin Esther Sedlaczek hakte immer wieder nach und wollte wissen, warum Dortmund so enttäuschend spielt und was besser werden muss. „Auch wenn sie mir immer wieder die gleiche Frage stellen, kann ich Ihnen nichts anderes antworten", sagte der Kapitän.
Und dann rutschte ihm das böse K-Wort raus: „Wir müssen einfach weiter zusammenarbeiten, um aus dieser Krise, oder äh, dieser schlechten Situation rauszukommen." Im Netz sorgte dieser Ausspruch natürlich für Geläster. Doch die Frage war: War das ein Versprecher von Schmelzer? Oder wusste er schon insgeheim, dass die Ergebnis-Krise beim BVB eine etwas handfestere war?
Drei Tage vor dem Nikosia-Rückspiel hatte sich Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke noch mit harschen Worten gegen das K-Wort gewehrt. „Man muss mal die Kirche im Dorf lassen." Doch zu diesem Zeitpunkt hatte der BVB die Tabellenführung in der Bundesliga verloren. Durch das Remis gegen Nikosia war das Weiterkommen in der Champions League für den Finalisten von 2013 illusorisch. Und wieder drei Tage später folgte ein 1:3 im Bundesliga-Gipfel gegen Bayern München, in dem der Meister der vergangenen fünf Jahre trotz vieler BVB-Chancen insgesamt extrem dominant war. Und plötzlich sechs Punkte Vorsprung hatte auf den BVB. Nachdem es vier Spieltage vorher noch fünf Zähler Rückstand waren. Und Watzke wurde gefragt, ob das denn nun eine Krise sei. Der BVB-Boss vermied zwar erneut das Wort, sagte nun aber: „Wir müssen das jetzt nicht kleinreden. Das ist schon eine Situation, die nicht schön ist."
Stark nachgelassen
Rückblick auf Ende September. Der BVB hatte gerade die andere Borussia aus Mönchengladbach mit 6:1 aus dem Stadion geschossen. Und viele neutrale Fans in Deutschland freuten sich. Würde da endlich wieder eine Mannschaft dem – zu diesem Zeitpunkt unter Trainer Carlo Ancelotti taumelnden – FC Bayern nach fünf souveränen Meistertiteln in Folge Paroli bieten können? So oder so waren viele verzaubert vom berauschenden Offensiv-Fußball des BVB. Bei dem das Fehlen von Weltklassespieler Marco Reus nicht auffiel, weil sein 20 Millionen teurer, aber noch junger Ersatz Maximilian Philipp in Reus’scher Manier wirbelte und traf. Bei dem auch der kurzfristige Verkauf des wohl größten Talents seit Jahren – dem sich zu Barcelona gestreikten Ousmane Dembélé – nicht ins Gewicht zu fallen schien, weil der für ein Fünftel der Verkaufssumme geholte Ukrainer Andrej Jarmolenko ebenfalls sofort einschlug und traf.
Auch die Medien waren begeistert vom Spiel der Dortmunder. „Der BVB pinselt ein Gemälde von einem Sieg" titelte die „Süddeutsche Zeitung" und schrieb: „Der BVB hat Gladbach zerlegt, auseinandergenommen, demontiert, seziert, tranchiert – und aufgelöst. Emotionalere Varianten lauten: gedemütigt, erniedrigt, gekränkt." Die „Bild" nannte „09 Gründe, warum Bayern diesen BVB fürchten muss" und stellte fest: „Dortmund hat schon das Titel-Lachen!" Und der „Kicker" konstatierte „Fußball zum Zungeschnalzen". Die Bilanz war aber auch zu beeindruckend: 19:1 Tore und 16 von 18 möglichen Punkten hatten die Westfalen nach dem sechs Spieltag auf dem Konto. Nie waren sie besser gestartet. Und die Euphorie in der Stadt griff schon um sich. Die Fans sangen „Deutscher Meister wird nur der BVB". Und der verletzte Reus antwortete auf die Frage, wievielter die Borussia am Ende der Saison werden würde: „Erster!"
