Diesmal sollte alles anders werden. Keine Balkonbilder, kein Getwittere, keine Interviews, dafür ernste Verhandlungen. Die Skepsis beim Wahlvolk nimmt zu. Die Ablehnung einer neuen GroKo ebenso.
Das warnende Beispiel ist noch frisch im Gedächtnis, obwohl es bereits einige Jährchen zurückliegt. Ältere Journalistenkollegen erinnern derzeit immer öfter an das Ergebnis der Verhandlungen zur ersten Großen Koalition 2005. Der damalige SPD-Chef Franz Müntefering hatte vor den Verhandlungen kategorisch die Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgeschlossen, das sei mit ihm nicht zu machen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte zuvor im Wahlkampf eine Erhöhung um zwei Prozentpunkte gefordert. Folgerichtig nach landläufiger Vorstellung hätte ein Kompromiss bei einer Erhöhung von damals 16 auf 17 Prozent liegen müssen. Weit gefehlt, raus kamen bekanntlich 19 Prozent, frei nach dem Motto: Null plus zwei macht drei. Die großen Verhandler Merkel und Müntefering erklärten diesen Drei-Punkte-Sprung mit den großen finanziellen Anforderungen des gerade geschlossenen Koalitionsvertrages.
Am Ende geht es nur um einen neuen Namen
Ähnlich liefen auch die Verhandlungen zur Großen Koalition vor gut vier Jahren. Der damalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hatte einen Umbau der Steuersätze zugunsten der unteren Lohngruppen angekündigt, doch davon ist bei denen bis heute nichts angekommen – auch wenn man sich damals im Koalitionsvertrag darauf geeinigt hatte. Der Trick: wortreich viele Papierseiten mit Ankündigungen vollschreiben und diese dann am Schluss, sozusagen im Kleingedruckten, unter „Haushaltsvorbehalt“ stellen. Auf Deutsch: Der Finanzminister hat das letzte Wort. Und Wolfgang Schäuble war in den vergangenen vier Jahren mit seiner schwarzen Null beschäftig, da gab es kein Raum für Steuersenkungen.
Das betrifft aber nicht nur die SPD. Auch in der Union ist man ohne mit der Wimper zu zucken zu Kompromissen in der Lage bei Themen, die CDU/CSU zuvor absolut ausgeschlossen haben. Der Mindestlohn ist so ein wunderbares Beispiel, das die gerade verabschiedete Arbeitsministerin Andrea Nahles für sich verbuchen konnte. CDU-Chefin Angela Merkel erklärte ihren politischen Freunden das plötzliche Einknicken mit der Umsetzung von EU-Richtlinien, die sonst eine Klage hätten nach sich ziehen können. In Brüssel wusste davon niemand etwas.
In dieser Sondierungswoche standen als vermeintlich offene Streitpunkte unter anderem die Bürgerversicherung und die Flüchtlingsobergrenze an. Letztlich ist alles nur eine Frage der Formulierung. So hat man beim Familiennachzug für minderjährige Flüchtlinge eine Wunderformel gefunden: die Härtefallregelung. Wer auch nur ansatzweise juristisch beschlagen ist weiß, dass eine solche Härtefallregelung einige laufende Meter von Leitz-Ordnern mit Verordnungen und Amtsausführungsbestimmungen füllen kann. Doch die Großkoalitionäre wollen dies in zwei Absätzen in ihrem Vertrag abhandeln. Das bedeutet nachher in Gesetze gegossen, dass sich wohl die ohnehin überlasteten Verwaltungsgerichte Jahre beschäftigen müssen, um zu klären, was und wer denn nun tatsächlich unter diese Härtefallregelung fällt. Doch genau das ist bei Koalitionsverhandlungen egal. Wichtig ist, dass man das symbolträchtige Streitthema entschärft bekommt. Im Koalitionsvertrag wird diese Regelung dann so verschwurbelt erklärt, dass anschließend die Parteioberen von Union und SPD ihrem jeweiligen Parteivolk damit alles erklären können. Jeder sieht seine Position klar durchgesetzt, der Parteitag applaudiert euphorisch, und der Punkt ist damit abgehakt. Selbst ein Tierschutzverein würde behaupten können, mit der Härtefallregelung könne auch der Nachzug von Nilpferden geregelt werden.
Doch die politische Aufgabe ist nicht gelöst, die dringenden Fragen sind nicht beantwortet, es trifft nicht einmal das Wort ‚verschlimmbessert‘ zu. Dass die betroffenen Menschen in Ungewissheit leben, wird billigend in Kauf genommen.
Ähnlich dürfte es auch bei der Regelung der Obergrenze für Flüchtlinge sein. Die CSU will sie unbedingt, sie wird sie unter einem neuen Wortungetüm bekommen. Doch geregelt wird damit gar nichts werden. Kann auch gar nicht, dazu müsste das Grundgesetz geändert werden. Doch im Herbst sind Landtagswahlen in Bayern, und dann kann die CSU nach eigenem Verständnis nur mit der Obergrenze antreten.
In solchen Fällen können sich die Verfassungsrichter in Karlsruhe auf einige Überstunden einstellen, denn sie werden ordentlich was zu tun kriegen. Doch die sind es leid. Seit fast zwei Jahrzehnten haben sich die Präsidenten des höchsten deutschen Gerichts bitter darüber beklagt, dass sie schlussendlich die in Mondsprache gehaltenen Kompromisse der Politiker immer ausbaden müssen. Denn aus Koalitionsverträgen werden später Gesetzte und Verordnungen, und die landen immer häufiger auf ihrem Tisch.
Jeder bekommt seine „Light“-Version
Teils, weil sie handwerklich schlecht gemacht sind. Teils, weil sie bewusst so angelegt sind, dass Karlsruhe in die Rolle des Entscheiders gedrängt wird, wo sich die Politik nicht zu einer klaren Entscheidung durchringen konnte.
Ein weiterer juristischer Spaß dürfte auch die Bürgerversicherung werden, die die SPD unbedingt will. Auch hier steht es zu vermuten, dass man sich auf ein nettes Wort einigt, hinter dem sich dann eine Art Bürgerversicherung light verbirgt. Und vermutlich auch wieder zur Befassung von Bundesversicherungsamt, Bundesverwaltungsgericht, dem Finanzgerichtshof und vermutlich auch wieder der Verfassungsrichter in Karlsruhe führt. Nicht zu vergessen die Richter am Bundesgerichtshof, die über Jahre versuchen werden, die jeweiligen Zuständigkeiten zu regeln.
Doch das interessiert bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen zur GroKo und dann noch unter enormen Druck, erfolgreich zu sein, niemanden. Also wird gemurkst, was das Zeug hält, es muss praktischen keinen Sinn machen, Hauptsache, dem jeweiligen Parteivolk ist es zu verkaufen.
SPD-Chef Martin Schulz soll im Vorfeld zum GroKo-Projekt gesagt haben: „Wenn das schief geht, ist meine politische Karriere zu Ende“. Darauf soll CSU-Chef Horst Seehofer geantwortet haben: „Nicht nur Deine“. Das werden die beiden zu verhindern wissen.