Das „Horváth" in Kreuzberg gehört zu den besten Adressen der Stadt. Zwei Michelin-Sterne und 17 von 20 Punkten im „Gault&Millau" unterstreichen dies. Dennoch ist und bleibt Sebastian Frank einer der unaufgeregtesten Küchenchefs.
Wenn du ins ,Horváth’ gehst, probier’ bitte die nicht-alkoholische Getränkebegleitung." Mit so einer präzisen Trink-Aufforderung wird frau selten in ein Restaurant geschickt. Mir war’s sehr recht, schätze ich doch raffinierte Getränke ohne „Kopf" zu einem raffinierten Abendessen. Bereits zum grafischsten und schicksten Gericht des Abends ziemlich am Anfang ahne ich, wohin die Reise mit Teeauszügen, selbstgemachten Gemüsesäften, Ölen und Reduktionen in den Weinkelchen gehen wird. Molke mit Leindotteröl, Kren und Honig nennt sich das Getränk schlicht. Es macht, mit einem in die Nase schwebenden Tick Zitronenabrieb, der sich auf der Zunge noch einmal von hinten heranschleicht, klar, dass Understatement mit Hintersinn im „Horváth" zum Programm gehört.
Gedämpfte gelbe Bete versteckt sich auf dem Teller unter einer schwarz schillernden Decke von geröstetem Blaumohn. Darauf schlängelt sich eine weiße Glasurlinie aus geräuchertem Schweineschmalz. Küchenchef Sebastian Frank spielt mit Erwartungen, Optik und Geschmack: Bei einem so handfesten Namen wie „G’schmelzter Bete" denke ich eher an rustikale Knollen als an eine Einzelscheibe in Op-Art-Ästhetik in strengem Schwarz-Weiß. Die versteckte Bete vom Gemüsehof Zülz aus Wustermark schmeckt süßlich und nur sehr fein erdig aus dem Hintergrund. Rauch- und das vollmundige Ölsaaten-Aroma zitieren die bodenständige Küche der österreichischen Heimat und des brandenburgischen Umlandes bei Sebastian Frank gleichermaßen.
Die Molke im Getränk greift den cremigen Touch der geschmälzten Bete auf, führt sie leicht, schwebend und harmonisch weiter. Einstieg gelungen: Auge, Nase und Geschmacksknospen sind gleichermaßen erfreut und beschäftigt. Passenderweise sitzen wir in dem 45-Plätze-Lokal am Paul-Lincke-Ufer nahe der Kottbusser Brücke direkt vor einer mit großen Mohnblumen tapezierten Wand. In dem Lokal mit seiner warmtonigen „Holzummantelung" ist die Gastronomie überdies seit mehr als 100 Jahren zu Hause. Etliche davon sogar fest in österreichischer Hand – vor allem in den 70er- und 80er-Jahren machte das „Exil" von Oswald Wiener Furore.
Begeisterndes Getränke-Erlebnis
Ein Jahr lang haben Sebastian Frank sowie Restaurantleiter und Sommelier Jakob Petritsch an den „Säften" – unter dieser Typenbezeichnung seien sämtliche Kreationen zusammengefasst – bis zum ersten Ausschank im Sommer 2015 gearbeitet. „Man kann aber gern Wein und Nichtalkoholisches in einer Begleitung kombinieren", verrät uns Andreas Bergel, der stellvertretende Restaurantleiter. Er wird meiner Begleiterin noch so einige Male überraschende Weine aus dem ehemaligen „K.u.K"-Raum Österreich und Ungarn sowie aus Slowenien, Serbien und Kroatien kredenzen. Im Schnitt zehn Gäste am Abend wählen die Saftbegleitung, weiß Bergel. Die Säfte sind als Auszüge so komprimiert und ausgearbeitet, dass sie keine sättigende Mahlzeit im Smoothie-Stil sind, sondern als leichte, pure Geschmacksträger ins Glas fließen oder geschäumt werden. Auch wenn man bei all dem rasch „Trend" rufen mag, passt wohl kein Begriff weniger zu Sebastian Frank. Der 36-Jährige entwickelte seine von Grobheiten entkernte und unerwartet neu zusammengesetzte Küche vielmehr aus seiner österreichischen Herkunft und seinem Produktverständnis. „Ich mag die Gerichte aus der zweiten Reihe, die Mutti unter der Woche gekocht hat", sagt er mit einem Augenzwinkern. „Ich bin der Typ, der für Normalität plädiert."
Tierische Fette etwa, die uns in Gerichten wie der gekochten, butterweichen Rehhaxe mit aufgeschlagener Eierbouillon und Creme von Weißbrot und Kalbsnierenfett als Geschmacksträger auffallen, seien in der Küche seiner Mutter wichtig gewesen. Gekochte Suppenmöhre mit Meerrettich plus eingelegte und getrocknete Waldpilze runden dieses überaus kuschelige winterliche Gericht zum Hineinlegen und Wohlfühlen ab. Franks Gerichte gehen häufig vom Gemüse aus – und täuschen raffiniert an. „Mancher Gast hat sich schon gewundert, dass beim Zwiebelgulasch gar kein Fleisch auf dem Teller liegt", sagt Andreas Bergel. Ein Kaltauszug gibt die Aromen der vorschriftsmäßig zu verwendenden Gewürze – Knoblauch, Zwiebel, Tomaten, Paprikapulver, Cayennepfeffer, Majoran, Kümmel und Zitrone – in verfeinerter Form ab, verrät Sebastian Frank. Paprikacreme, knusprige Zwiebeln mit Kümmel und gedämpfte Radieschen interpretieren das Gericht auch visuell neu: Hochelegante weiße Schiffchen von der confierten Gemüsezwiebel surfen übers Porzellan und zeigen auf, wie ein typisches Fleisch-Schmorgericht vollkommen vegetarisch funktioniert.
