Nach einer überragenden Qualifikation und der Gruppenauslosung zur Weltmeisterschaft 2018 in Russland steht für Joachim Löw als nächster großer Schritt die Kadernominierung an. Auf der einst schwierigen Position im Sturmzentrum hat die Nationalmannschaft fast schon ein Luxusproblem.
Als Miroslav Klose beim magischen Halbfinale im Maracana (7:1 gegen Brasilien) sein insgesamt 16. Tor bei einer Weltmeisterschaft erzielte, wurden die Fußstapfen für die nächste Sturmgeneration erneut einen Tick größer, als sie sowieso bereits waren. Große Stürmer hatte die deutsche Nationalmannschaft schon immer zu bieten. Ob Gerd Müller 1974, Jürgen Klinsmann und Rudi Völler 1990 oder eben Miroslav Klose 2014: Große Spieler mit großen Verdiensten liefen stets im Sturmzentrum auf und hatten erheblichen Anteil am Erfolg. Dementsprechend groß war die Angst der Medien und Fans, als nach der Ära Klose ein Vakuum im deutschen Sturm zu herrschen schien. Das Experiment der falschen Neun wurde bei der Europameisterschaft in Frankreich relativ schnell verworfen, denn es wurde deutlich, mit einem echten Neuner fühlt sich die Mannschaft wohler. Da kam der wiedererstarkte Mario Gomez gerade recht, der dem Spiel der Deutschen mehr Präsenz im gegnerischen Strafraum verlieh.
Seit dieser Europameisterschaft hat sich im deutschen Fußball vor allem auf der Stürmerposition viel getan. Maßgeblichen Anteil daran haben die starken Auftritte der deutschen Elf beim Confederations-Cup im vergangenen Sommer. Bundestrainer Jogi Löw schaffte es, mit einer Mannschaft ohne etablierte Schlüsselspieler der vergangenen Jahre den Confed-Cup zu gewinnen. Sandro Wagner, einer der Debütanten unter Löw in diesem Jahr, verbuchte bei dem Turnier zwar nur einen Einsatz, der große gebürtige Bayer sollte sich aber in den kommenden Monaten mehr und mehr beweisen können. Lars Stindl und Timo Werner nutzten den Confed-Cup ebenfalls, um kräftig Eigenwerbung zu betreiben. Beide erzielten drei Tore im Turnierverlauf, im Finale sorgten beide im Zusammenspiel für den entscheidenden Treffer gegen Chile.
Starker Auftritt beim Confed-Cup
Die Leistungen von Wagner, Stindl und Werner sollten in den darauffolgenden Monaten noch mehr Argumente für eine Kadernominierung in Russland liefern. Nicht zu vergessen in der ganzen Diskussion: Mario Gomez, den der Bundestrainer schon immer mit viel Vertrauen ausstattete.
Der Unterschied zu 2016 ist jedoch die Konkurrenzsituation auf der zentralen Stürmerposition. Das Vakuum, von dem jeder Experte redete, wurde ausgefüllt mit vier Namen, Gomez, Stindl, Wagner und Werner. Aus Mangel an Alternativen wurde innerhalb von zwei Jahren ein Überangebot, für den Bundestrainer eine Luxussituation. Dass Löw alle vier Spieler mit nach Russland nehmen wird, gilt als unwahrscheinlich. Variabilität und Flexibilität waren bisher immer das Markenzeichen von Löws Kaderzusammenstellung. Bei genauem Blick verstecken sich hinter den Namen der Spieler drei Spielertypen. Mit Sandro Wagner und Mario Gomez kann Löw zum einen auf die klassische Nummer Neun zurückgreifen. Beide vereinen dieselben Attribute, sind kopfballstark, robust und haben einen guten Abschluss. Wagner hat beim Spiel mit dem Rücken zum Tor vielleicht die Nase vor Gomez. Timo Werner hingegen verkörpert einen anderen Typ Stürmer. Der ehemalige Stuttgarter ist pfeilschnell, braucht den Ball in den Lauf und hat einen brutalen Abschluss. Wiederum ein anderer Typ ist Lars Stindl. Dieser wird von Löw als Spieler für die Zwischenräume geschätzt, in engen Situationen und auch mit dem Rücken zum Tor findet der Gladbacher Kapitän oft gute Lösungen. Alle vier Spieler vereint zudem ihre Torgefahr.
Der Spieler, der wohl die größten Chancen auf eine Nominierung hat und womöglich auch ein Kandidat für die erste Elf ist, ist Timo Werner. Die Entwicklung des Leipziger Stürmers in den letzten Jahren ging steil nach oben. In seiner ersten Saison bei RB Leipzig lieferte Werner gleich 21 Tore und sechs Assists bei 31 Spielen in denen er zum Einsatz kam. Für den damals 20-Jährigen ein überragender Wert. In mittlerweile zehn Spielen für die Nationalelf traf Werner schon sieben Mal. Nach zwölf Spielen in der Liga, zwischenzeitlich musste er verletzungsbedingt pausieren, weist Werner in diesem Jahr schon wieder sieben Tore und drei Assists auf. Jedoch waren vor allem seine Auftritte in der Nationalmannschaft so überzeugend, dass Löw an dem 21-Jährigen eigentlich gar nicht vorbeikommen kann.
