Er kam von Singapur nach Sulzbach, um bisher unheilbare AMD-Patienten zu behandeln: Dr. Boris Stanzel, Netzhautchirurg und Stammzellforscher. Ein Gespräch über Chancen und Risiken der neuen Stammzelltherapie.
Herr Dr. Stanzel, dieses Jahr im März arbeiteten Sie noch am Nationalen Augenzentrum in Singapur. Was genau machten Sie da?
Ich war dort auf Studienaufenthalt für Netzhautchirurgie, im Rahmen eines sogenannten internationalen Fellowships. Als erster Deutscher. Daneben hatte ich auch die Möglichkeit, meine Forschung weiter zu verfolgen. Hier geht es um Translationsstudien für neue Therapien bei altersabhängiger Makuladegeneration.
Translation heißt Übertragung von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis. Worum ging es?
Wir haben mit unseren Kooperationspartnern aus Tampere, Finnland, Stammzellen in Richtung RPE, Retinales Pigmentepithel, differenziert.
… das ist die Zellschicht, die bei AMD zugrunde geht. Haben Sie in Ihren Versuchen menschliche Stammzellen verwendet?
Ja. Humane Zellen, die schließlich auch beim Menschen angewendet werden könnten. Die meisten bisherigen Studien zur Zulassung ähnlicher Verfahren wurden mit diesen Zellen durchgeführt.
Wurde diese Therapie schon an Tieren erprobt?
Ja, dafür gibt es keinen Ersatz. Man kann eine Zellkultur nicht einfach so aus dem Stand ins menschliche Auge einbringen, ohne das Verfahren vorher im Tierversuch zu testen. Essenzielle Tierversuche werden von Zulassungsbehörden auf der ganzen Welt vor der Durchführung von klinischen Studien gefordert. Dies ist allerdings nur nach gründlicher Prüfung durch Ethik- und Tierversuchskommissionen möglich; das ist auch gut so!
Nun werden Sie die Erkenntnisse in die klinische Praxis übertragen. Ein entscheidender Schritt. Warum sind Sie dafür nach Sulzbach gekommen?
Der Chefarzt der Augenklinik Sulzbach, Professor Peter Szurman, konnte mich von den einzigartigen Bedingungen hier überzeugen: Die Augenklinik besitzt mit 10.000 AMD-Behandlungen jährlich eine besondere Kompetenz, gerade auch im Bereich der subretinalen Chirurgie. Und dann ist da natürlich die einzigartige Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für biomedizinische Forschung. Es gibt dort bereits eine der größten pharma-relevanten Stammzellbanken der Welt sowie enormes Know-how im Bereich der automatisierten Kultivierung, Vermehrung und Differenzierung von Stammzellen.
An der Augenklinik kümmern Sie sich um Patienten. Wie sieht ihre Arbeit am Fraunhofer-IBMT aus?
Wir bauen hier derzeit auf Basis der Kooperation zwischen der Augenklinik Sulzbach und dem IBMT ein translationales Forschungszentrum auf. So schaffen wir die technischen Voraussetzungen, um RPE-Zellen zu kultivieren, die als Therapeutikum eingesetzt werden sollen.
Klingt nach ziemlich viel Aufwand. Bereits nächstes Jahr wollen Sie doch die ersten Patienten im Rahmen einer Studie behandeln. Wie können Sie diesen Zeitplan einhalten?
Bei den genannten Translations-Experimenten geht es bereits um die zweite und dritte Generation der Stammzell-Behandlung. Es handelt sich um eine Art Pipeline-Versuche, die wir im Auftrag der Deutschen Forschungsgesellschaft und des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung durchführen.
Das heißt, während Sie die ersten Patienten behandeln, haben Sie schon weitere Verfahren in der „Pipeline", die Sie erforschen. Reden wir von der zweiten Generation Ihrer Stammzelltherapie. Geht es da um RPE-Zellen auf einer Trägermembran, eine Technik, die Sie entwickelt haben? Ihr Chefarzt Peter Szurman redet hier vom Prinzip Rollrasen.
Ja. Dieser Zellrasen wäre dann eine richtige Zellersatz-Therapie. Die Stammzellen wirken nicht nur ergänzend oder unterstützend, zum Beispiel mit ihren Gewebshormonen, sondern ersetzen die alte Zellschicht komplett.
