Mann, Frau oder doch einfach Mensch? Die Krise des Feminismus scheint überwunden, aus dem neuen Selbstbewusstsein der Frau ist ein kurzzeitig irritierter Mann entsprungen. Und nun das: Gender Shift, die Auflösung der Geschlechterrollen.
Eine Studie des Zukunftsinstituts über „die Zukunft der Geschlechterrollen in Wirtschaft und Gesellschaft" belegt, was Experten längst vermuten: Die Geschlechterrollen lösen sich auf, und das hat Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens. Erste Thesen zu dieser neuen Wirklichkeit gab es bereits in einer ersten Studie aus dem Jahr 2003, die Anschlussstudie im Jahr 2015 bekräftigte dann die Ergebnisse. Eine der aufsehenerregendsten Hypothesen ist die des Sex-Designs. Demnach ist das Geschlecht eines Menschen nicht mehr angeboren, sondern Resultat einer bewussten, individuellen Entscheidung.
In einer Gesellschaft, in der Frauen die gleichen Chancen und Möglichkeiten zugesprochen bekommen wie die Männer, wollen diese nicht nur die Selbstverwirklichung im Zuge des Female-Shift-Konzepts. Nicht nur die Frauenwelt ist im Wandel, sondern auch die Männer müssen, ja, wollen sich selbst neu finden. Eine EMANNzipation ist in vollem Gange, alte Rollenzuweisungen verschwimmen, eine neue Geschlechterfindung ist längst gewollt und unausweichlich. Die Auswirkungen dieser inneren Neuentdeckung von Mann und Frau führt unweigerlich nicht nur zu privaten Herausforderungen im familiären Umfeld, auch die Arbeitswelt ist von der Geschlechterauflösung betroffen. In der Studie wird dieser Zustand als „Ungendering Work" umschrieben. Es gibt nicht nur die Krankenschwestern, den Feuerwehrmann und die Haushälterin. Berufe sind nicht länger den Geschlechtern zugewiesen, jeder kann und will alles sein, ganz nach den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben. Gender-Grenzen innerhalb der Arbeitswelt lösen sich immer weiter auf.
Im Privat- und Arbeitsleben
Doch was meint eigentlich der Begriff Gender, von dem in sämtlichen Fachartikeln der letzten Jahre die Rede ist? „‚Gender‘ bezieht sich auf das soziokulturelle Geschlecht, ‚Sex‘ auf das biologische Geschlecht. Mit der Abgrenzung wird deutlich, dass Geschlecht und mit ihm einhergehende Vorstellungen von Frauen und Männern veränderbar sind", so die Definition im Gender-Portal der Gleichstellungsbeauftragten an der Universität Duisburg-Essen. Hier wird deutlich, dass in diesem Fall der Anglizismus gerechtfertigt ist, denn die deutsche Bezeichnung „Geschlecht" umschreibt nicht umfassend, was Gender eigentlich meint. Um es mit einfachen Worten zu beschreiben: Sex, also Geschlecht, ist das womit wir geboren werden, als Junge oder Mädchen. Gender bezeichnet all die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Identitäten eines Menschen aus sich selbst heraus und von der Gesellschaft auferlegt. Sprechen Forscher nun von einem Gender Shift, so meinen sie den Wandel (im Englischen: shift) der Geschlechterrollen. Thomas Hubner beschreibt die Fragestellung hinter diesem Wandel im Vorwort der oben genannten Studie des Zukunftsinstituts wie folgt: „Im Gender Shift geht es um die Frage, welche Bedeutung Geschlechterrollen in unserer künftigen Gesellschaft haben werden."
Auch im Global Gender Report, der bereits seit elf Jahren vom World Economic Forum veröffentlicht wird, geht es konkret um die Veränderung der Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft und auch darum, welche Auswirkungen diese Veränderungen eigentlich haben. Was macht das mit dem Individuum? Was macht es mit dem Berufsleben, mit dem Privatleben? Und wie kommt es eigentlich zu diesem enormen gesellschaftlichen Wandel, in dem es bald keinen Prototypen Mann und keinen Prototypen Frau mehr geben soll, sondern eine neue Grauzone „Mensch"?