Freilich gab es auch zu diesem Zeitpunkt schon Mahner. Sie prophezeiten, dass das 4-3-3-System des neuen Trainers Peter Bosz zu riskant sei, zumindest für diese Mannschaft. Dass der BVB mit seinem frühen Pressing schwächere und mittelstarke Teams überrollen kann, stärkeren Gegner damit aber zum leichten Opfer werden könnte. Zumal die Innenverteidiger Ömer Toprak und Sokratis nicht zu den Schnellsten gehören. Die „Süddeutsche" listete „die Risiken des Dortmunder Traumfußballs" auf: „Er ist ungefähr so atemberaubend wie ein Hochseilakt im Zirkus, aber mitunter auch so gefährlich." Andere sprachen von einer bisher folgenlos gebliebenen Flucht nach vorne. Sogar Bosz, der im Vorjahr mit einer jungen Mannschaft von Ajax Amsterdam ins Europa-League-Finale gestürmt war, warnte stets davor, sich von der geringen Zahl an Gegentoren blenden zu lassen. „Es gab Spiele, in denen wir es noch nicht gut gemacht haben und trotzdem kein Tor kassiert haben", sagte er.
Allein: Er sah darin keinen Grund, an seinem System zu zweifeln. Drei Tage nach der Gala im Borussen-Duell kam Champions-League-Sieger Real Madrid nach Dortmund. Und auf die Frage, ob er denn gegen die Königlichen genauso spielen könne wie immer, antwortete Bosz: „Wichtig ist, wie wir es machen. Wenn wir es gut machen, ist es möglich, so zu spielen." Das Spiel am nächsten Tag gegen Real sah gut aus, der BVB spielte gefällig nach vorne – aber er lief Real ins offene Messer. Die Spanier gewannen 3:1 und Weltmeister Toni Kroos beklagte sogar noch die Chancenverwertung. Und Trainer Zinedine Zidane verriet: „Wir haben die Borussia sehr genau beobachtet. Sie haben gespielt wie üblich zu Hause: Sehr offen. Sie haben gedacht, dass wir damit Schwierigkeiten bekommen könnten. Aber wir haben uns sehr gut darauf eingestellt." Angesichts des Ehrenkodexes unter Trainern, die Spielweise des Kollegen nicht zu kritisieren, schon eine ungewöhnliche Durch-die-Blume-Aussage. Und die Zeitung „Die Welt" fragte: „Stürmt BVB mit Bosz ins Unheil?"
„Wir haben in drei Wochen so viel verloren"
Fakt ist: In den kommenden Wochen verloren die Dortmunder zu Hause gegen die beiden Liga-Top-Teams RB Leipzig (2:3) und den unter Jupp Heynckes wiedererstarkten FC Bayern. Verspielten beim 2:2 in Frankfurt ein 2:0, verloren in Hannover 2:4 und kamen gegen Nikosia in beiden Spielen nicht über Unentschieden hinaus. Es kamen die Schlagzeilen von der Krise und so manch einer zählte sogar schon Bosz an. Was die Club-Bosse zu ungewöhnlich heftigen Reaktionen animierte. „Für die Berichterstattung fehlt mir teilweise das Verständnis. Das ist krank", sagte Watzke. Und Manager Michael Zorc bezeichnete die Diskussionen über Bosz als „schizophren" und „lächerlich".
Das war Ende Oktober. Es folgte zwar ein 5:0 im Pokal bei Drittligist Magdeburg, danach aber die Niederlagen in Hannover und gegen München sowie die Blamage gegen Nikosia. Die Kritik an Bosz ist wohl auch deshalb so heftig, weil die Probleme absehbar waren. Klar ist auch, dass die Dortmunder wirklich großes Verletzungspech hatten. In Erik Durm, Raphael Guerreiro, Marcel Schmelzer und Lukas Piszczek fielen teilweise gleichzeitig vier Außenverteidiger aus. Doch wäre gerade dies wohl ein Grund gewesen, die Spielweise der Situation anzupassen. Die Fans des BVB sind noch gnädig mit Bosz. Der 53-Jährige, der 1998 (damals noch mit vollem Haar) mal 14 Bundesliga-Spiele für Hansa Rostock absolvierte, ist ein freundlicher, sympathischer Mensch, der trotz vieler Phrasen nahbar und optimistisch ist. Für alle Kritiker des wegen atmosphärischer Probleme entlassenen (aber erfolgreichen!) Thomas Tuchel ein idealer Gegenentwurf.
Klar ist: Die nächsten fünf Spiele des BVB sind absolute Herausforderungen: In der Liga stehen die Auswärtsspiele in Stuttgart und Leverkusen sowie das Derby gegen die inzwischen punktgleichen Schalker an, dazu kommen die Champions-League-Rückspiele gegen Tottenham und bei Real Madrid. „Wir haben in drei Wochen so viel verloren, also kann sich in kurzer Zeit auch vieles wieder zum Guten drehen", sagte Bosz. Es ist in der Tat eine große Chance und Hoffnung. Sollten die nächsten Wochen ähnlich verlaufen wie die vorherigen, dürften in Dortmund aber endgültig schwierige Zeiten anbrechen.