Im Herbst 2016 wurde in Freiburg die Studentin Maria L. ermordet. Ein junger Flüchtling aus Afghanistan steht deshalb vor Gericht – ein Fall, der bundesweit Aufsehen erregt. Doch wie verändert dieser Mord eine Stadt, die für eine liberale Willkommenskultur steht? Freiburgs Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne) plädiert für mehr Videoüberwachung.
Herr Oberbürgermeister, vor etwas mehr als einem Jahr wurde in Freiburg die Studentin Maria L. ermordet. Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass der mutmaßliche Täter ein Flüchtling war?
Ich habe befürchtet, dass dieser Fall nicht nur in Freiburg für Diskussionen sorgen wird, sondern bundesweit – und so war es am Ende ja auch. Wobei es mich beruhigt hat, dass die Freiburger zwar durch den Mord sehr aufgewühlt waren, aber nicht durch die Tatsache, dass es sich bei dem Verdächtigen um einen Flüchtling handelt.
Freiburg hatte bis dahin einen großen Helferkreis für Flüchtlinge. Hatten Sie Angst, dass die Stimmung kippt?
Was Freiburg angeht, hatte ich eigentlich keine Sorge. Aber das, was sich im Netz getan hat, war an Ekelhaftigkeit nicht zu überbieten. Ich habe unglaubliche Mails bekommen, bis hin zu Morddrohungen. Da wurde eine Grenze überschritten, weshalb ich auch rechtlich dagegen vorgegangen bin. Zwei Personen wurden inzwischen ermittelt und verurteilt. Immerhin.
Manche Bürger haben aber auch in Freiburg hysterisch reagiert. Pfefferspray wurde gehortet, Selbstverteidigungskurse boomten. Zeitweise war sogar die Gründung einer Bürgerwehr im Gespräch.
Das war unmittelbar nach dem Mord, also bevor klar war, dass der mutmaßliche Täter ein Flüchtling war. Schon in den sieben Wochen zwischen der Tat und der Festnahme des Verdächtigen war die Verunsicherung in der Bevölkerung sehr groß.
Was haben Sie getan, um das Sicherheitsgefühl zu verbessern?
Wir sind seit 15 Jahren, statistisch gesehen, die kriminellste Stadt in Baden-Württemberg. Seit zehn Jahren korrespondiere ich deshalb mit drei verschiedenen Innenministern über die mangelnde Polizeistärke. Das hat nie Beachtung gefunden, ganz gleich von welcher Landesregierung. Erst jetzt, nach diesem Mord, hat Stuttgart unsere Situation wahrgenommen und tatsächlich reagiert.
Was heißt das konkret?
Wir haben seit September zehn Polizisten zusätzlich in Freiburg. Außerdem wurde ein Zug der Bereitschaftspolizei vor die Tore der Stadt verlegt, nach Umkirch. Umgekehrt hat sich auch die Stadt zu einzelnen Maßnahmen verpflichtet: dunkle Ecken werden besser beleuchtet, Hecken werden zurückgeschnitten und Haltestellen offener gestaltet. Wir haben einen kommunalen Vollzugsdienst eingeführt, der die Polizei entlastet. Im Dezember startet das Frauen-Nachttaxi. Im nächsten Jahr werden wir an Kriminalitätsschwerpunkten mit der Videoüberwachung beginnen.
Wie haben die Freiburger diese Maßnahmen aufgenommen?
Ich habe das Gefühl, dass sich die Situation wieder beruhigt hat. In Freiburg ist in der Regel erst mal alles umstritten, was man auf diesem Gebiet macht, aber in diesem Fall gab es im Gemeinderat eine große Übereinstimmung, und das deckt sich auch mit einer großen Mehrheit bei den Freiburgerinnen und Freiburgern.
Michael Moos, Stadtrat bei der „Linken Liste“, sieht das anders. Er klagt darüber, dass man an jeder Ecke Uniformierte sehe – und dass mehr Streetworker die bessere Lösung gewesen wären.
Das ist so in einer Demokratie. Da kann jeder eine andere Meinung vertreten. Ich habe nur gesagt, dass die Maßnahmen einvernehmlich von einer Mehrheit begrüßt werden. Einvernehmlich heißt nicht, dass alle und jeder der gleichen Meinung sind.
Widerstand kommt aber nicht nur von Politikern. Die Kriminologen Jakob Bach und Roland Hefendehl widersprachen in einem Vortrag der These, dass mehr Polizisten die Stadt sicherer machen. Das sei „unredlicher Aktionismus“ mit dem Ziel, Randgruppen auszugrenzen.
Randgruppen ausgrenzen? Das ist schon ziemlich weit hergeholt. Ansonsten bleibt ihnen ihre Meinung unbenommen. Auch Professoren haben das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Freiburg hat circa 3.300 Flüchtlinge derzeit. Wie hat die Stadt die Situation gemeistert?