Neue Grauzone „Mensch"
Um den Wandel zu erklären, braucht es einen Blick auf die Geschichte allgemein, doch konkret auf die unseres Landes. Mit der Gründung der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Gleichberechtigung von Mann und Frau einen Platz im Grundgesetz. Damit war der Grundstein gelegt für eine neue Rolle der Frau in den kommenden Jahrzehnten. So dürfen Frauen seit 1957 in der Ehe mitentscheiden (Gehorsamsparagraf). Außerdem dürfen Frauen seitdem ein Konto bei der Bank eröffnen und dieses auch verwalten. Dazu gehört auch das Recht zu arbeiten. Wer schwanger ist, erhält vom Arbeitgeber Kündigungsschutz und einen zeitlich festgelegten Mutterschaftsurlaub. Schwangerschaften passieren seit der Einführung der Antibabypille im Jahr 1961 auch nicht mehr zwingend unerwartet, sondern im Einverständnis der Frau, die jetzt selbstbestimmt verhüten kann. Sogar die Pille danach darf sie sich ohne das Einverständnis des Mannes verschreiben lassen, sollte sie sich nach ungeschütztem Sex gegen das mögliche Eintreten einer Schwangerschaft entscheiden. Und trotz all der Veränderungen dauert es Jahrzehnte, bevor diese neuen Rechte auch wirklich Einzug ins Familienleben halten, Frauen nicht nur Mütter und Ehefrauen sind, sondern viel mehr.
Inzwischen sind wir in Deutschland in einem neuen Hierarchie-Empfinden angekommen. Durch die Frauenquote erhalten Frauen annähernd die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt wie Männer. Auch bei der gesundheitlichen Versorgung und der Bildung gibt es heute keine Kluft mehr zwischen den Geschlechtern, bestätigt auch die Unesco mit einem Blick auf die weltweiten Entwicklungen. Nicht zuletzt trägt das Internet den Veränderungen Rechnung, stützt sie und schafft neue Möglichkeiten des Ausdrucks. Social Media ist ein wichtiger Teil des Alltagslebens geworden und für viele weibliche und männliche User bedeutet das eine Plattform um zu sein, was immer sie wollen, ohne ein enges gesellschaftliches Korsett.
Risiken, aber auch neue Chancen
Und was heißt das nun für den Mann? Ist er gefangen in einer Frauenwelt, stark verunsichert und irritiert? Mitnichten, meinen Forscher, auch der Mann emanzipiert sich. Er genießt die Freiheit der Wahl, erfindet sich neu in der offensichtlichen Gleichheit der Geschlechter. Die Gesellschaft wird nachweislich androgyn. Neue Werte und ein neues Rollenverständnis führen automatisch zu mehr Handlungsfreiraum, zu Diversität und Entscheidungsfreiheit. Eine Entwicklung, die längst nicht nur auf Deutschland bezogen ist, sondern global zu beobachten ist und unaufhaltsam voranschreitet. Was klingt, wie ein wahrgewordener Traum für beide Geschlechter hat aber auch seine Schattenseiten. In einer Gesellschaft, in der die alte Ordnung zerfällt, entsteht Chaos. „Zwischen beiden sozialen Rechten und den damit verbundenen Pflichten zur Übernahme von Erwerbs- wie Sorgeverantwortung besteht ein Spannungsverhältnis, das im gesellschaftlich-politischen Diskurs auszutarieren ist mit dem Ziel einer sozial inklusiven Sozialstaatsbürgerschaft, bei der beide Sphären gesellschaftlich notwendiger Arbeit Anerkennung und materielle Ressourcen genießen", erläutert Sigrid Betzelt die neuen Herausforderungen des Gender Shifts in „Hartz IV – Folgen für Ungleichheit und das Gender Regime", zur Verfügung gestellt vom Fachbereich Sozialwissenschaften an der USB Köln. Frau und Mann müssen sich neu arrangieren, ihre Aufgaben individuell verteilen und neue Familienkonstellationen entwerfen, in denen jeder sein Glück finden kann. Das ist der Anspruch an ein neues Familienbild, an eine Entwicklung zu mehr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen für beide Seiten. Dass es daran noch hapert, zeigen die aktuellen Scheidungsraten. Laut Statistischem Bundesamt wird in Deutschland jede dritte Ehe geschieden. Ein negativer Trend, der sich seit den 90er-Jahren stetig weiterentwickelt und erst langsam zum Halten kommt. Auch das ist indirekt eine Folge von Gender Shift, aber nicht allein. Es ist höchste Zeit, dass die Geschlechterentwicklung und ihr Zusammenspiel in der Gesellschaft nicht nur als Risiko, sondern als Chance wahrgenommen werden. Dann klappt es auch mit dem neuen Frau- und Mannsein.