Die äußere Schicht der Netzhaut ist das retinale Pigmentepithel, kurz RPE. Sie trägt, nährt und schützt die Sehzellen. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der altersbedingten Makuladegeneration – und zu ihrer Heilung.
Im Urmeer, vor über fünfhundert Millionen Jahren. Hier beginnt die Geschichte des Sehens. Die Geschichte der Zusammenarbeit zwischen einer lichtempfindlichen und einer pigmentierten Zelle. An diesem Prinzip hat sich bis heute nichts geändert. Es ist die Konstante in der Evolution des Auges. Von der Napfschnecke bis zum Adler. „In den Augen aller Lebewesen arbeiten Sinnes- und Pigmentzellen eng zusammen", sagt Prof. Olaf Strauß. Er muss es wissen. Seit 27 Jahren erforscht der Zellbiologe nun schon das retinale Pigmentepithel, die farbstoffhaltige äußere Zellschicht der Netzhaut.
Ohne Pigmentzellen kein Sehen
Dass die Sehzellen, also die lichtempfindlichen Fotorezeptoren, für das Sehen unabdingbar sind, leuchtet jedem ein. Diese Sinneszellen können Licht in elektrische Nervenimpulse umwandeln. Aber was können ihre Nachbarn, die Pigmentzellen, was sie seit einer halben Milliarde Jahre so unverzichtbar macht? Strauß: „Früher sah man in der Fähigkeit zur Lichtabsorption die wichtigste Funktion der schwarz pigmentierten Zellen." Wie bei einem Kameragehäuse. Das ist innen auch schwarz. Die Lichtabsorption ermöglicht ein klares Bild. Doch heute wissen wir, dass das RPE nicht nur der Bildverbesserung dient. Es erfüllt viele weitere Funktionen, die lebenswichtig für die Sinneszellen des Auges sind. Schon beim Embryo im Mutterleib helfen sich Nervenzellen und Pigmentzellen gegenseitig bei der Bildung der Netzhaut.
Als Erstes bildet das RPE eine aktive Barriere zum Blutstrom des Körpers, trennt das Nervengewebe der Netzhaut vom Immunsystem des restlichen Körpers. Die Pigmentzellen geben den Außensegmenten der Sehzellen Halt. Diese Segmente sind der entscheidende, lichtempfindliche Teil der Sehzelle. Besonders komplex sind die vielen Stoffwechsel-Funktionen der RPE-Zellen. Sie kümmern sich um den Wasser- und Nährstofftransport ihrer Zell-Kollegen (darunter Glucose, Vitamin A und bestimmte Fettsäuren). RPE-Zellen sichern die Kalium-Natrium-Balance der Sinneszellen. Nur so können die Fotorezeptoren blitzschnell aufeinanderfolgende Lichtreize in Potentialänderungen übersetzen. Das RPE ist auch für den sogenannten Retinalzyklus zuständig. Retinal, ein Vitamin-A-Abkömmling, steht ganz am Anfang der wundersamen Umwandlung von Licht in Sinnesreize. Das Retinalmolekül hat in der Mitte einen Knick. Trifft ein Lichtteilchen (Photon) drauf, wird das Molekül gestreckt und setzt die Signalkette des Nervennetzwerks der Netzhaut in Gang. Und die Pigmentzelle? Verpasst dem Retinal sofort wieder einen Knick. Bereit fürs nächste Photon.
Die RPE-Zellen helfen ihren lichtempfindlichen Nachbarn nicht nur, sie haben sie sogar zum Fressen gern. Phagozytose nennt sich dieser Vorgang. „Sehzellen sind durchdesignt wie ein Formel-1-Wagen – extrem leistungsfähig und genauso empfindlich", erklärt der Biologe. „Ständig gehen die Spitzen des Außensegments kaputt." Sie müssen erneuert werden. „Das passiert jeden Morgen, wenn wir die Augen öffnen. Dann werden die Spitzen von den RPE-Zellen abgeknabbert." Sie wachsen nach. Nach elf Tagen ist so ein Sehzellensegment komplett runderneuert, weiß Strauß.
