Die CDU braucht Angela Merkel zur Regierungsbildung. Und die CDU braucht einen Neuanfang nach der Ära Merkel. Das Ziel: regierende Volkspartei bleiben.
Angela Merkel hat die CDU nach links verschoben. So ein beliebtes Etikett, um die Entwicklung der Partei zu fassen, die sich selbst als „Volkspartei der Mitte" beschreibt. Die CDU steht absehbar vor einem Wechsel. Es ist nicht der erste auf dem langen Weg vom Kanzlerwahlverein zur fast schon Dauer-Regierungspartei.
Das Etikett Kanzlerwahlverein haftet der Union seit ihren frühen Jahren an. Damals, in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts, war Konrad Adenauer die dominierende politische Figur der jungen Bundesrepublik. Der CDU-Vorsitzende führte nicht nur seine Partei, sondern auch gefühlt das ganze Land in der ihm eigenen rheinischen Gutsherrenart. Unter seiner Führung wurde nur neun Jahre nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die Wiederbewaffnung und Gründung der Bundeswehr beschlossen. Die Partei nickte das alles nach außen ohne lange Diskussionen ab, wie auch den Beitritt zur Nato, obwohl damit klar war, dass damit das Verhältnis zur DDR auf Jahrzehnte belastet und eine Wiedervereinigung, eines der wichtigsten, wenn nicht gar das zentrale Anliegen der Union, praktisch ausschließen würde.
„Keine Experimente – Sie kennen mich"
Konrad Adenauer hatte die Parole „Keine Experimente" ausgegeben, und die Partei folgte. Nach außen entstand der Eindruck, die Partei folge ihrem Vorsitzenden, wohin auch immer. Tatsächlich hatte der erste Kanzler aber praktisch gar keine andere Wahl, weder bei der Einführung der D-Mark, der Bundesrepublik als separater Staat, der Wiederbewaffnung oder der Westintegration. Die USA gaben damals den Takt vor. Allerdings musste Adenauer das seinen Parteifreunden nicht lange erklären, um Zustimmung werben, überzeugen. Schon damals zeichnete sich bei den christlich-konservativen Unionspolitikern eine Kernmarke ab. Die funktioniert bis heute und erscheint vergleichsweise simpel: rationale Entscheidung geht vor emotionale Entscheidung, und wer parteiintern dagegen aufbegehrt, verliert.
Die CDU ist eine höchst pragmatisch-unideologische Partei. Stellt sich eine Aufgabe (es gibt nur Aufgaben, keine Probleme), wird ziemlich pragmatisch nach einer Lösung gesucht. Schon seit Gründung der CDU war Geschlossenheit immer Konsens und Stärke. Es geht nur gemeinsam, wer aus der Reihe tanzt und das auch noch nach außen trägt, wird sich eine blutige Nase holen. Das gilt später ebenso für die Ära Kohl wie aktuell für die Merkel-CDU.
Nur während der sogenannten wilden 60er wurde in der Union auch mal heftig gezankt. Die erste Nachkriegsgeneration rechnete mit der Väter-Generation ab, tradierte Gesellschafts- und Familienbilder bröckelten. Die Frau wollte nicht mehr nur im schicken Röckchen am Herd stehen, die Kinder hüten und Papa abends Pantoffeln und kühles Bier zum Fernseher bringen. In der CDU wurde gezankt auf Teufel komm raus. Am Schluss übernahmen die Sozialdemokraten mit Willy Brandt an der Spitze die Regierung. Von der CDU war dann über ein Jahrzehnt lang in der Opposition nicht mehr viel zu hören, bis sich ein neuer Patriarch in Stellung brachte: Helmut Kohl. Sein Aufstieg führte über eine krachende Niederlage von Franz-Josef Strauß bei der Bundestagswahl 1980. Der christsoziale Bayer war dem Rest der Republik (einschließlich vieler CDU-Getreuen) nicht vermittelbar.