Zurück zur ersten Generation der Therapie, die Sie jetzt in der Klinik anwenden wollen: Worum geht es in Ihrer geplanten Studie?
Der Patient bekommt ein Zelltherapeutikum, das aus Stammzell-Derivaten besteht, chirurgisch unter die Netzhaut implantiert. Mit dem Ziel, hier eine ursächliche Therapie der AMD zu erreichen.
Eine Art neue RPE-Zellen, die aus Stammzellen erzeugt wurden, sollen helfen, die Nährschicht der Sehzellen wieder zu regenerieren?
Ja, wenn das klappen würde, wäre dies eine erste Behandlungsmöglichkeit bei fortgeschrittener AMD.
Sind diese Stammzellprodukte bereits ausreichend erprobt?
Ja. Wir verwenden in Zusammenarbeit mit unseren Partnern Zelltherapeutika, die bereits Zulassungsstudien durchlaufen haben.
Bitte beschreiben Sie das Operationsverfahren.
Die Patienten werden zunächst mit einer Zellsuspension behandelt. Das bedeutet, einzelne Zellen, die in einer Flüssigkeit verdünnt sind, werden unter die Netzhaut gespritzt. Das hat den Vorteil, dass es chirurgisch sehr gut machbar ist. Erreichen wir hier einen Erfolg, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass viele Netzhautchirurgen diese Therapie übernehmen.
Was passiert mit den eingepflanzten Zellen in der Netzhaut?
Unsere Hoffnung ist, dass sich die Zellen der Suspension in die vorhandene Zellschicht integrieren und die vorhandenen Zellen unterstützen. Aufgrund der Gewebshormone, die diese Zellen erzeugen, sollen sie eine Funktionsverbesserung erreichen.
Ähnliche Studien wurden in anderen Ländern bereits gemacht – wie sehen die Erfahrungen aus?
In einer viel beachteten Studie an neun Patienten aus Los Angeles wurde beobachtet, dass die meisten eine Sehverbesserung erreichten. Völlig unerwartet. Das hängt möglicherweise mit den Gewebshormonen zusammen, die diese gesunden Zellen erzeugen. Es könnte aber auch ein Chirurgie-Effekt sein. Man weiß aus Tierversuchen: Hebt man die Netzhaut an und lässt sie wieder anheften, werden in der Netzhaut selbst Botenstoffe freigesetzt, die ihre Funktion ankurbeln.
Sie arbeiten mit RPE-Zellen. Könnte man nicht auch die Sehzellen mit Stammzellprodukten behandeln?
Eine Fotorezeptor-Transplantation wäre für die Behandlung der AMD sicher von großer Bedeutung. Aber es ist noch nicht klar, wie sich Fotorezeptor-Vorläuferzellen in den Zellverband integrieren würden. Das ist also noch Zukunftsmusik. Wir kümmern uns jetzt erst um die RPE-Zellen. Hier gibt es seit gut 30 Jahren klinische Erfahrungen mit vergleichbaren Ansätzen.
Welche Risiken birgt der Eingriff, den Sie im Rahmen Ihrer Studie planen?
Um die Zellsuspension einzubringen, müssen wir die Netzhaut anheben. Rein von der chirurgischen Technik her ist das etwas, das wir fast täglich in der Augenklinik anwenden. Allerdings meist bei Erkrankungen, die mit Blutungen der Netzhaut einhergehen, oder wo sie sich bereits abgelöst hat. Bei einer trockenen AMD angewendet könnte der Eingriff theoretisch zu einer Verletzung der Netzhaut führen. Bisherige klinische Studien hierzu haben aber keine entsprechenden Hinweise geliefert. Aber es könnte dennoch durch das Anheben der Netzhaut zu einer Verschlechterung der Sehkraft kommen.
Könnten die Stammzellprodukte in den Rest des Körpers gelangen, vielleicht sogar zu Krebszellen ausarten?
Das ist meines Wissens noch nie gezeigt worden, auch nicht in Tierversuchen. Es liegt an der Zelle selbst. Betrachtet man die Entwicklung aus pluripotenten Stammzellen, so ist die RPE-Zelle eine Art Schlüsselzelle, bei der die Differenzierung sehr leicht funktioniert. Der Differenzierungsweg der RPE-Zelle ist besonders robust, könnte man sagen.
Wo kommen die Stammzellen her, die Sie zu RPE-Zellen verarbeiten?
