Vor 70 Jahren gab es nur eine Uniklinik für Urologie in Deutschland. Eindeutig zu wenig. Und heute? Gibt es eher zu viele davon, findet Prof. Michael Stöckle, Chefarzt der Klinik für Urologie in Homburg. Darunter leiden die Facharzt-Ausbildung und die Qualität der Patientenversorgung, so der Mediziner.
Herr Professor Stöckle, was gefällt Ihnen nicht an der heutigen Kliniklandschaft?
Wir haben eine extreme Entwicklung. Vor 70 Jahren gab es nur eine Klinik in Deutschland, nämlich unsere in Homburg. Heute bemüht sich fast jedes noch so kleine Krankenhaus um eine Urologie. Urologie ist lukrativ, weil man viele stationäre Patienten gewinnen kann bei relativ geringem Investitionsrisiko. Das macht eine Urologie attraktiv, sie wird aber auf zu viele Standorte „verzettelt". Wenn Sie dagegen zum Beispiel eine Herzchirurgie aufmachen wollen, haben Sie höhere Investitionskosten und ein größeres Risiko. Dieses Fachgebiet ist deshalb vor solch einer Verzettelung besser geschützt als die Urologie.
Und was passiert durch so eine „Verzettelung"?
Die Komplexität der modernen Medizin verlangt eigentlich eine immer stärkere Subspezialisierung, was sich aber nur um den Preis immer größerer Abteilungen realisieren lässt. Die Verzettelung führt aber zum genauen Gegenteil, nämlich zu immer kleineren Abteilungen, was sowohl der optimalen Patientenversorgung wie auch der optimalen Facharztausbildung im Zweifel abträglich ist.
Führt das zu zu geringen Fallzahlen, weil sich die Patienten auf zu viele Kliniken verteilen?
Ja. Selbst Unikliniken sind davon betroffen. Es gibt heute Unikliniken, da wird kaum noch ein Prostatakarzinom operiert. Woanders wiederum wird manchmal außer dem Prostatakarzinom gar nichts operiert. Viele Kliniken versuchen sich also durch eine Schwerpunktbildung zu profilieren, um damit das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Eine Facharztausbildung, bei der man noch die gesamte Breite des Fachgebiets erlernt, könnte in einem solchen System allenfalls noch durch eine systematische Rotation zwischen verschiedenen Schwerpunktkliniken sichergestellt werden, was de facto aber nicht stattfindet.
Nehmen wir den Prostatakrebs als Beispiel. Wie sehen die Folgen zu vieler Kliniken hier aus?
Die überwiegende Zahl der Prostata-OPs wird noch herkömmlich durchgeführt statt roboterassistiert – obwohl bei allen systematischen Reviews die robotische OP immer besser abschneidet als die offene: Weniger Komplikationen, weniger Nach-OPs, weniger Bluttransfusionen, besserer Erhalt von Potenz und Kontinenz und vieles mehr. Doch so ein Da-Vinci-Roboter ist teuer, macht die Urologie der Herzchirurgie ähnlicher, weil wirtschaftlich riskanter. Die flächendeckende Einführung der Robotik lässt sich in der Urologie ohne eine gravierende Marktkonzentration nicht realisieren, denn nur in großen Einheiten lässt sich ein OP-Roboter wirtschaftlich einsetzen, und nur in großen Einheiten ist die Fallzahl ausreichend, um einem robotischen Operateur den Weg durch die Lernkurve eines so komplexen Systems zu ermöglichen.
Was ist Ihre Zukunftssorge?
Es besteht die Gefahr, dass die folgende Urologengeneration nicht zeitgemäß ausgebildet sein wird. Die Medizin wird immer komplexer, aber es fehlt uns ein System der Subspezialisierung, in dem man diese Komplexität systematisch lernen und zum Wohle des Patienten umsetzen kann.
Was würden Sie besser machen?
Das Problem in Deutschland ist: Es gibt zwei Entscheidungsebenen, das Bundesgesundheitsministerium und die Landesministerien, und zwischen ihnen gibt es einen Grundkonflikt. Berlin will sparen, die Länder wollen aber möglichst viel des knappen Geldes, um die in ihren Sprengeln historisch gewachsenen Strukturen möglichst lange am Leben zu halten. Sie sind für die Krankenhausplanung zuständig. Und da drängt sich der Eindruck auf, dass die Krankenhausbedarfspläne der Bundesländer eher nach strukturpolitischen Gesichtspunkten zustande kommen, weniger unter den Gesichtspunkten medizinischer Notwendigkeit. Ich war im September eingeladen, beim deutschen Urologenkongress über die Ausbildungsqualität in Deutschland zu sprechen. Zwangsläufig ist man bei der Vorbereitung eines solchen Vortrags gezwungen, nach den Alternativen zu schauen, die in unseren Nachbarländern praktiziert werden – denn dorthin wandern ja nicht wenige unserer talentierten jungen Ärzte ab.
Als Extrembeispiel ist mir Dänemark aufgefallen. Dort werden, wenn ich es recht verstanden habe, zurzeit drei nagelneue Großkrankenhäuser in einer Dimension gebaut, die man in Deutschland gar nicht kennt. Dafür werden alle derzeit existierenden Häuser geschlossen. In Dänemark werden sich zukünftig 1,9 Millionen Menschen ein Krankenhaus teilen. Die zugrundeliegende Hypothese lautet, dass sich die Komplexität moderner Medizin nur noch in solchen Riesenkliniken realisieren und weiterentwickeln lässt. Wenn man das auf Deutschland umrechnet, dann stünde dem Saarland noch ein halbes Krankenhaus zu, man müsste sich also mit einer zusätzlichen Million benachbarter Pfälzer zusammenschließen, um auf die kritische Masse von 1,9 Millionen Menschen zu kommen, für die man dann ein neues Großkrankenhaus bauen kann. So wird es wahrscheinlich nie kommen – aber: Wer sich nicht wenigstens ein gutes Stück in diese Richtung bewegt, der muss sich nicht wundern, wenn er in einigen Jahren in ein Land wie Dänemark fahren muss, wenn er einen gut ausgebildeten deutschen Arzt finden will.