In Sachsen-Anhalt baut die Bundeswehr eine ganze Stadt, um dort den Häuserkampf zu proben. Das schafft Arbeitsplätze und Aufträge für die Bauindustrie. Doch nicht alle Anwohner freuen sich über die Militarisierung ihrer Heimat.
Das erste Opfer des Krieges ist ein Schmetterling. Wanderschuhe und Armeestiefel stapfen über den frisch asphaltierten Weg, niemand bemerkt das zertretene Insekt.
In Schnöggersburg stehen heute andere Dinge auf dem Programm. Militär und Politiker haben sich auf dem Marktplatz versammelt. Panzer und Geländewagen stehen als Kulisse bereit, ein schwarz-rot-goldenes Band weht im Wind. Anlass für den Aufmarsch ist das Richtfest einer Stadt, in der niemals ein Mensch wohnen wird.
Schnöggersburg ist eine Geistergemeinde, errichtet zu einem einzigen Zweck: Die deutsche Bundeswehr will hier für mögliche Kriege der Zukunft üben. Seit 2012 entsteht ein „urbaner Ballungsraum“, wie das Gelände in offizieller Militärsprache heißt. Die künstliche Stadt liegt etwa 50 Kilometer nördlich von Magdeburg in der Colbitz-Letzlinger-Heide, dem größten zusammenhängenden Heidegebiet Mitteleuropas. Schon die Wehrmacht führte hier Waffentests durch. Später übernahm die Rote Armee das Gelände. Heute liegt das Areal wieder in den Händen der Bundeswehr – die künftige Kriegsgebiete möglichst realistisch nachstellen möchte und deshalb Schnöggersburg baut.
Zivilisten dürfen Schnöggersburg nicht betreten. Das rund sechs Quadratkilometer große Gelände ist militärisches Stadtgebiet. Ein- bis zweimal im Jahr erlaubt die Bundeswehr jedoch Journalisten den Besuch der Baustelle.
Wer die Checkpoints der Armee hinter sich gelassen hat, betritt eine seltsame Welt. Schnöggersburg sieht aus wie eine Mischung aus Kleinstadt und Metropole. Ein Wohngebiet mit Einfamilienhäusern grenzt an einen abgeschotteten Bereich, in dem später der Komplex eines „Warlords“ nachgestellt wird. Fenster gibt es nicht, auch keine Innenausstattung. Dafür Laser und Sensoren, die erfassen, ob bei einer Übung jemand getroffen wurde. Scharf geschossen wird in Schnöggersburg nicht. Stattdessen sterben Soldaten den „virtuellen Tod“, wie es der Rüstungskonzern Rheinmetall, der das System entwickelt hat, formuliert.
Wenn die Übungsstadt im Jahr 2020 fertig ist, wird sie 512 Gebäude beheimaten, darunter Einfamilienhäuser, Schulen und sogar eine U-Bahn, die einzige in Sachsen-Anhalt. Es gibt eine Mini-Autobahn, ein Botschaftsgelände, ein Gefängnis, ein Elendsviertel – und eine Kirche, die aber so nicht heißen darf, weil sie von der Architektur her auch eine Moschee oder eine Synagoge sein könnte. Der mitreisende Presseoffizier erläutert ein mögliches Szenario: „Der Sakralbau ist ein schützenswertes Gebäude. Das würde man versuchen nicht anzugreifen.“ Und wenn sich darin jemand verschanzt? „Dann gelten die Rules of Engagement“, sagt der Soldat nebulös. „Ganz verhindern kann man einen Angriff eben nie.“
Friedenspreis für Demonstranten
1.500 Soldaten sollen in Schnöggersburg gleichzeitig üben. 500 zusätzliche Soldaten bevölkern die Geisterstadt und nehmen dort verschiedene Rollen ein: Zivilisten, gegnerische Soldaten, Terroristen. Die Bundeswehr rühmt sich damit, die modernste Übungsanlage in ganz Europa zu bauen. Sogar einen künstlichen Fluss gibt es in Schnöggersburg, samt Brücke, die sich einfahren lässt, um eine Zerstörung zu simulieren. Auch im Untergrund kann gekämpft werden, wofür eine 540 Meter lange Übungskanalisation bereitsteht.