Wir können auf drei verschiedene Populationen zurückgreifen. Hier am Fraunhofer IBMT haben wir viel Erfahrung mit induzierten pluripotenten Stammzellen. Sie werden von erwachsenen Menschen gewonnen, etwa durch eine Hautstanze oder Blutprobe. Interessanterweise macht Blut bessere RPE-Zellen als Haut.
„Unser Ziel: eine ursächliche Therapie der AMD zu erreichen"
Können solche iPS-Zellen vom Patienten selbst gewonnen werden?
Ja, aber das wäre noch sehr teuer. Außerdem müsste man für jeden Patienten eine Zulassung beantragen. Daher geht der Trend heute in der Augenheilkunde dahin: Man nimmt die vorhandenen iPS-Kulturen und macht ein sogenanntes HLA-Match wie bei Organtransplantationen. Versuche haben gezeigt, dass es bei solchen HLA-gematchten RPE-Zellen nicht zu Abstoßungsreaktionen kommt.
Eine weitere Population sind Zellen, die man der Netzhaut von Verstorbenen entnehmen kann. Ähnlich wie man das heute mit Hornhauttransplantaten macht.
Also im Rahmen einer Gewebespende.
Genau. Man kann RPE-Zellen entnehmen. Etwa zehn Prozent unseres Retinalen Pigmentepithels sind multipotente Stammzellen. Diese sind insofern interessant, weil sie in der Art, wie sie sich in der Kultur verhalten, erwachsenen RPE-Zellen ähneln. Das könnte eine besonders gute Verträglichkeit bedeuten. Auch hier ist ein HLA-Match möglich. Noch aber wissen wir nicht, welche dieser Stammzelltypen am besten geeignet ist.
Falls sich jetzt Leser mit AMD oder Angehörige angesprochen fühlen: Welche Patienten suchen Sie für Ihre Studie? Wer kommt für die neue Behandlung infrage?
Wir suchen Patienten mit einer fortgeschrittenen AMD. Die sind in der Regel zwischen 70 und 90. Sie sollen eine trockene AMD haben.
Angenommen, ich bin ein geeigneter Studienteilnehmer. Wieviel sehe ich noch?
Die meisten der Patienten, die wir suchen, werden schon bemerkt haben, dass im Sichtfeld schwarze oder graue Bereiche sind, wo man nicht mehr scharf sehen kann. Viele bemerken, dass sich die Lesegeschwindigkeit verlangsamt hat. Das Spektrum der geeigneten Studienteilnehmer reicht von Patienten, die nur noch etwa fünf bis zehn Prozent Sehkraft haben bis hin zu 50, 60 Prozent Sehkraft. Häufig reden wir von einer fovealen Aussparung der Atropie, das heißt, in der Mitte des Sehfeldes sehen Sie noch scharf, aber rund um den Punkt sind unscharfe Flecken. Diese Personen sind beim Lesen auch schon deutlich eingeschränkt, zum Beispiel verschwimmen die Buchstaben.
Was ist mit Patienten, die eine feuchte AMD haben?
Für die gibt es bereits die IVOM-Behandlung. In dieser ersten Studie suchen wir gezielt Patienten mit trockener AMD. Diese konnte bisher noch nicht behandelt werden. Die weiteren Stammzell-Verfahren, die wir entwickeln, kommen dann theoretisch auch für Patienten mit feuchter AMD infrage. Wer dann schon als Studienteilnehmer erfasst ist, könnte davon profitieren.
„Wir suchen Patienten mit fortgeschrittener, trockener AMD"
Gibt es noch weitere Patientengruppen, die nicht an der Studie teilnehmen können?
Wenn die AMD noch nicht weit genug oder schon zu weit fortgeschritten ist, ist der Patient nicht geeignet. Einige Patienten zeigen Symptome wie bei einer AMD, haben aber keine AMD, sondern eine andere Erkrankung. Diese können nicht in die Studie aufgenommen werden. Wir werden die Patienten sehr genau untersuchen. Grundsätzlich können aber auch Menschen von ihrer Teilnahme profitieren, auch wenn Sie nicht für eine Stammzellbehandlung infrage kommen. Wir wissen, dass viele AMD-Patienten unterversorgt sind. Bei uns in der Augenklinik können Sie sich beraten lassen, zum Beispiel im Umgang mit Sehhilfen und wie sie sich besser im Alltag zurechtfinden.