„Ein Spieler, der Gegner bindet"
Mitunter als sicher ist einzustufen, dass entweder Wagner oder Gomez mit zur WM fahren werden. Dass beide gemeinsam nach Russland fahren werden, darf zumindest bezweifelt werden. Ihre Stärken ähneln sich sehr, Wagner ist fußballerisch ein bisschen besser. Vor allem in Löws Kombinationsspiel dürfte das gefragt sein. Seine Statistik in der Nationalmannschaft ist zwar ähnlich wie bei Werner noch nicht so ausgeprägt, aber dennoch aussagekräftig. Mit fünf Toren in sieben Spielen ist seine Quote kaum zu verbessern. Auch wenn es drei Tore gegen San Marino waren: Gegen wen Stürmer ihre Tore schießen, interessiert in der Nachbetrachtung selten. Doch nicht nur wegen seiner Tore konnte Wagner den Bundestrainer auf seine Seite ziehen. Die Art wie Wagner spielt, beschäftigt fast eine ganze Viererkette. Er ist unangenehm zu verteidigen, bärenstark im Kopfball und zerreißt sich für seine Mannschaft. Zudem wirkt er integriert in den Kombinationsfußball, den Löw so liebt und schätzt.
Das gelang Mario Gomez jedoch nie so richtig. Dieser hielt sich aus den Ballstafetten meist draußen, spielte an vorderster Front eher den Verwerter der Zuspiele. In 71 Spielen schoss Gomez satte 31 Tore, an zehn weiteren war er beteiligt. Als Quote für einen Mittelstürmer ist diese Statistik überragend.
Wie Löw sich dabei entscheiden wird? Das ist mitunter das größte Fragezeichen bei der Sturmfrage. Gomez blieb gelassen, als er für die Spiele gegen Frankreich und England nicht nominiert wurde: „Die wichtigen Monate kommen erst." Damit dürfte er Recht haben. Vielleicht ist dies aber auch als Fingerzeig des Bundestrainers zu werten, dass Sandro Wagner momentan die Nase vorn hat. In der aktuellen Saison in der Bundesliga hat Gomez erst einen Treffer auf dem Konto, Sandro Wagner seines Zeichens vier. Beides keine Quoten, die den Bundestrainer vom Hocker reißen. Dennoch wirkt es so, als hätte Löw an Sandro Wagner extremen Gefallen gefunden: „Sandro ist ein Spieler, der Gegner bindet und beschäftigt, der auch bei Flanken sehr präsent ist." Bei allem Respekt für die gezeigten Leistungen von Gomez, für die angedachte Spielweise des Bundestrainers scheint der mehr am Spiel teilnehmende Wagner besser geeignet. Abzuwarten ist jedoch, wie beide sich in der Endphase der Bundesliga anbieten. Entschieden ist bei diesen beiden Personalien noch lange nichts.
Findet auf engem Raum Lösungen
Der vierte im Bunde ist Lars Stindl. Dessen Chancen sind unglaublich schwer einzuschätzen, was jedoch nicht an dem Gladbacher Kapitän festzumachen ist. Abhängig ist seine Nominierung vom Ansatz des Bundestrainers: Lieber einen Mittelfeldspieler mehr oder Lars Stindl? Spieler, die ähnlich ticken wie Stindl, hat der Bundestrainer zur Genüge. Götze, Özil, Goretzka, Draxler, um nur ein paar zu nennen. Der Unterschied ist, dass der Gladbacher eine Mischung aus Stürmer und Mittelfeldspieler darstellt. Er bewegt sich gut in den Halbräumen, findet auf engem Raum Lösungen. Mit dem Rücken zum Tor spielt er ebenso gut, seinen guten Abschluss durften die deutschen Fans im Spiel gegen die Franzosen schon bewundern, als er die „Mannschaft" vor der ersten Niederlage im aktuellen Kalenderjahr bewahrte. Mit vier Toren in zehn Spielen für die Nationalmannschaft hinkt er zwar ein wenig hinter den anderen drei her, Löw hat jedoch schon öfter gezeigt, dass Statistiken für ihn nicht ausschlaggebend sind. Immer wenn Stindl spielte, belebte er das Spiel der DFB-Elf. Dass Stindl als Kapitän in einer erstarkten Gladbacher Mannschaft die Führungsrolle schlechthin übernommen hat, ist sicherlich ein Pluspunkt.
Der Bundestrainer hat im kommenden Sommer also zum Glück ein Luxusproblem in der Sturmspitze, die Zeiten des Vakuums und der fehlenden Stürmer sind vorbei. Für wen sich Jogi Löw entscheiden wird, hängt wohl auch von der Rückrunde der beteiligten Akteure ab. Ebenfalls von den Testspielen die die Nationalelf vor der Nominierung des Kaders bestreitet. Das Gute an dieser Situation: Die Qualität der Spieler ist so groß, dass der Fehler, einen nicht zu nominieren von der Qualität des Nominierten übertrumpft wird. Demnach kann Löw nicht wirklich etwas falsch machen, sondern nur ganz viel richtig.