All das soll dem Ziel dienen, die deutsche Armee auf künftige Auslandseinsätze besser vorzubereiten. Die Bundeswehr geht davon aus, dass ihre Soldatinnen und Soldaten in Zukunft kaum noch in der freien Fläche kämpfen, sondern hauptsächlich in bebauten Gebieten. Gleichzeitig soll Schnöggersburg möglichst universell aussehen, um flexible Szenarien zu ermöglichen. Es gibt keine Schriftzeichen oder landestypischen Bauweisen. So könnte die Übungsstadt an einem Tag Kabul darstellen, am nächsten Mogadischu oder Damaskus.
Dass von solchen Szenarien nicht alle begeistert sind, zeigt sich schon bei der Anfahrt zum Truppenübungsplatz. Friedensaktivisten entrollen ein Banner mit Peace-Fahnen, auf Transparenten ist zu lesen: „Du sollst nicht töten“. In den zurückliegenden Jahren ist es immer wieder zu Protesten rund um die Baustelle gekommen. Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) zog vor Gericht, weil er nicht an der Planung von Schnöggersburg beteiligt worden war – „aus Geheimhaltungsgründen“, wie die Bundeswehr erklärte. Das Gericht war anderer Auffassung. Demnach hätte der Verband sehr wohl eingebunden werden müssen. Abgewiesen wurde die Klage trotzdem, weil sie nicht fristgerecht eingereicht worden war.
„Die Justiz ist nicht mehr unabhängig“, meint hingegen Malte Fröhlich, Mitglied der „Initiative Offene Heide“. Der 50-Jährige ist ein Urgestein in der Altmark. Hauptberuflich baut er Kinderspielplätze, privat engagiert er sich in der Friedensbewegung, und das bereits seit DDR-Zeiten. „Die Nato ist aus unserer Sicht ein Aggressionsbündnis“, sagt Fröhlich. „Was hier passiert, ist eine schwere Form von Regierungskriminalität.“ Vor allem das Üben in Städten stört die Aktivisten: „Laut Genfer Konvention müssen Zivilisten geschützt werden. Aber genau dort, in den Städten, leben doch Zivilisten.“
Seit Jahren demonstriert die Initiative gegen die militärische Präsenz in ihrer Heimat, wofür sie 2016 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Mal ziehen die Aktivisten mit ihrem Anliegen vor Gericht, ein anderes Mal vors Karrierecenter der Bundeswehr, um Plakate in die Luft zu halten. Beim Sachsen-Anhalt-Tag im vergangenen Sommer wollten sie mit dem Motto „Thesen statt Prothesen“ am Festumzug teilnehmen. Doch die Veranstalter lehnten ab – zu politisch.
„Es gibt für uns zwei Ebenen des Protests“, erklärt Fröhlich. „Zum einen die legale Ebene, zum anderen die des zivilen Ungehorsams.“ So sind die Mitglieder der Initiative bereits mehrfach auf das Baustellengelände eingedrungen. Ihre Go-ins, wie sie die Mahnwachen nennen, fotografieren sie und stellen sie ins Internet. Das erklärte Ziel: ein aufsehenerregender Gerichtsprozess, bei dem das Projekt Schnöggersburg als Ganzes infrage gestellt werden kann. „Es bleibt aber immer nur bei Ordnungswidrigkeiten und Bußgeldern“, sagt Fröhlich ein wenig enttäuscht.
Von Nahem doch recht deutsch
Ein weiteres Argument, das gegen Schnöggersburg ins Feld geführt wird: Die Bundeswehr trainiere damit für den (laut Grundgesetz verbotenen) Einsatz im Inland. Spätestens seit den jüngsten Terroranschlägen in Europa wird das Thema in der Politik wieder offen diskutiert. Oberst Uwe Becker, der Leiter des Gefechtsübungszentrums Heer, kam in einem Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk ebenfalls darauf zu sprechen. „Im Augenblick haben wir eine ganz klare Rechtslage, was den Einsatz der Bundeswehr im Inneren angeht“, betonte Becker. Die Bundeswehr bereite sich in Schnöggersburg zunächst einmal auf den Einsatz im Ausland vor. „Im Augenblick“, „zunächst“ – solche Worte dürften nicht unbedingt dazu beitragen, Kritiker zu beruhigen.
