Die Zeiten für den deutschen Politikbetrieb waren und sind ungewöhnlich turbulent. Trotzdem herrscht Stillstand in der Berliner Republik im Wahljahr 2017. Oder gerade deshalb?
Die Jahresrückblicke häufen sich, im Fernsehen moderiert wie gewohnt Günter Jauch, die Zeitungen bringen dicke Sonderausgaben. Doch wer sich angesichts der Debatten im Deutschen Bundestag fragt, wo es in diesem Jahr eigentlich politisch voranging, wird lange überlegen müssen. War es das Carsharing-Gesetz oder das Gesetz gegen den Schienenlärm? Vielleicht gar die Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersuchung? Was hat Spuren hinterlassen?
Eingeprägt haben sich die Bilder nach der Abstimmung über die „Eheschließung von Personen gleichen Geschlechts" (30. Juni), vielleicht auch noch die Debatte über den „Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung". Aber sonst? Die Groko hat mit ihrer erdrückenden Mehrheit weitgehend für Ruhe gesorgt, wenn es mal brisant zu werden drohte. Anträge der Grünen oder der Linken wurden konsequent abgelehnt, egal, ob es um Rüstungsexporte, die Klimaschutzpolitik, die Vermögenssteuer, den Kohleausstieg oder ein Einwanderungsgesetz ging.
Deutschland drehte sich um sich selbst. Ganze zwei Mal gab Kanzlerin Merkel eine Regierungserklärung ab, beide Male zu Sitzungen des Europäischen Rats. Während Trump um die Welt reiste, Saudi-Arabien aufrüstete, China hofierte und Nordkorea provozierte, während Putin sich mit seinem neuen Freund Erdogan verständigte und die Briten um den Brexit pokerten, beschäftigte sich der Bundestag mit dem Ausbau der Kindertagesbetreuung, mit Radschnellwegen oder der Pkw-Maut. Selbst die Terroranschläge in Stockholm, Barcelona und London waren kaum eine Erwähnung wert.
Die Politik schien wie gelähmt zu sein in diesem Jahr. „Dieselgate"? Bloß nicht die Autokonzerne verprellen mit allzu forschen Maßnahmen. Die Bosse dürfen Vorschläge machen – Software-Updates, 250 Millionen für den Öffentlichen Nahverkehr – und schon ist für die Groko die Sache wieder vom Tisch. Beim Kohleausstieg mauern die Bundesländer, in denen Kohle abgebaut wird, und die sind CDU- und SPD-regiert. Also tut da auch keiner dem andern etwas zuleide. Mit der braun-schmuddeligen AfD schließlich wollen alle nichts zu tun haben. Und merken nicht, dass die Rechtsextremisten genau von diesem Stillstand und dem Um-sich-selbst-Drehen der Politik profitieren. Das zeigte sich spätestens bei der Bundestagswahl: Die AfD zog wie ein Staubsauger die Unzufriedenen, die Protestwähler und Politik-Verächter an sich.
Blick über den Tellerrand? Fehlanzeige
Dass vier Mal in diesem Jahr zu Landtagswahlen aufgerufen wurde, hat den Trend zur Beschäftigung mit sich selbst eher verstärkt. Im Saarland wurde eine bewährte Führungsfigur wiedergewählt, in Nordrhein-Westfalen scheiterte die SPD an der verfehlten Schulpolitik, in Schleswig-Holstein immerhin siegte überraschend ein Newcomer und in Niedersachsen kämpften beide, SPD wie CDU, mit dem Verdacht, die Abgas-Machenschaften des VW-Konzerns unter den Teppich kehren zu wollen. In allen vier Landtagen zog die AfD ein oder wurde stärker.
Man hätte also gewarnt sein können. Trotzdem ergingen sich am Bundestagswahlabend alle im blanken Entsetzen über den Einzug der Rechtsextremisten in den Bundestag. Hätte man etwas anderes erwarten können? Mit dem Land, in dem sich „gut und gerne leben lässt" (CDU) waren nun mal nicht alle zufrieden. Es ging nicht voran: In der Einwanderungspolitik beharkten sich CDU und CSU, der Notstand in der Pflege wurde allenthalben beklagt, aber passiert ist nichts. Und wie es in Europa weitergehen sollte, konnte kein Politiker glaubhaft erklären. Die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen machten dann endgültig deutlich, was alles liegen geblieben war.
Doch statt sich nun wieder auf die internationale Rolle Deutschlands zu besinnen, beherrschten persönliche Profilneurosen das Bild. Die Grünen drückten und kneteten ihre Basis, die FDP gab sich schneidig, die CSU bangte um die Wiederwahl 2018 in Bayern. Von Kanzlerin Merkel gab es – wie gewohnt – keine Richtungsbestimmung, sie verlegte sich aufs Abwarten. Niemand nahm mal eine längerfristige Perspektive in den Blick, niemand rechnete die innerdeutschen Befindlichkeiten gegen die Weltpolitik auf. Ist es dem Weltklima nicht ziemlich egal, ob zwei oder drei Kohlekraftwerke bis 2021 abgeschaltet werden? Und wie stark fielen 50.000 oder 60.000 nachziehende Familienangehörige ins Gewicht, wenn von 200.000 als Obergrenze die Rede war und die noch nicht einmal erreicht wurden?
Auf internationale Themen gab es keine Reaktion. Die Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die den Stillstand in der EU aufbrechen will, verhallte. Zu Polen und Ungarn, die immer mehr demokratische Strukturen demontieren, schwieg Berlin. Dass China an einer neuen „Seidenstraße" baut mit einem Brückenkopf auf dem Balkan, blieb unbeachtet. Immerhin bedeutet das nichts anderes als die Absicht, noch stärker in den EU-Wirtschaftsraum vorzudringen und den deutschen „Exportweltmeister" zu entthronen. Dass in Libyen der Sklavenhandel wieder blüht, merkte die Politik reichlich spät. Unterdessen mischte Putin immer stärker in Syrien mit, was Deutschland schon allein angesichts der vielen Syrien-Flüchtlinge nicht egal sein sollte. Und hinter allem droht die Nordkorea-Krise, bei der die Bundesrepublik im Gegensatz zu anderen Ländern offenbar auch nur zusehen kann. Nicht auszuschließen, dass wir Deutschen eines Tages aufwachen und uns wundern, dass uns keiner gefragt hat.