Man nehme eine Tablette, und schon werden seelische Qualen gelindert – für dieses Heilversprechen steht die Medikamentenklasse der Psychopharmaka. Doch seit in den 1950er-Jahren das erste Antidepressivum auf den Markt kam, ist die Diskussion über den Nutzen der vermeintlichen Glückspillen entbrannt. Auch deren Nebenwirkungen sind – sprichwörtlich – in aller Munde.
Fakt ist: Weit und breit gibt es keinerlei fundierte Studien, die die Wirksamkeit von Psychopharmaka eindeutig belegen würden. Stattdessen scheuen die Big Player der Pharmaindustrie nicht selten Wirksamkeitsnachweise wie der Teufel das Weihwasser. Beispiel Pfizer: Der Pharma-Riese stellte dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erst nach enormem öffentlichen Druck sämtliche Daten zum Antidepressivum Edronax (Wirkstoff Reboxetin) zur Verfügung. Ergebnis: Das Mittel gilt seit 2010 als unwirksam und wird nicht mehr von den Krankenkassen bezuschusst.
Auch die Zulassung von Prozac (Hersteller: Eli Lilly, USA), in Deutschland erhältlich unter dem Handelsnamen Fluoxetin, erwies sich mehr oder minder als eine Farce. So stufte das Bundesgesundheitsministerium das Mittel als vollkommen ungeeignet zur Behandlung von Depressionen ein. Und schlimmer noch: Die Zulassungsstudie geriet zu einem wahren Fiasko. In Deutschland wurde das Medikament 1984 von 1.427 Patienten in 46 Studien getestet. 25 Studien konnten wegen der starken Nebenwirkungen nicht abgeschlossen werden, 16 Suizidversuche traten auf. Trotzdem wurde das Medikament sechs Jahre später zugelassen.
Schon im Jahr 1964 fasste der Amerikaner Jonathan Cole in einem ausführlichen Artikel für das amerikanische Ärzteblatt zusammen: „Im Großen und Ganzen gehören Depressionen zu den psychiatrischen Erkrankungen mit den besten Heilungschancen. Mit oder ohne Behandlung. Die meisten Depressionen hören von allein auf und die Spontanheilungsrate oder Heilung innerhalb der placebo-kontrollierten Patienten ist häufig hoch. Beispielsweise zeigten bei neun kontrollierten Studien an stationären Patienten 57 Prozent der Placebo-Patienten eine Besserung innerhalb von zwei bis sechs Wochen." In seiner breit angelegten Studie aus dem Jahr 2008 zeigte Irving Kirsch detailliert auf, dass sogar viele Tricks angewendet werden, um die behauptete Wirksamkeit von Antidepressiva zu beweisen.
Nichtsdestotrotz steigt die Verschreibungsrate von Antidepressiva immer weiter: Allein in den Jahren von 2004 bis 2014 hat sich die Anzahl verordneter Antidepressiva laut dem Arzneiverordnungs-Report 2014 mehr als verdoppelt, nämlich von 643 Millionen Tagesdosen im Jahr 2004 auf 1.341 Millionen im Jahr 2013. Dabei sind es nicht die Psychiater selbst, sondern eher Internisten und Allgemeinmediziner, die mit Vorliebe den Rezeptblock zücken. Und das, obwohl ihnen bekannt sein dürfte, dass zur Behandlung leichter Depressionen Placebos genauso wirksam wären wie Antidepressiva.
Kurz: Das Geschäft mit Ängsten, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit brummt – und dürfte zumindest den Pharmakonzernen wahre Glücksgefühle verschaffen. 16 Milliarden Euro, so analysiert das Marktforschungsinstitut IMS Health, stecken im weltweiten Markt für Antidepressiva, davon entfallen allein 3,7 Milliarden auf Europa. Klar, dass sich jeder ein großes Stück vom Kuchen abschneiden möchte.
Doch wer heute einen Blick in den extra langen Beipackzettel von Psychopharmaka riskiert, findet dort unter der Rubrik Nebenwirkungen nicht selten jene Symptome aufgelistet, gegen die die Medikamente eigentlich helfen sollen: angefangen bei Schlafstörungen, Manie und Gedanken daran, sich selbst zu verletzen bis hin zu einer Veränderung des Herzrhythmus, Gewichtsverlust und vieles mehr.
„Tabletten können keine Konflikte lösen, sie sind ein brüchiger Krückstock"
Aber im Kreise der Psychiater und Psychotherapeuten findet nach und nach ein Paradigmenwechsel statt. So setzen sich viele von ihnen für eine medikamentenfreie Therapie ein, wie zum Beispiel der Saarbrücker Psychiater und Psychotherapeut Elmar Fritzinger.
„Therapie muss immer den Anspruch haben, dass der Patient seine Selbstwirksamkeit erfährt. Merkt er beispielsweise, dass es auch ohne Psychopharmaka Wege aus der Krankheit gibt, macht er die positive Erfahrung, dass er die nötigen Bewältigungsstrategien dafür immer in sich trägt. Allerdings bedarf es hierzu natürlich der Beurteilung durch einen Experten. Nicht nur der Patient, sondern auch der jeweilige Arzt muss erkennen, dass Psychopharmaka nie den zugrundeliegenden Konflikt lösen, sondern nur ein brüchiger Krückstock zur Behandlung der Symptome sind", erklärt Fritzinger.
Gerade bei einer langen Behandlung mit Psychopharmaka, so Fritzinger, müsse man auch die daraus entstehende Abhängigkeit bedenken. „Werden die Medikamente von heute auf morgen weggelassen, treten sehr häufig Entzugserscheinungen auf. Für den behandelnden Arzt ist es dann schwer, zu erkennen, ob diese auf das eigentliche Krankheitsbild oder auf das fehlende Medikament zurückzuführen sind. Grundsätzlich sollten sich Ärzte immer darüber bewusst sein, dass sich Psychopharmaka höchst individuell auf den jeweiligen Menschen auswirken. Ein Medikament, das bei einer Person antriebssteigernd wirkt, kann bei einer anderen starke Müdigkeit verursachen. Daneben gilt es, nicht gleich jede emotionale Verstimmung mit der chemische Keule im Keim zu ersticken. Viel wichtiger ist es, Betroffene durch Gespräche zu stabilisieren und ihnen im therapeutischen Setting ein geschütztes Umfeld zu bieten. Denn wir müssen uns darüber klar sein: Eine Wunderpille zur Heilung psychischer Leiden gibt es einfach nicht. Das ist ein Märchen."