Provenienzforschung – die Wissenschaft von den Besitzverhältnissen der Kunstgegenstände – hat durch die Debatte um den Umgang mit NS-Beutekunst einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Und sie hat an Schwung gewonnen, weiß Dr. Uwe Hartmann vom Deutschen Zentrum Kulturgutverlust. Eine mühselige, aber spannende Arbeit.
Berlin, 1942: Ein 14-jähriger Berliner und seine Großmutter werden nach Riga verschleppt. Die Frau wird ermordet, der nun völlig familienlose Junge endet im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Er überlebt das Martyrium und verlässt Deutschland. Ein Foto ist das einzige Andenken an seine Familie und seine Kindheit, das ihm geblieben ist.
2008 stoßen Archivare der Zentral- und Landesbibliothek Berlin beim Sichten unrechtmäßig erworbener Buchbestände aus der NS-Zeit auf eine Widmung in einem Kinderbuch. Ein Journalist des „Spiegel“ zitiert sie in einem Artikel – und wenige Tage später meldet sich der einstige Besitzer, mittlerweile in den USA lebend, in Berlin. Die Widmung hatte ihm gegolten; 66 Jahre nach seiner Vertreibung händigt man ihm seinen Besitz – und ein Stück seiner geraubten Kindheit – wieder aus.
Die Objekte erzählen grausame Schicksale
Die Geschichte, die Dr. Uwe Hartmann vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste erzählt, illustriert gleich mehrere Aspekte seiner Arbeit: Zum einen, dass der Begriff „Raubkunst“ oder „Beutekunst“ sehr weit gedacht wird. Nicht nur Gemälde oder Skulpturen werden darunter verstanden, sondern auch Gebrauchsgegenstände wie Bücher, Mobiliar oder gar Kraftfahrzeuge. Zum zweiten illustriert der Fall, dass es nicht zwingend um geldwerte Schätze gehen muss; der emotionale Wert vieler Erinnerungsstücke lässt sich oft schwer in Geldbeträgen ausdrücken. Und drittens zeigt sich, wie sensibilisiert man in Einrichtungen der öffentlichen Hand mittlerweile im Umgang mit problematischen Beständen ist. Die ‚Provenienzen‘, also die Geschichte der wechselnden Besitzer eines Objekts, erzählen bisweilen von grausamen Schicksalen.Immer wieder schaffen es die Fälle, in denen Provenienzforscher tätig werden, in die Schlagzeilen: 2006 stritt das kulturelle Berlin noch über die Rechtmäßigkeit der Rückgabe der „Berliner Straßenszene“ von Ernst Ludwig Kirchner an die Erben des Kunstsammlers Alfred Hess. Im darauffolgenden Jahr verstarb der Münchner „Kunstberater“ Bruno Lohse, der im Dritten Reich als Kunstbeschaffer Herman Görings zu zweifelhaftem Ruhm gekommen war. Die Erbin des vor den Nationalsozialisten ins Exil geflohenen Wiener Verlegers Gottfried Bermann Fischer ließ daraufhin einen Safe bei einer Züricher Bank durchsuchen – und wurde fündig: In dem seit 30 Jahren unter dem Firmennamen „Schönart“ gemieteten Tresor fanden sich mehrere vermisste Gemälde, darunter ein verlorener Pissarro, nach dem Fischer Zeit seines Lebens gesucht hatte.
2010 beschlagnahmte die Augsburger Staatsanwaltschaft die Kunstsammlung von Cornelius Gurlitt, Sohn des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt. Dieser war nach Kriegsende im Besitz Hunderter Werke der Moderne gewesen, von denen 390 aus der Säuberungsaktion „Entartete Kunst“ stammen sollen; Berichten zufolge kämen 590 Werke der Sammlung als mögliche Raubkunst infrage. Der Fall beschäftigt Juristen und Provenienzforschung noch heute.
Digitalisierung erleichtert Arbeit
Die Beispiele zeigen: In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat das Thema wieder an Fahrt aufgenommen. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren es vor allem die Amerikaner, die sich um „Restitution“, also Rückführung, bemüht hatten. „Ein besonderer Verdienst der amerikanischen Streitkräfte gebührt einer speziellen Einheit, die ‚Section Monuments, Fine Arts and Archives‘,“ erklärt Hartmann. Diese „Monuments Men“ genannten Soldaten, denen Georg Clooney 2014 ein filmisches Denkmal setzte, organisierten unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen Sammelstellen für unrechtmäßig angeeignete Kunstwerke. Franzosen, Briten und Amerikaner erließen bereits vor Gründung der Bundesrepublik ein „Entschädigungs- und Restitutionsgesetz“, das 1949 nahezu unverändert von der ersten Bundesregierung übernommen wurde. Noch bis in die 60er-Jahre sorgte man sich so in Westdeutschland um „Wiedergutmachung“.