Für Kohl ein Glücksfall: Die CDU erinnerte sich an das alte Erfolgsgeheimnis: pragmatische Geschlossenheit, zumindest nach außen. Ähnlich wie Adenauer beherrschte auch Kohl anfangs die Partei, doch die Zeiten hatten sich geändert. Selbst die Konservativen wollten sich von ihrem Parteivorsitzenden nicht ständig mit Alleingängen vor vollendete Tatsachen stellen lassen. Im Frühjahr 1989 war das Maß voll. Die kleine Palastrevolution im Hause CDU bekam Kohl zwar in den Griff, aber Streit nach außen bescherte der Partei unterirdische Umfragewerte. Wenn nicht ein Wunder geschehen würde, so viel war klar, sei die Niederlage bei der nächsten Wahl 1991 vorprogrammiert.
Mit „Bimbes" und Aussitzen regieren
Kohl bekam das Wunder, mehr noch: Mit dem 9. November 1989 trat alles andere in den Hintergrund, Kohls Sternstunde hatte geschlagen, Mauerfall, Wiedervereinigung.
Die Sozialdemokraten taten ihm zudem den Gefallen, mit Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine die Deutsche Einheit mies zu reden, wobei sich später ziemlich viele der Bedenken und Einwände als berechtigt erwiesen. Mit dem Versprechen von den „blühenden Landschaften" erreichte Kohls Nimbus Adenauer‘sche Dimensionen.
Die CDU zeigte sich im Einheitstaumel einmal mal mehr als höchst pragmatische Partei. Da gab es eine Herausforderung, die es anzupacken galt. Kein großer ideologiegeprägter Streit und Bedenken über langfristige Folgen, sondern „Realpolitik" und weitgehend erst einmal „auf Sicht fahren".
Angela Merkel muss in dieser Zeit sehr genau hingesehen haben. Zunächst belächelt als Ministerin für Frauen und Jugend, dann ab 1994 im Ressort Umwelt und Reaktorsicherheit, dann als „Kohls Mädchen" von den Parteifreunden verspottet, nutzte sie die Nähe zum politischen Übervater bestens aus. Sie lernte, wie „der Dicke aus Oggersheim" den Laden mit „Bimbes" und „Aussitzen" schmiss, hatte gleichzeitig ein feines Gespür für die aufziehende „Kohl-Dämmerung". „Geschichte wiederholt sich nicht", hatte Kohl einst gesagt. Für die CDU muss es trotzdem ein Déjà-vu-Erlebnis gewesen sein, was sich nach der verlorenen Wahl 1998 abspielte.
Alle lange äußerlich überdeckten Konflikte brachen sich Bahn, die Spendenaffäre wirkte wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Kohl war einst als der „Pfälzer aus Oggersheim" belächelt unterschätzt worden. Nicht anders erging es Merkel, die bei ihrer Wahl zur Parteichefin 2000 gemeinhin als Übergangslösung gesehen wurde. Die währt nun 18 Jahre (Kohl: 25 Jahre, Adenauer: 16 Jahre). Selbst ihr Weg ins Kanzleramt ähnelt verblüffend dem von Helmut Kohl. Erst überließ sie der Schwesterpartei CSU den Vortritt bei der Bundestagswahl 2002, die Edmund Stoiber in den Sand setzte, um dann anschließend selbst bei der vorgezogenen Neuwahl 2005 den Sprung zu schaffen.
Den „aussitzenden" Stil von Helmut Kohl hat sie zum abwartenden Pragmatismus weiterentwickelt. Wenn es zutrifft, dass unter ihrer Führung die CDU „nach links gerückt" sei, ist das ein Ergebnis höchst pragmatischer Reaktion auf die Umstände. Das war bei der Umwandlung der Bundeswehr zur Berufsarmee nicht anders als beim Atomausstieg. Beides keine ideologiegeprägten politischen Richtungsentscheidungen nach heftigen inhaltlichen Debatten. Die Zeit war eben reif. So wie bei der ein oder anderen gesellschafts- oder familienpolitischen Entscheidung. Und wenn eine „Herausforderung" zwar bekannt ist, aber der akute Handlungsdruck noch nicht groß genug ist, lässt sie es erst einmal weiterlaufen. Ein Wahlkampf beispielsweise um die Zukunft der Rente war mit ihr nicht zu machen.