Die Situation in Freiburg ist nicht anders als in anderen Städten, in denen Wohnungsnot herrscht. Deshalb leben diese Menschen auch heute noch überwiegend in Wohnheimen, die wir ja extra gebaut haben. Sie sind jetzt offiziell Bürger Freiburgs. Insofern versuchen wir sie in den Arbeitsmarkt und den Wohnungsmarkt zu integrieren, was aber zugegebenermaßen schwierig ist, weil sowieso schon fast 1.500 Freiburgerinnen und Freiburger in der Wohnungssuche-Datei stehen.
Können Sie nachvollziehen, wenn deshalb Neid aufkommt?
Das sind gefühlte und vielleicht auch tatsächliche Verlustängste. Das haben wir auch bei der Bundestagswahl gesehen. Gerade diejenigen, die in Jobs arbeiten, in denen gerade mal der Mindestlohn gezahlt wird, haben die Befürchtung, dass es eng wird, wenn sich auch Flüchtlinge darauf bewerben. Und das gilt auch für den Wohnungsmarkt. Für uns bedeutet es, dass wir deutlich mehr neue Wohnungen bauen müssen – nicht nur für Flüchtlinge, aber auch für sie. Und das haben wir im Gemeinderat auch beschlossen.
Bei der Bundestagswahl hat die AfD auch in Freiburg in bestimmten Stadtteilen über 17 Prozent der Zweitstimmen geholt.
Wie erklären Sie sich das?
Das kann man ziemlich genau erklären, wenn man sich die Stimmbezirke ansieht. In Freiburg hat die AfD besonders gut im Stadtteil Landwasser abgeschnitten. Dort leben viele ehemalige Russlanddeutsche, also Spätaussiedler. Ähnlich sieht die Situation in Lahr aus oder in anderen Städten. Da hat die Integration nicht so gut funktioniert, wie man sich das vorgestellt hat. Die deutsche Sprache allein reicht nicht aus.
Sie selbst sehen keine Fehler?
Was kann man denn vor Ort tun? Ihnen eine Wohnung verschaffen. Gut, sie haben alle eine Wohnung. Sie haben eine Arbeit. Sie sprechen die Sprache. Trotzdem ist es nicht gelungen, sie gesellschaftlich zu integrieren. Natürlich muss man auch auf diese Leute zugehen, und dabei hat sich Deutschland in den 1990er-Jahren schwerer getan als heute. Zumindest Freiburg ist heute deutlich bunter als früher. Als ich 1981 nach Freiburg kam, haben Sie selten einen Afrikaner auf der Straße gesehen. Da haben viele noch geguckt. Heute gehört das zum Alltag.
Die Stadt hat sich aber auch in anderen Punkten verändert. Sie haben es selbst aufgezählt: mehr Polizisten, mehr Überwachung, ein Ordnungsdienst. Ist das noch die Stadt, in der Sie 2002 zum ersten Mal zum OB gewählt wurden?
Es ist noch dieselbe Stadt, aber sie hat sich in 15 Jahren weiterentwickelt. Sie ist größer geworden. Sie ist bunter geworden. Sie ist, glaube ich, sogar noch ein Stück liberaler geworden. Genau diesen Lebensstil lieben die Menschen, deshalb kommen ja so viele zu uns, deshalb haben wir die Wohnungsnot. Aber auch heute wollen manche immer noch nicht begreifen, dass wir trotz allem eben auch eine ganz normale Großstadt sind.
Das haben Sie früher anders gesehen. Als Sie Ihre erste Amtszeit antraten, wurden Sie in einem Interview gefragt, wie Sie sich Freiburg im Jahre 2010 vorstellen. Wissen Sie noch, was Sie geantwortet haben?
(lacht) Nein.
Sie haben gesagt: „Freiburg soll anders bleiben“. Wie viel ist von diesem Anderssein denn noch geblieben?
Freiburg ist immer noch anders. Freiburg ist eine Stadt, die sich in ihrer Offenheit und ihrem Lebensgefühl von vielen anderen Städten unterscheidet, und dieses Gefühl bleibt, auch wenn wir uns mehr um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger kümmern. Von Überwachung kann hier nicht die Rede sein.
Die Videoüberwachung wurde doch gerade erst im Gemeinderat beschlossen.
Wir werden lediglich an bestimmten Kriminalitätsschwerpunkten Videokameras aufstellen. Neben der Prävention dienen sie auch der Aufklärung. Bei der Überführung des mutmaßlichen Täters im Fall Maria L. haben die Videoaufnahmen eine wesentliche Rolle gespielt.
Wie sieht Freiburg im, Jahre 2030 aus?
Freiburg wird weiterwachsen. Im Jahre 2030 werden wir gerade dabei sein, einen neuen Stadtteil zu bauen. Ansonsten wird es sich nicht wesentlich vom heutigen Freiburg unterscheiden. Als ich damals in die Stadt kam, gab es noch Leerstand in der Innenstadt. Heute profitiert die ganze Region von Freiburgs Dynamik und Wirtschaftskraft. Freiburg steht heute sehr viel besser da als früher. Und das wird auch in Zukunft so sein.