RPE als Kommunikationszentrale
Das Wunderwerk Pigmentepithel kümmert sich auch um die Kommunikation mit seinen benachbarten Geweben. Die Zellen können verschiedene Botenstoffe ausschütten. Ein Stoff namens VEGF-A erhält die Aderhaut, die Substanz PDEF wiederum schützt die Sehzellen vor verfrühtem Zelltod durch Lichtüberlastung. Diese Kommunikation spielt auch eine wichtige Rolle bei der AMD-Erkrankung. „Wenn Fotorezeptoren in Stress geraten, sondern sie einen Faktor ab, der die RPE-Zellen zur VEGF-A-Produktion anregt", so Strauß. Die RPE-Zellen sorgen damit für die Bildung neuer Blutgefäße, um ihren gestressten Nachbarn zu helfen.
Gestörte Funktion führt zum Zelltod
Im Falle der Altersbedingten Makuladegeneration artet die Hilfsaktion mit dem VEGF-A-Botenstoff zum gemeinschaftlichen Selbstmord aus – durch die austretende Gewebeflüssigkeit der neu gebildeten Gefäße. Es kommt zu einer feuchten AMD mit Verzerrungen des Sichtfeldes und später zu blinden Flecken wegen abgestorbener Netzhautbereiche (genannt geografische Atropie). Wir sehen: Das Zusammenspiel zwischen Pigmentzellen und Sehzellen ist äußerst kompliziert. Wenn auch nur eine dieser Funktionen gestört ist, kommt es zu einer Degeneration der Netzhaut. Angesichts der Dauerbelastung der RPE-Zellen ist es für den Zellbiologen Strauß leicht verständlich, dass so viele Menschen irgendwann eine AMD entwickeln. Er formuliert es lieber umgekehrt: „In meinen Augen ist es ein Wunder, dass das retinale Pigmentepithel unter diesen Bedingungen jahrzehntelang einwandfrei funktionieren kann."
Warum ist nun dieses sensible Gleichgewicht der Stoffwechselfunktionen ausgerechnet im Bereich der Makula so empfindlich? „Vielleicht liegt es an der hohen Sehzell-Dichte", sagt Strauß. „Aber das ist noch nicht ausreichend erforscht. Die hohe Lichtbelastung der Makula kann eine Rolle spielen." Dabei geht es weniger um den aggressiven UV-Anteil des Sonnenlichts. „Hornhaut und Linse absorbieren schon 99 Prozent der UV-Strahlen. Eine Sonnenbrille schützt Sie daher eher vor dem grauen Star als vor AMD." Allerdings kommt der blaue Lichtanteil bis zur Netzhaut durch, und der kann die Bildung schädlicher Epoxide fördern. Die starke Lichtbelastung im Bereich der Makula bedeutet eine besonders hohe Energiedichte an dieser Stelle. Durch die Lichtabsorption kann sich das Gewebe bis über 40 Grad Celsius erwärmen. Hier vermutet Strauß auch den Grund für die extrem starke Durchblutung der Aderhaut: die Wärmeabfuhr. „Die Gesamtdurchblutung ist höher als irgendwo sonst im Körper", so Olaf Strauß. Sie hat aber nicht nur ihr Gutes. Durch die hohe Sauerstoffsättigung entstehen auch freie Radikale, aggressive Stoffe, die zellschädigend wirken. Kein Wunder, dass jeden Morgen ein ganzer Haufen „Zellmüll" von den RPE-Zellen weggefuttert werden muss.
Neue Forschungsansätze
Momentan erforscht der Zellbiologe die Rolle des Komplements bei der Entstehung der AMD. Das Komplement ist evolutionsgeschichtlich betrachtet das älteste Abwehrsystem unseres Körpers. Eine Art Schneeballsystem aus Proteinen, die ins Gewebe eindringen und Krankheitserreger killen. In Ablagerungen zwischen RPE und Bruchmembran, sogenannten Drusen, hat man solche Komplement- Proteine entdeckt. „Das weist auf eine lokale Entzündungsreaktion hin", so Strauß. „Dies könnte ein Faktor bei der Entstehung der trockenen AMD sein." So erklärt sich auch das hohe AMD-Risiko von Rauchern. Durchs Rauchen entstehen mehr freie Radikale und eine höhere Aktivität des Komplementystems.
Daher findet Strauß auch das Vorhaben der Augenklinik Sulzbach sinnÂvoll, RPE-Stammzellen in die Netzhaut einzubringen. „Die frischen Zellen helfen mit ihrer Aktivität, den RPE-Zellverband zu erhalten. Sie wirken auch anti-entzündlich und hemmen das schädigende Komplement-System." Unter den verschiedenen Stammzelltypen sieht Strauß das größte Potenzial bei den iPS-Zellen, worauf sich gerade die Japaner konzentrieren, aber auch das Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik in Deutschland.