Sie hat zwar nicht eine Wahl so wie Helmut Kohl seinerzeit in dem Sinn verloren, dass sie die Koffer im Kanzleramt packen müsste. Genau deshalb bleibt es rein äußerlich auch noch ziemlich ruhig in der Partei. Die weiß nämlich seit ihrer Gründung sehr genau, dass „Opposition Mist" ist. Regierungspartei zu sein gehört zur genetischen Grundausstattung der Union. Was auch den ausgeprägten und zumeist gelassenen Pragmatismus erklärt.
So mag sich auch der zentrale Satz Merkels in der schwierigsten „Herausforderung" der letzten Legislaturperiode erklären: „Wir schaffen das". Das Wie war dann wieder das bekannte „Fahren auf Sicht" in unklarer Situation. So, wie man es vom verkündeten Atomausstieg nach Fukushima kennt, der eine Energiewende einleiten sollte, an deren konkrete Umsetzung nach wie vor gebastelt wird.
Der Politikstil der Union und ihrer jeweiligen Langzeitvorsitzenden ist zurecht regelmäßig Anlass zu berechtigter Kritik. Gleichzeitig hat es die CDU damit geschafft, ihren Status als Volkspartei zu verteidigen. In Kernaspekten scheint sie damit einem mehrheitlichen Wählerbedürfnis zu entsprechen. Offen ausgetragener interner Streit wird erfahrungsgemäß nicht goutiert.
Noch kann Merkel selbst entscheiden
Zudem scheint es einer fast schon menschlichen Konstante zu entsprechen, selbst bei bekannten Problemen erst zu handeln, wenn es sich nicht vermeiden lässt, und dazu möglichst so, dass Veränderungen weder zu abrupt noch zu radikal ausfallen. All das hat Merkel in dem unnachahmlichen Satz bei ihrer vorletzten Kandidatur auf den Punkt gebracht: „Sie kennen mich" – Punkt. Kein Basta.
Genau dafür wird sie in dieser bislang historisch einzigartigen Situation einer Koalitionsfindung gebraucht. Wenn ihr das gelingt, und sie zugleich bei der anstehenden Reform der Europäischen Union mutige Schritte mit befördert, könnte sie anschließend die letzte Lehre aus der Ära Kohl ziehen und selbst einen geordneten Übergang organisieren.
Nachdem es lange Zeit so schien, als hätte sie alle innerparteilichen Widersacher und damit mögliche Nachfolger ins Abseits gestellt, sieht es jetzt so aus, als stünden
einige Talente bereit. Nach einer kürzlich veröffentlichten Forsa-Umfrage, im Auftrag von N-Tv, käme für Parteimitglieder an erster Stelle die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer in Betracht. Sie hat als einzige in diesem Wahljahr für die CDU ein 40-Prozent-Ergebnis − bei der Landtagswahl im März, als der Schulz-Hype auf einem Höhepunkt war − eingefahren und steht für einen liberalen werteorientierten Kurs. Julia Klöckner, einstige Hoffnungsträgerin aus Rheinland-Pfalz, muss mit dem Makel einer selbst vergeigten Landtagswahl leben. Jens Spahn kann sich auf Unterstützung der Jungen Union und der eher Konservativen stützen. Bisherige Kabinettsmitglieder wie Ursula von der Leyen oder Thomas de Maizière würden dagegen kaum einen Neuanfang nach dann womöglich 20 Jahren Merkel-Vorsitz signalisieren.