In Deutschland setzen jährlich mehr als 10.000 Menschen ihrem Leben ein Ende. Depressionen, Krankheiten und elementare Krisen nehmen ihnen die Hoffnung und versperren immer den Blick auf Lösungen. Doch die gibt es. Ein Gespräch mit dem Ex-Bundesligaschiedsrichter Babak Rafati, der sich vor sechs Jahren umbringen wollte. Der heutige Coach findet kraftvolle Worte für mehr Selbstbestimmung und Lebenswillen.
Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD-10-GM), Kapitel 20. X60 bis X84. Suizid, der Akt der Selbsttötung, wird dort gelistet als „Handlung einer vorsätzlichen Selbstbeschädigung". Was da so nüchtern in schweigenden Buchstaben steht, lässt einen erschaudern. Denn tatsächlich ist die Menschheit offenbar sehr kreativ darin, wenn es darum geht, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Durch Gifte, Stürze aus großer Höhe, erhängen und vieles weitere. An der gesamten Art und Weise der Formulierungen, wie die ICD-10 das Unfassbare nüchtern zu fassen versucht, lässt sich ablesen, wie schwer die Vernunft sich damit tut, dass Menschen sich selbst töten können.
Laut dem Statistischen Bundesamt taten sich im Jahr 2015 deutschlandweit rund 10.080 Menschen genau das an. Die Zahl der Suizide ist seit den 80erJahren zwar kontinuierlich gesunken. Trotzdem sterben in Deutschland nach wie vor deutlich mehr Menschen durch Suizide als durch Mord, Verkehrsunfälle, illegale Drogen und Aids zusammen. Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass sich bundesweit alle 53 Minuten ein Mensch das Leben nimmt. Er hinterlässt nicht einfach nur eine Lücke im Leben von Angehörigen und Freunden, sondern auch Zweifel, offene Fragen und viel Entsetzen. Seit 2010 steigt die Selbstmordrate wieder leicht an, nachdem 1982 noch rund 18.700 Menschen beschlossen, für immer zu gehen. Männer begehen häufiger Suizid als Frauen. Das Verhältnis liegt bei 1:2,9. Allerdings führen Frauen häufiger Suizidversuche durch als Männer. Die Suizidrate steigt zudem mit dem Alter. Bei jungen Menschen ist sie vergleichsweise niedrig, nimmt aber besonders bei Männern ab dem 60. Lebensjahr erheblich zu. Aber was bringt jemanden eigentlich so weit, dass er seinen Willen final gegen sich selbst richtet? Diese Frage geht an Babak Rafati, der im Herbst 2011 seine dunkelste Stunde erlebte.
Herr Rafati, Sie haben versucht sich zu töten. Was genau war der Auslöser?
Das lässt sich nicht so einfach in einen Gedanken fassen, dieses Ereignis stand am Ende einer langen Kette von Entwicklungen. Ausgelöst durch massiven Stress und Depressionen, die langsam aber stetig ein dunkler Teil meiner Wirklichkeit geworden waren. Im November 2011 war das dann sehr abgründig und heftig in jedem Fall. Das für diesen Tag angesetzte Bundesligaspiel zwischen dem 1. FC Köln und dem 1. FSV Mainz 05 musste abgesagt werden. Ich hatte versucht, mich im Badezimmer umzubringen. Ohne meine Assistenten wäre ich gestorben. Sie fanden mich gerade noch rechtzeitig und leisteten Erste Hilfe vor dem Eintreffen des Notarztes.
Kampf ums Leben statt Kampf um den Ball. Warum ging es Ihnen so schlecht?
Ich war nicht mehr richtig ich selbst, ohne das so zu erleben. Rein äußerlich war ich erfolgreich, man sah mir mein Leiden nicht an. Ich war beruflich angekommen, hatte eine wunderbare Frau und viel geschafft in meinem Leben. Seelisch und geistig war ich aber ganz unten. Ich war nur noch gestresst, hatte Zweifel und erlebte mich beruflich nur noch als Hürdenläufer, dem Steine in den Weg gelegt werden. In der Therapie nach dem Suizidversuch konnte ich in einem geschützten Raum wieder lernen, auf meine eigenen Impulse zu hören. Das war wichtig, um aus meiner mentalen Abwärtsschleife aussteigen zu können. Ich habe dabei gelernt, mich besser wahrzunehmen, mich von schädlichen Gedankenmustern zu lösen und wie ich das im Alltag geschickt einsetzen kann. Heute lebe ich viel näher bei mir selbst, bin gelassener und weiß genau, wie ich mich nicht stresse. Zuvor war das umgekehrt. Ich habe selbst viel dazu beigetragen, gestresst zu sein.
Das klingt wenig erbaulich. Wie kam es dazu?
Ich habe einfach nicht bemerkt, wie sehr ich am Abgrund entlanglaufe. Die Entwicklung war schleichend, weil sich diese Schlinge aus Stress und schlechter Selbstaufmerksamkeit erst langsam um den eigenen Hals zieht. Burn-out in Kombination mit Depressionen ist eine tückische Krankheit. Das erleben millionenfach Menschen auf der ganzen Welt, gerade im Berufsalltag ist die Entfremdung oft groß. Die Leute stehen schon gestresst auf und ängstigen sich, nicht mehr mitzukommen oder von Kollegen in Grund und Boden gemobbt zu werden. Die sind bezogen auf die Dinge, die sie tun, wollen etwas leisten und alles schaffen. Das ist wie ein Strudel, den man annimmt und mitgerissen wird. Dabei vergessen wir unsere wahre Größe als Mensch und geben ein Stück weit uns selbst auf. Man wird dabei immer kleiner und schwächer und versucht, mit noch mehr Einsatz genau das zu kompensieren. Ein Teufelskreis. Man ist wie eine Rakete, die auf einen Öltank zufliegt, ohne es zu sehen.