In Ostdeutschland sah die Situation schlechter aus. Weder schien man sehr erpicht darauf, die Enteignungen der NS-Zeit aufzuarbeiten; noch wollte man die Sowjetunion verärgern, indem man von ihr beschlagnahmte Kulturgüter zurückverlangte. Und selbst als dieses geschah, gingen die Werke als „Volkseigentum“ in den Besitz der DDR über und waren so per Definition nicht mehr an ihre früheren Besitzer „privatisierbar“. Ganz abgesehen davon, dass die Praxis der Enteignung unerwünschter Personengruppen in den Anfangstagen der DDR munter weiter getrieben wurde – auch wenn es nun Adlige und Vermögende traf, nicht mehr vermeintliche „Untermenschen“.
Nur so kann man verstehen, wie groß der Bedeutungsschub der modernen Provenienzforschung nach dem Fall der Mauer war. Die „Washingtoner Erklärung“, die 1998 auf Drängen der Clinton-Regierung verabschiedet wurde, verlieh dem Thema frischen Wind: 44 Nationen erklärten sich bereit, offene Vermögenswerte aus der Zeit des Weltkrieges aufzuarbeiten – also etwa auch Aktien, nie ausgezahlte Lebensversicherungen oder verschwundenes „Judengold“. In der Folge begann auch in Deutschland eine neue Welle von Sichtungen fraglicher Kunstwerke im eigenen Besitz. Das erklärte Ziel: Die Altlasten aufzuarbeiten und im Konfliktfall zu einer „gerechten und fairen Lösung“ beizutragen.
Die zuvor in Bremen angesiedelte „Koordinierungsstelle der Länder für die Rückführung von Kulturgütern“ zog nach Magdeburg; Arbeitsmaterialien für Wissenschaftler und Archivare wurden angefertigt und die Internet-Datenbank www.lostart.de ins Leben gerufen.
Zu dieser Zeit beginnt auch Hartmanns Tätigkeit für die Koordinierungsstelle, die erst 2015 in der öffentlichen Stiftung aufging, die heute unter dem Namen „Zentrum Deutsche Kulturgutverluste“ firmiert. Ihre Hauptaufgaben sind Information, Koordination und Förderung einzelner Projekte zur Provenienzforschung. Nicht nur im Hinblick auf NS-Verbrechen und DDR-Enteignungen, auch bei der Aufarbeitung von Deutschlands kolonialem Erbe sind die Magdeburger neuerdings involviert. Und fündig wird man noch heute: „Anfang der 60er-Jahre hieß es noch, da sei alles in Ordnung“, erklärt Hartmann im Hinblick auf die Kunstsammlungen der öffentlichen Hand in Deutschland. „Inzwischen hat man nahezu 50 Gemälde allein seit den 2000er- Jahren eindeutig als ‚NS-verfolungsbedingt entzogen‘ klassifiziert.“
Erleichtert wird die Arbeit vor allem durch die Digitalisierung. Musste Hartmann 2005 noch quer durch Deutschland reisen, um einen besonders seltenen Katalog einsehen zu können, helfen heute wenige Klicks: „Wie hoch alleine die Reisekosten der von uns geförderten Projekte gewesen wären, wenn man weiterhin durch die Lande hätte reisen müssen“, schwärmt er von den technischen Möglichkeiten.
Museen erfassen ihre Bestände in spezieller Software und stellen ihre analogen Datenbestände Stück für Stück online. Die selbstorganisierte, akademische Vernetzung hilft den Provenienzforschern auch, sich international besser zu koordinieren; ein weltweites Zentralorgan fehlt ihnen nämlich noch.
Dass ihnen die Arbeit in absehbarer Zeit ausgehen wird, ist schon in Hinblick auf die momentan herrschenden Konflikte unwahrscheinlich. Alleine die NS-Raubkunst wird noch viele Jahre ein Thema sein, schätzt Hartmann: „Wir haben einige Großstädte in Deutschland mit entsprechenden Museen, die bislang noch nicht mit Provenienzforschung begonnen haben.“ In 20 Jahren, so wünscht er sich, sollte diese Arbeit abgeschlossen sein.