Flandern, das ist für viele vor allem Brügge, Gent und Antwerpen in Belgien. Doch es gibt auch einen niederländischen Teil – Seeländisch-Flandern. Heimat des „Fliegenden Holländers“, Geburtsstätte des Matjesherings und Fundstätte für Millionen Jahre alte Fossilien.
Es ist absolut windstill, kein Lüftchen regt sich an diesem Tag. Daran kann es also nicht liegen, dass die Menschen in Cadzand so seltsam laufen: das Haupt gesenkt, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, den Blick stur auf den Boden gerichtet – so schleichen sie den Strand des niederländischen Ferienortes entlang, manche von ihnen über Stunden. Bis wieder einer aufschreit: „Ich hab‘ einen!“
Die Suche nach Haifischzähnen gehört in Cadzand einfach dazu. Nirgendwo in Europa werden so viele fossile Überreste von Meerestieren angeschwemmt wie an der Nordseeküste von Seeländisch-Flandern. Sie sind mehrere Millionen Jahre alt und stammen aus einer Zeit, als dieser Teil der Niederlande noch vom Meer bedeckt war. Einst tummelten sich in dieser Region nicht nur Haie, sondern auch Rochen, Wale und Drachenfische. Als die Tiere starben, sanken sie auf den Meeresgrund, wo die Haifischzähne dann versteinerten und mit der Zeit ihre typische schwarzgraue Färbung bekamen – das „schwarze Gold von Cadzand“. Heute sind die Zähne ein beliebtes Mitbringsel. Wer bei der Suche kein Glück hatte, kann sich sein Exemplar im Muschelladen „De Schelpenwinkel“ auch kaufen – oder er greift gleich zur Schokoladen-Version, die vielerorts ebenfalls erhältlich ist.
Viel zu bieten bei wenig Trubel
Die Sache mit den Haifischzähnen ist nicht die einzige Überraschung, die sich in Seeländisch-Flandern bietet. Nur die wenigsten dürften mit der Region überhaupt etwas anfangen können. Denn bei Flandern denken viele eher an Brügge, Gent oder Antwerpen. Die drei flämischen Schwestern sind weltberühmt, vor allem Brügge, aber auch oft ziemlich überlaufen. Seeländisch-Flandern (oder auf Holländisch: Zeeuws-Vlaanderen), der niederländische Teil von Flandern, ist dagegen immer noch ein Geheimtipp. Dabei bietet der südlichste Teil der Provinz Seeland alles, was auch auf der belgischen Seite zu haben ist, bloß eben mit weniger Trubel: malerische Städte, herrliche Strände und schmackhaftes Essen, vom exzellenten Bier ganz zu schweigen.
Vor allem an der Küste kommt frischer Fisch in allen Variationen auf den Tisch. Der kleine Ort Philippine etwa hat zwar nur 2.200 Einwohner, dafür aber acht Muschelrestaurants, und das nahegelegene Terneuzen ist die Geburtsstätte des Matjes. Dort hatte Willem Beukelzoon Ende des 14. Jahrhunderts die geniale Idee, fangfrischen Hering in Salzlake einzulegen, um ihn auf diese Weise länger haltbar zu machen. Fortan konnte der Fisch über längere Strecken transportiert werden, ohne schlecht zu werden. Hering wurde zur Haupthandelsware der Hanse und der norddeutsche Städtebund damit sehr reich – auch dank der Erfindung eines Niederländers.
Terneuzen hat jedoch nicht nur kulinarisch Geschichte geschrieben. Die Stadt rühmt sich außerdem damit, der Heimatort des „Fliegenden Holländers“ zu sein – jenes Kapitäns also, der durch einen Fluch dazu verdammt worden ist, bis zum jüngsten Tag mit seinem Gespensterschiff auf dem Meer umherzuirren. Es gibt mehr als eine Version dieser Erzählung, doch in der von Frederick Marryats aus dem Jahr 1839 stammt Kapitän Vanderdecken eben aus Terneuzen. Ein Denkmal im Stadtzentrum erinnert an das sagenumwobene Segelschiff, während nur einen Steinwurf entfernt die maritime Gegenwart in Form riesiger Containerschiffe und Frachter vorüberzieht. Alle Schiffe, die zum Hafen nach Gent wollen, müssen die Schleusen von Terneuzen passieren, das sogenannte Tor nach Flandern. Im interaktiven Hafeninformationszentrum lässt sich das Geschehen im drittgrößten Seehafen der Niederlande hautnah verfolgen.
