Der Mythos Beziehungsunfähigkeit ist in aller Munde, ganze Generationen angeblich davon betroffen. Die Psychologin Stefanie Stahl erklärt, wie Beziehungen gelingen, warum die Liebe kein Zufall ist und wieso es bei ihr solange gedauert hat, den Richtigen zu finden.
Frau Stahl, immer wieder liest man, die Menschen heutzutage wären beziehungsunfähig, könnten sich weder festlegen noch einlassen und wären deshalb unglücklich. In Ihrem neuen Buch schreiben Sie aber, jeder sei beziehungsfähig …
Es stimmt nicht, dass die Leute heute beziehungsunfähiger sind als früher. Die Studienlage widerlegt das. Michael Nast (Anm. d. Red.: Autor des Buches „Generation Beziehungsunfähig") schreibt über seine gegenwärtigen Beobachtungen und auch viel über sich selbst. Der Punkt ist: Es wird sich zwar häufiger getrennt als früher, aber das liegt daran, dass die Ansprüche an die Beziehungsqualität gestiegen sind und Frauen nicht mehr gewillt sind, in Versorgungsehen auszuharren. Die Länge einer Ehe sagt nichts über die Beziehungsfähigkeit aus. Früher haben die Menschen Jahrzehnte in zum Teil unterirdischen Ehen verbracht. Was es immer schon gab, ist eine Form der Bindungsangst: Dass man entweder furchtbare Angst hat, verlassen zu werden und/oder unheimliche Angst vor Freiheitsverlust. Beides hängt oft zusammen. Ich behaupte: Viele Menschen wären beziehungsfähig, wenn sie wüssten, was ihre zugrundeliegenden inneren psychischen Programme sind, die es ihnen schwer machen, Beziehungen zu führen.
Bevor wir zu den gelingenden Beziehungen kommen, sagen Sie uns doch nochmal: Was ist Bindungsangst?
Ich finde, wir müssen noch nicht einmal von Bindungsangst sprechen, wir können von allgemeinen Beziehungsproblemen sprechen. Fast alle Beziehungsprobleme sind darauf zurückzuführen, dass mindestens einer der Beteiligten keine gute Balance zwischen Anpassung und Autonomie hat, sich also sowohl binden als auch selbst behaupten kann.
Wie äußert sich das konkret?
Das mündet auf der Verhaltensebene oft in einem Zickzack-Kurs aus Nähe und Distanz. Nicht selten ist es so: Jemand verliebt sich und solange er verliebt ist, kann er seinem Bindungswunsch Raum geben. Verliebtheit kennzeichnet sich meist durch Unsicherheit: Bekomme ich den anderen an die Angel? Solange einem der andere nicht sicher ist, droht noch keine echte Gefahr. Aber in dem Moment, in dem man das Gefühl hat, den anderen sicher zu haben, kann dieses Verhältnis kippen. Plötzlich denkt man: Der andere hat viele Erwartungen an mich. Es entsteht ein Druckgefühl, Angst vor Freiheitsverlust und die Betroffenen fangen an, sich innerlich und/oder äußerlich aus der Beziehung zurückzuziehen. Häufig kommen in dieser Phase auch Zweifel auf, ob der Partner der Richtige ist, man versteift sich auf kleine Schwächen, die plötzlich unheimlich groß wirken.
In Ihrem Buch ist die Rede von einem Ihrer Klienten, der unter Bindungsangst litt und sich von seiner Freundin trennte, weil sie drei Zentimeter kleiner war. Woran erkennen Bindungsängstler, ob der Partner tatsächlich der Falsche ist oder ob im Kopf gerade die Angst regiert?
Vom Gefühl her ist das ganz schwer zu unterscheiden. Aber wenn man seinen Kopf befragt, dann kommt man meistens zu einer Antwort. So kann man sich fragen: Warum habe ich mich in diesen Menschen verliebt? Haben wir eigentlich viel gemeinsam? Teilen wir ähnliche Werte? Fand ich ihn nicht am Anfang sehr attraktiv? Der Kopf weiß meistens, ob die Zweifel angemessen oder völlig übertrieben sind. Ob wir uns verliebt fühlen oder nicht, hat etwas mit unserem wenig rationalen Beuteschema zu tun. So sind einige ja auch schwer verliebt, obwohl sie vom Kopf wissen, dass der andere nicht zu ihnen passt. Wer immer wieder die Erfahrung macht, dass seine Gefühle nach einer anfänglichen Verliebtheitsphase absterben, der kann sich recht sicher sein, mit Bindungsangst zu tun zu haben.
Menschen, deren Verliebtheit schnell endet oder die sich nicht auf Beziehungen einlassen, bei denen liegt Bindungsangst recht nahe. Es gibt aber nicht nur aktive sondern auch passive Bindungsangst?
Genau. Deswegen würde ich auch am liebsten wegkommen von diesem Wort und allgemein von Beziehungsproblemen reden. Ich kenne viele Menschen, die jahrelang verheiratet sind, zum Teil nicht einmal besonders unglücklich, die sich aber immer wieder hinter ihre Mauern zurückzuziehen und aus der Beziehung flüchten, die ständig am Arbeiten sind – und die würden nie auf die Idee kommen, dass sie Bindungsangst haben. Passiv und aktiv: Es ist in vielen Beziehungen so, dass der eine mehr will als der andere. Einer ist also mit seiner Autonomie beschäftigt, will ständig seine Freiheit sichern – das ist der aktive Part. Der andere hat das Gefühl, der Partner ist nicht sicher und sucht deshalb immer mehr die Nähe zu ihm – das ist der passive Part. Wer passiv und aktiv ist, kann sich sowohl in derselben als auch in unterschiedlichen Beziehungen ändern.