In Sachsen-Anhalt steht derzeit ein breites politisches Bündnis hinter Schnöggersburg. Die Grünen hatten 2013 noch eine Beschwerde bei der EU-Kommission gegen die Geisterstadt eingereicht – inzwischen sind sie selbst Teil der Landesregierung. Für die Befürworter zählen vor allem drei Argumente: Zum einen schaffe Schnöggersburg Arbeitsplätze und Aufträge für die regionale Bauwirtschaft. Zum anderen sei die Bundeswehr eine Parlamentsarmee, die politisch kontrolliert werde. Und schließlich habe sich die Art der Einsätze in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert – von der reinen Verteidigungsarmee hin zu internationalen Friedensmissionen.
Ganz anders sieht das Andreas Höppner, der Landesvorsitzende der Partei „Die Linke“ in Sachsen-Anhalt. „In Schnöggersburg wird der Angriffskrieg geübt“, kritisiert Höppner. Die Stadt sei so angelegt, dass man auch den Einsatz im Inneren üben könne. „Dass man so etwas in Erwägung zieht, ist grundgesetzwidrig“, schimpft Höppner. Auch die Kosten der Anlage stören den Politiker. 140 Millionen Euro wird Schnöggersburg nach aktuellem Stand kosten – 30 Millionen mehr als anfangs geplant. „Ringsherum drehen die Kommunen jeden Cent drei- oder viermal um. Schulen werden geschlossen, Leistungen eingespart, aber da verbrennt man 140 Millionen. Das passt einfach nicht zusammen.“
Beim Richtfest in Schnöggersburg wird solche Kritik allenfalls angedeutet. „Gott sagt: Liebe deine Feinde“, bemerkt der Militärpfarrer, bevor er mit der Segnung der Geisterstadt fortfährt. Ansonsten verläuft das Programm genau so, wie es sich die angereisten Landespolitiker und Vertreter der Bundeswehr vorstellen. Marschmusik, Bundesadler, Stehtische neben Schützenpanzern. Noch am selben Tag stellt die Bundeswehr ein Drohnen-Video ins Netz, das die Übungsstadt von oben zeigt – untermalt mit bombastischer Musik, wie in einem Actionfilm.
Krieg und Frieden, Realität und Show: In Schnöggersburg prallen beide Welten aufeinander. „Ich verstehe den Protest gegen den Krieg“, sagt Mandy Zepig, die Bürgermeisterin des Nachbarortes Gardelegen. „Ich würde mir auch wünschen, dass wir einen solchen Ort nicht brauchen. Aber solange es eine solche Welt nicht gibt, bin ich stolz, dass das Gefechtsübungszentrum hier ist.“ Malte Fröhlich von der „Initiative Offene Heide“ kann mit solchen Aussagen wenig anfangen. „Niemand möchte neben Panzern wohnen“, sagt der langjährige Friedensaktivist. „Wir haben Sympathisanten in allen Parteien. Aber sobald Arbeitsplätze versprochen werden, bröckelt die Front.“
Nach der Zeremonie dürfen die geladenen Gäste Schnöggersburg selbst erkunden. Von Nahem sieht die flexibel gestaltbare Übungsstadt dann doch ziemlich deutsch aus: Die LED-Straßenlaternen. Der normierte Autobahn-Abschnitt. Die Straßenschilder, auf denen das Maximalgewicht von Panzern beschrieben wird. „Daran sieht man, dass ein Leopard II problemlos über die Brücke fahren kann“, erklärt der anwesende Presseoffizier. Nach kurzem Zögern muss er darüber selbst schmunzeln. „Im echten Einsatz würden unsere Pioniere diese Brücke erst mal erkunden“, sagt der Soldat. „Aber das hier ist eben nicht die Realität. Zumindest nicht ganz.“