Die Kehrtwenden der SPD in kurzer Zeit sind so rasant, dass selbst die Mitglieder Mühe haben, mitzukommen. Ob das alles zu einer Regierungsbildung führt, ist völlig offen.
PD-Parteichef Martin Schulz ist innerhalb von zwei Wochen ein wahres Kunststück gelungen. Erst strikt für Opposition, dann doch für große Gespräche über eine Große Koalition. Doch mittlerweile kann niemand mehr sagen, was er nun eigentlich wirklich will. Das Überraschende: Seine Partei nimmt ihm diesen Schlingerkurs nicht mal übel, honoriert ihn im Gegenteil bei der Wiederwahl auf dem Parteitag mit knapp 82 Prozent. Von einem solchen Ergebnis konnte sein Vorgänger Sigmar Gabriel zum Schluss nur noch träumen. Martin Schulz ist es damit tatsächlich gelungen, sich selber völlig aus der Schusslinie zu bringen, um nun nach dem Vorbild der Kanzlerin die Parteigeschicke nur noch zu moderieren.
Was die Gemengelage zur zukünftigen Ausrichtung der Partei angeht, ist die Situation sehr unübersichtlich und lässt sich kaum noch an den üblichen Seilschaften festmachen. Der Riss zwischen den Befürwortern einer Regierungsverantwortung und den Gegnern geht quer durch die „Seeheimer", „Netzwerker" und den linken Flügel. Einzig die Jungsozialisten haben sich eindeutig positioniert und machen massiv Front gegen eine weitere GroKo. Wenn man aber mal bei den Jusos näher nachfragt, gibt es viele junge SPD-Genossen, die einsehen, dass man jetzt nicht einfach die Arme verschränken und alles ablehnen kann. Doch offenbar gibt es so etwas wie den typischen Juso-Reflex. Wenn der Parteivorstand festlegt, der Himmel ist blau, dann muss man als Juso dagegen sein, auch wenn der Parteivorstand eigentlich Recht hat. Und diesem Automatismus folgend ist der gute Jungsozialist partout gegen eine weitere Regierungsverantwortung.
Wobei ein Argument doch sehr überzeugend wirkt. Warum, fragen die Jusos, sollen wir für ein bisschen mehr als zwei Jahre praktischer Regierungsverantwortung mit der CDU unser eigenes Reformprojekt innerhalb der Partei aufgeben? Die Rechnung der jungen SPDler ist in Ansätzen nachvollziehbar. Bis eine erneute GroKo in Amt und Würden ist, wird es sehr wahrscheinlich Ostern sein. Dann kommen nur noch ein paar Sitzungswochen bis zu den Sommerferien. Mit dem Regieren würde es also erst Ende September so richtig losgehen, weil vorher ja noch die wichtigen Landtagswahlen in Hessen und Bayern sind. Und damit blieben dann noch zwei ungetrübte Jahre des Regierens übrig.
Denn spätestens im Herbst 2020 ist man schon wieder im Vorfeld der Bundestagswahlen, die, wenn sie denn planmäßig erfolgen, im September 2021 anstehen würden. Die Erfahrung lehrt, dass dann nicht mehr wirklich regiert, sondern unterschwellig schon gewahlkämpft wird. Nicht nur den Jusos ist klar, dass in diesen verbleibenden zwei Jahren des Handelns nur wenig Spielraum fürs Gestalten bleibt. Denn allein schon ein normales Gesetzgebungsverfahren mit Beratungen und Anhörungen dauert länger.
Während die Jusos nur die Opposition als Alternative ausgemacht haben, gibt es bei den „Netzwerkern" nicht wenige, die die Idee einer durch die SPD tolerierten Minderheitenregierung der Union ganz spannend finden. Die SPD würde damit dem staatspolitischen Auftrag durch das Wählervotum nachkommen und sich der Verantwortung stellen. Die Regierung wäre auf europäischer und internationaler Bühne durchaus handlungsfähig, die SPD könnte aber in der Innenpolitik eine klare soziale Handschrift umsetzen oder zumindest allzu Unsoziales verhindern. Vorteil: Die Sozialdemokraten wären nicht schon wieder auf Gedeih und Verderb an die Union gebunden und für das gesamte Regierungshandeln voll verantwortlich, sondern nur ein bisschen nach dem Motto: „Das Schlimmste haben wir verhindert". Vor allem die unter 50-Jährigen, vorwiegend weiblichen SPD-Mitglieder präferieren das Modell geduldete Minderheitenregierung.
Hauptwort: „ergebnisoffen"
Dies ist für die meisten der konservativen „Seeheimer" und für den Wirtschaftsflügel in der Partei totaler Blödsinn. Frei nach dem Motto, ein bisschen schwanger gibt es nicht, fordern sie, wenn schon, dann die volle Verantwortung und damit auch die Ministerposten. Allerdings hängen sie die Latte für eine erneute große Koalition sehr hoch. Als nicht verhandelbar gilt unter anderem das geforderte Ende der Zwei-Klassen-Medizin und damit die Einführung der Bürgerversicherung.
Nur wenn die Bürgerversicherung kommt, kann es eine Neuauflage der GroKo geben, so die ziemlich einhellige Ansicht bei Seeheimern, Netzwerkern, aber auch Teilen des linken Flügels in der SPD.
Dies gilt auch für das geforderte Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit. Nicht hinnehmbar für die Sozialdemokraten ist beispielsweise auch die Flüchtlings-Obergrenze oder die weitere Aussetzung des Familiennachzugs. Sollte die CSU weiterhin darauf bestehen, gilt es als ausgeschlossen, dass ein SPD-Parteitag einen solchen Koalitionsvertrag absegnen würde.
Gleichzeitig sind die Sozialdemokraten misstrauisch. Auch wenn in einem möglichen Koalitionsvertrag alle SPD-Forderungen stehen, heißt dies noch lange nicht, dass sie auch umgesetzt werden. So wurde zum Beispiel vor vier Jahren die Einführung der Solidarrente vereinbart, doch bis heute nicht umgesetzt. SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles nannte dies schon mehrfach wenig vertrauenserweckend für die zukünftigen Gespräche. Ob indes Nahles für oder gegen die erneute Regierungsverantwortung ist, ist ebenfalls nicht feststellbar, ähnlich wie bei Parteichef Schulz, aber auch dem frisch gekürten SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Alle drei bemühen immer wieder die „ergebnisoffenen Gespräche" und vermeiden auch nur irgendeine Positionierung. Dabei entsteht der Eindruck, dass selbst die Parteiführung ebenso ratlos wie die Basis ist.
In der Zwickmühle ist es fast schon egal, wie sich die SPD verhält, es ist verkehrt. In der Großen Koalition droht weitere Abnutzung des sozialdemokratischen Profils, wobei heute schon nicht wenige Genossen erstaunt nachfragen: „Welches Profil?" Tolerieren die Sozialdemokraten eine Unions-Minderheitsregierung, ist man trotzdem irgendwie mitverantwortlich, zumindest kann man nicht gleichzeitig Totalopposition machen. Geht die SPD doch in die Opposition, dann würden ihre Kritiker ihr vorwerfen, sie habe das Wählermandat verraten. Und sollte es zu Neuwahlen kommen, könnte sie bei einem ähnlichen Votum dann nur schwer plötzlich doch in eine Große Koalition gehen.