Überhaupt ist die Küste von Seeländisch-Flandern der richtige Ort, wenn man auf mächtige Pötte steht. Kaum irgendwo sonst auf der Welt fahren so große Schiffe so dicht an der Küste vorbei wie auf dem Meeresarm der Westerschelde. Mit der „Ship-Spotter“-App lässt sich auch vom Ufer aus ganz leicht herausfinden, welches Schiff dort gerade fährt, wo es herkommt und welchen Hafen es als nächstes ansteuert.
Erst seit 2003 ist die Region durch den mautpflichtigen Westerscheldetunnel mit dem Rest des Landes verbunden. Mit 6,6 Kilometern ist er der längste Straßentunnel der Niederlande. Davor waren Fähren die einzige Verbindung nach Seeländisch-Flandern gewesen, wenn man nicht die südliche Route über Belgien nehmen wollte. Historisch gesehen ist Seeländisch-Flandern auch kein Teil der Provinz Seeland, sondern gehörte über Jahrhunderte zur Grafschaft Flandern. Erst im Achtzigjährigen Krieg von 1568 bis 1648, in dem die Niederlande ihre Unabhängigkeit von der spanischen Krone erkämpften, wurde die Region holländisch.
Richtig große Pötte passieren die Küste
Bis heute erinnern an vielen Orten Festungsanlagen an den Frontverlauf, besonders eindrucksvoll zum Beispiel in Hulst – der Stadt von Reineke Fuchs. Dort sind noch insgesamt drei Kilometer der Stadtmauer sowie mehrere vorgelagerte Forts vorhanden. Beim Festungsfest im August vermitteln Darsteller in den Kostümen des 16. Jahrhunderts einen Eindruck der damaligen Zeit. Die Geschichte der Bollwerke, Bunker und Befestigungsanlagen des Spanisch-Niederländischen Krieges dokumentiert ansonsten auch das Museum „Het Bolwerk“ in Ijzendijke. Das Dorf mit seiner weithin sichtbaren Windmühle ist einen Abstecher wert – vor allem wenn man die Gelegenheit bekommt, eine Partie „Krulbollen“ mitzuerleben. Ijzendijke ist einer der wenigen Orte, wo diese seeländische Sportart noch ausgeübt wird, bei der flache, runde Scheiben über eine Bahn in Richtung eines Pfostens geworfen werden. „Krulbollen“ war früher weit verbreitet und steht inzwischen sogar auf der Liste des immateriellen Kulturerbes.
Auch in Sluis tobte der Achtzigjährige Krieg, später spielte der Zweite Weltkrieg der Stadt übel mit. Dennoch ist es ein sehenswertes Städtchen geblieben. Das Rathaus hat als einziges in den Niederlanden einen Belfried – jenen hohen, schlanken Glockenturm, der besonders für die flämischen Städte in Belgien so typisch ist. Von oben bietet sich eine phänomenale Aussicht über die Stadt und das nahegelegene Naturschutzgebiet „Het Zwin“ – Heimat zahlreicher Vogelarten. Es sind die Reste der einstigen Zwin-Bucht, die im 16. Jahrhundert versandet war und sich ehemals bis Sluis erstreckte, das früher ein wichtiger Vorhafen von Brügge war.
Bis heute zeugen der historische Ratssaal und das mit kostbaren Goldledertapeten, Stadtansichten und antiken Möbeln ausgestattete Bürgermeisterzimmer im Rathaus vom einstigen Reichtum der Stadt. Unweit davon hat vor Kurzem das Museum „Bizarium“ eröffnet. Ein herrlich-verrückter Ort der bizarren Erfindungen: vom fliegenden Fahrrad bis zum Haarwuchshelm.
Sluis gilt auch als die Einkaufsstadt in Seeländisch-Flandern. Sämtliche Geschäfte haben auch sonntags und an Feiertagen geöffnet. In Oostburg kann man ebenfalls gut shoppen. Das Symbol der Stadt ist das Einhorn, von dem es heißt, dass es die Kraft und den Mut der Bevölkerung widerspiegelt. Ein echtes Exemplar wird man dort jedoch nicht finden. Es bleibt eben ein Fabelwesen. Ganz im Gegenteil zum holländischen Hai von Cadzand.