Ein starkes Bild für eine drohende seelische Explosion.
So muss man das sagen, ja. Man lässt einfach die Gewalt der anderen zu und fühlt sich richtig hilflos. Aber ich bin leider nicht der einzige, der so viel Ungutes mit sich machen lässt. Das hat auch mit schlechten Glaubenssätzen aus der Kindheit zu tun, warum man sich erst mal nicht wehrt und man dauerhaft über seine eigenen Grenzen geht. Genau darin liegt ja das Problem: Der Selbstaufgabe und diesem fehlenden, respektvollen Ja zu sich selbst. Die ist wie ein Schild, von dem her es sich gut Nein sagen lässt. Es gibt in Deutschland fünf Millionen Menschen mit Depressionen. Das sind fünf Millionen Schicksale mit offenen Fragen an den eigenen Alltag. Die sind alle ähnlich hilflos wie ich es war. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Ich bin deswegen ein gutes Beispiel dafür, wie es zunächst mal nicht geht. Heutzutage möchte ich andere davor bewahren, dass sie in einem Abgrund der Sinnlosigkeit ertrinken. Ich konnte damals nicht darüber reden, das gehörte zu meinem Konflikt fest dazu.
Kann man also sagen: Wer darüber spricht, tut es nicht?
Nein, leider ist das nicht so. Viele Menschen sprechen direkt oder verdeckt über ihre Absichten, bevor sie ihren Vorsatz in die Tat umsetzen. Es gibt in der Regel indirekte Botschaften bei Selbstmordgefährdung. Jede Andeutung sollte ernst genommen werden, das heißt aber nicht, dass man immer sofort vom Schlimmsten ausgehen muss. Man hat ja auch eine Intuition, ob das Gehörte situativ einer schlechten Stimmung zugeordnet werden kann oder sich mehr dahinter verbirgt. Wer an Suizid denkt, sieht gewöhnlich keine Lösung mehr für seine Probleme. So war das auch bei mir, ich fühlte mich nur noch ausweglos und ohne Hoffnung. Ich fand einfach keinen Sinn mehr in dem, was ich tat und wie ich lebte. Da war nur noch ein dunkler, trister Tunnel, durch den greifbare Lösungen erst gar nicht in meinen Blick gerieten. Es gibt leider keine hundert Prozent sicheren Anzeichen dafür, dass ein Mensch sich töten möchte. Das ist ja auch einer der Gründe, warum es Tausenden von Menschen immer wieder gelingt, sich selbst abzuschaffen.
Die Forschung bestätigt, dass Selbstmordgedanken gar nicht so selten sind.
Es gibt in der Tat solche Gedanken bei vielen Menschen, die haben dann eine rein entlastende Funktion. Ohne aber, und das ist wichtig, jemals ernsthaft daran zu denken, das auch umzusetzen. Solche Gedanken sind aber ein Marker, über den wir nachdenken und reden sollten. Sie zeigen nämlich unter Umständen, dass gerade etwas schief läuft im eigenen Leben und Druck und Stress das Regiment übernommen haben. Als Außenstehender können Sie nie mit Sicherheit sagen, ob Selbstmordgedanken nur vorübergehend sind, ob sie anhaltender Natur sind oder sogar in konkrete Pläne münden. Gerade im letzten Fall müssen die Alarmsirenen in Ihnen surren! Wenn uns eine Situation als sehr schwierig oder ausweglos erscheint, wenn wir uns überfordert fühlen, vom Schicksal bestraft sehen oder kaum noch einen Sinn in unserem Leben erkennen können – all das ist ein sehr guter Nährboden für Ideen rund um die eigene Abschaffung.
Welche Botschaft geben Sie uns, ausgehend von Ihrer Erfahrung?
Egal ob im Berufsalltag, im Umgang mit Kollegen oder privat im Kreis der Nahestehenden: Das Leben ist schöner, wenn wir uns weniger Stress machen. Es gibt dafür einige Strategien, mit denen man sich wirksam gegen zu viel Stress schützen kann. Selbstbestimmung, Verantwortung für das eigene Tun und seelische Integrität sind dafür unerlässlich. Aber wichtig ist ganz grundsätzlich eine andere Fehlerkultur, dass wir lernen, uns und andere weniger zu werten. Das ist vor allem für meine Firmenkunden oft irritierend, wenn ich denen spiegelbildlich klarmache, wie wenig wertschätzend sie mit Mitarbeitern oder Führungskräften umgehen. Dann gehen Spaß und Leidenschaft verloren, was auch der Produktivität nicht guttut. Aber im Kern ist doch die Frage, wie wir alle gut miteinander auskommen können, ohne uns seelisch zu beschädigen. Genau darum und um mehr Achtsamkeit im Miteinander geht es mir.