Sebastian Frank verfolgt seinen „Kreativität durch Zensur"-Ansatz, der der Küche in der Beschränkung auf Weniges, teils Nahes, teils Ursprungsheimatliches zu neuer Freiheit, Klarheit und Bodenhaftung verhilft. Ob regional oder österreichisch eingekauft wird, hängt davon ab, wo es die besten Produkte gibt. „Wir kaufen unsere Öle nur in Österreich, obwohl wir eine hervorragende Haveölmühle hier haben. Da hängt mein Herz dran", sagt Frank. „Den Fisch beziehe ich von den Müritzfischern, aber nicht, weil sie aus der Region sind." Vieles wird über den Lieferservice der nahen „Markthalle Neun" geordert. Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, Bete und Sellerie produziert der Gemüsehof Zülz, der auf dem Markt am Maybachufer gegenüber einen Stand hat. „Wir haben dort 1.000 Sellerieknollen eingelagert, die wir im Zwei-Wochen-Rhythmus abrufen", sagt Frank. So kommt frisches Gemüse bis zur nächsten Ernte in Töpfe und Pfannen. Nur eines ist seine Sache nicht: „Wir sind nicht so die Fermentationsfreaks."
Öl aus Erdbeerkernen
Das österreichische Herz und der Blick für außergewöhnliche Aromaträger und kluge, aber kostbare Produkte bescheren mir Erdbeerkernöl im Getränk. Ja, richtig: Öl aus Erdbeerkernen. Franz Hartl, ein Produkt-Freak wie Frank, stellt es in der Steiermark aus den „Abfällen" einer Marmeladenfabrik her. Er kauft säckeweise getrocknete Kerne, presst daraus Öl und liefert nur wenige Flaschen aus. Das Öl landet tropfenweise als Aromaträger in meiner „Erdbeermilch", einem Schafsrahmjoghurt-Drink mit Schafsahne, Rapsöl und Zitrone, der mir zum Kürbismarzipan-Dessert mit Kalbsgrammeln und einer Gemüse-asche-Explosion serviert wird. „Das Öl ist eine super Alternative, um außerhalb der Saison etwas mit Erdbeeren zu machen", sagt Andreas Bergel. „Und um die Gäste zu verblüffen", ergänze ich.
Die Säfte sind ebenso aufwändig in Herstellung und Qualität wie die Weine und das Essen. So erklärt sich, weshalb eine Saftbegleitung für fünf bis neun Gänge mit 50 bis 85 Euro ähnlich zu Buche schlägt wie eine Weinbegleitung für 50 bis 90 Euro. Wer ins „Horváth" einkehrt, kalkuliert für ein Menü mit fünf, sieben oder neun Gängen ohnehin 89, 109 oder 129 Euro pro Person ein. Die Begleiterin erhält dieweil auf der Weinseite eine „Late Harvest Cuvée" aus Fomint- und Hárslevelü-Trauben vom Weingut Sauska aus dem ungarischen Tokaj. Der edelsüße Weiße macht dem butternusskürbissig-cremigen Dessert und den wie von Jackson Pollock aufgespritzten schwarzen Aschepartikeln Wind auf dem Teller. „Die Frische von hinten verhindert, dass es bonbonlastig wird", sagt die Begleiterin.
Sebastian Frank ist einer der unaufgeregtesten Küchenchefs der Stadt. Er spaziert mit einer Messer-Schachtel in der Hand durchs Restaurant, das er 2014 gemeinsam mit seiner Partnerin und Geschäftsführerin Jeannine Kessler übernahm. Seit 2010 war er dort bereits Küchenchef. Fragt, ob’s gut gehe und schmecke, um sich erst einmal seinen Aufgaben am Herd zu widmen. „Manchmal wechsele ich aber mit raus in den Service als Speisenträger", sagt er später im Gespräch. Ihn interessiert, was bei den Gästen ankommt. Von Allüren wegen der beiden, kürzlich wieder bestätigten, Michelin-Sterne, wegen 17 von 20 Punkten im „Gault&Millau" 2018 oder dem Titel „Berliner Meisterkoch 2017" keine Spur.
Fünf Personen arbeiten mit dem Chef in der Küche, fünf weitere im Service vorn. Wir sind noch hingerissen von Gerichten wie vom geflämmten Forellenfilet mit gekühltem Weiße-Schokolade-Essigrahm mit Dill, gerösteter schwarzer Senfsaat, Senföl und Kalbskopf-Chip, da sagt Sebastian Frank: „Vieles ist einfacher, als man denkt". Wie das flüssige Fleischaspik aus Wild nach dem Rezept aus dem Wiener Kochbuch der Louise Seleskowitz von 1894, das uns zum Intro flashte: „Man muss nur Fleisch in den Topf werfen und es einen Tag kochen lassen. Das schafft jeder. Anschließend muss es einen weiteren Tag einreduzieren. Das schafft auch jeder." Aber wohl kaum in dieser Güteklasse und mit dem Händchen für die richtige Menge Sternanis und Madeira, die aus Omas Fleischbrühe ein Geschmacks- und Kraftbömbchen werden lässt und aus einem Besuch im „Horváth" ein außergewöhnliches Erlebnis macht.