Sie schreiben: „Eine erfüllte Liebesbeziehung ist keine Glückssache, sondern eine Frage der persönlichen Entscheidung und inneren Einstellung". Das klingt gut.
Ja, ich versuche, dass der Leser mithilfe des Buches erkennt, was sein inneres Beziehungsprogramm, sein Beuteschema, ist und wie er in Bezug auf Autonomie und Anpassung aufgestellt ist. Wer sein Beziehungsprogramm erkennt und Fehler findet, muss entweder lernen, sich besser binden oder behaupten zu können, nicht selten auch beides. Auf diese Weise verändert sich der Blick auf die aktuelle Beziehung oder auf mein Beuteschema. Wer seine eigenen inneren Konflikte löst, erkennt auch, wenn er den oder die Richtige/n gefunden hat.
Dann lassen Sie uns das Ziel anvisieren: Wie definieren Sie eine gute Beziehung?
In einer guten Beziehung fühlen sich die Partner auf Augenhöhe, jeder ist 50 Prozent dafür verantwortlich. Jeder darf seine Wünsche und Bedürfnisse einbringen. Beide Partner haben gute Bindungsfähigkeiten: Sie können zuhören, sich einfühlen, nachgeben, sind kompromissfähig. Auf der anderen Seite haben beide Partner auch gute autonome Fähigkeiten: Sie spüren ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche, können sie äußern und einbringen, sich auseinandersetzen oder auch etwas tun, was dem Partner vielleicht nicht beliebt. Wer in dieser Balance ist, ist bindungsfähig. Der Rest ist dann eine Frage der Entscheidung.
Das heißt für einige: Raus aus dem alten Programm. Wie kann das gelingen?
Das Wichtigste ist, festzustellen, welche tiefen Prägungen man in Bezug auf Bindungsfähigkeit und Autonomie erfahren hat. In der Regel kommen solche Prägungen aus dem Elternhaus. Sie prägen sich tief in unsere Gehirnstruktur ein und wirken in unserem Erwachsenenleben weiter – oft ohne dass uns das bewusst ist. Allein die Bewusstmachung dieser Programme kann schon ungeheuer viel bewirken. Wenn ich dann meine Schwachpunkte entlarve und dazulerne, kann ich mein Beziehungsprogramm und mein Beuteschema verändern.
Die Bewusstmachung ist ein erster Schritt. Sie sprechen aber auch von einem Schattenkind. Wie kann das geheilt werden?
Das Schattenkind ist eine Metapher und steht symbolisch für problematische Prägungen, die wir in Bezug auf Bindung und Autonomie und damit einhergehend auch für unseren Selbstwert erfahren haben. Mithilfe des Erwachsenen-Ichs kann ich die Glaubenssätze und Verhaltensweisen, die durch diese Prägungen entstanden sind, hinterfragen und neue Verhaltensweisen erproben. Dazu nehme ich die Leser mithilfe von Übungen an die Hand und zeige ihnen, wie sie zu neuen inneren Einstellungen finden und ihr sogenanntes Sonnenkind entwickeln können.
Es geht in Ihrem Buch vor allem um gelingende Beziehungen. An einer Stelle aber befassen Sie sich mit Singles und schreiben „Mir persönlich ist kein Single bekannt, der oder die tatsächlich das Alleinsein gegenüber einer schönen Liebesbeziehung bevorzugt. Das Singledasein ist für die Betroffenen lediglich das kleinere Übel". Da rufen Sie aber die zufriedenen Singles auf den Plan …
Wir Menschen haben einen genetisch einprogrammierten Bindungswunsch, der damit zusammenhängt, dass Kinder solange brauchen, um aufzuwachsen. Deswegen ist unser Programm im Großen und Ganzen darauf ausgelegt, uns an einen Menschen zu binden – wenn auch nicht immer treu zu sein. Viele Singles assoziieren mit Bindung den totalen Freiheitsverlust. Sie wollen lieber tun und lassen, was sie wollen – dagegen ist nichts einzuwenden. Aber die meisten Singles können eben nur Single und nicht Bindung. Insofern ist es keine ganz freiwillige Wahl. Neben der Furcht vor Freiheitsverlust gibt es auch die Angst vor dem Verlassenwerden, sodass Singles denken: „Bevor mich jemand verlässt, lasse ich mich nicht ein." Sie können lernen aus dem „Entweder bin ich ein freier Mensch, oder ich bin in einer Beziehung ein „Und" zu machen. Das zeichnet glückliche Beziehungen aus.
Sie selbst haben auch länger gebraucht, um den Richtigen zu finden. Was hat letztlich zu Ihrem persönlichen Happy End geführt?
Tatsächlich auch ein verändertes Beuteschema. Mein Mann, mit dem ich sehr glücklich bin, ist ein langjähriger Freund von mir.
Und den haben Sie dann erst spät bemerkt?
Das war ein bisschen wie bei Harry und Sally. (lacht) Irgendwie hab ich plötzlich erkannt, dass das absolut der richtige Mann für mich ist. Früher hatte ich auch eher die coolen Typen, die oft nicht besonders bindungsfähig sind. Irgendwann habe ich begriffen, dass mein Mann eigentlich der viel coolere Typ ist, und dann sind wir zusammen gekommen. Er war immer so latent in mich verliebt und das wusste ich auch, aber ich habe ihn lange nicht erhört. (lacht)
Dann leben Sie jetzt selbst, was Sie weitergeben.
Genau. Wirklich. Das kann ich mit ganz gutem Gewissen bejahen.