Bei der „Sartiglia“ verwandelt sich die sardische Stadt Oristano in eine Bühne für couragierte Reiter in opulenten Kostümen auf üppig geschmückten Pferden. Das mehrtägige Fest blickt auf eine jahrhundertealte Tradition zurück und soll, so die Legende, für eine gute Ernte sorgen.
Der Klang der Trompeten schwillt an, Trommelwirbel schallen ohrenbetäubend. In Tracht gekleidete Frauen präsentieren das weite, weiße Baumwollhemd: Schaut her! Dies ist das Hemd, das „Su Componidori“ tragen wird! Die Geräuschkulisse während der Ankleideprozedur des wichtigsten Mannes der Sartiglia ist ohrenbetäubend. Die Frauen ziehen ihm auf der Bühne das gestärkte Hemd über. Holen Nadel und Faden hervor, nähen ihn in sein Festgewand ein. Legen Gesichtsmaske und Schleier an, setzen ihm den Zylinder auf. Die „Vestizione“, die Ankleide-Zeremonie, ist einer der Höhepunkte bei der Vorbereitung auf die Reiterspiele in Oristano.
Sie ist auch für die 200 Zuschauer in der Halle ein besonderer Moment. Sie sehen dabei zu, wie aus Sergio Ledda, einem Barista, Reiter und angesehenem Bürger der kleinen, westsardischen Stadt, eine anonyme, überhöhte Figur wird. Trägt er schließlich die braune, androgyne Maske und hält die „Pippia de Maju“, den Strauß aus Märzveilchen, in der Hand, ist die rituelle Verwandlung in „Su Componidori“ vollzogen. Er ist der Zeremonienmeister bei den Pferderennen. 120 der geschicktesten und verwegensten Reiterinnen und Reiter jagen dabei über die 500 Meter lange Strecke an der Via Duomo. Sie müssen mit ihrem Schwert einen lediglich melonengroßen silbernen Stern, der an einem Band über der Straße hängt, im vollen Galopp aufspießen. Nur wenn der auf dem Schwert bleibt, zählt der Treffer. Je mehr Sterne geholt werden, desto besser fällt die nächste Ernte aus.
So sagt es die Legende und so will es der Brauch bei der Sartiglia, die sich aus mittelalterlichen Reiterspielen entwickelte. Die ursprünglich militärischen Turniere waren im 14. Jahrhundert ausschließlich Rittern hohen Standes vorbehalten. Niederlagen nach Kriegen, Besatzung durch die Aragoneser, Legendenbildung, Rebellion des Volkes, Kostümierung und Reiterei führten schließlich zur Sartiglia, wie sie jedes Jahr zur Karnevalszeit in Oristano stattfindet. Frust und Langeweile, Standesdünkel, Aufmüpfigkeit, Bänkelsang, Geldvermächtnisse und Nervenkitzel trugen dazu bei, dass das Volk die Sartiglia übernahm und die Tradition bis heute lebendig ist. Das „Gremio dei Contadini“, die Bauern-Gilde, und das „Gremio dei Falegnami“, die Tischler-Gilde, organisieren zusammen mit der „Fondazione Sa Sartiglia“ und so ziemlich allen Einwohnern der Stadt dieses sechstägige Fest des Volkes.
Die Prozession zieht langsam zur Rennstrecke
„Ruhe. Bleibt auf euren Plätzen. Das Pferd darf nicht durchgehen. Klatscht nicht, macht keine Geräusche!“, lautet die Anweisung in der Halle. Kein Fotograf rennt mehr herum, kein Kind wagt es, mit den Füßen zu scharren. Ein Pferd wird hineingeführt. Stille. „Su Componidori“ steigt von der Bühne direkt auf seinen Braunen und nimmt sein „Zepter“ aus Veilchen entgegen. Er wird den Boden mit seinen Füßen den ganzen Tag lang nicht mehr berühren – der Zeremonienmeister bleibt im wahrsten Sinne des Wortes überhöht. „Su Componidori“ legt sich beinah waagerecht auf den Pferderücken und reitet durch das niedrige Hallentor ins Freie. Jubel, Applaus! Der erste Blick auf „Su Componidori“!
Gruppen von Reitern auf ihren geschmückten Pferden haben sich bereits aufgestellt; immer drei gleich gekleidete und maskierte Personen. „Su Componidori“ „segnet“ mit seinem Strauß die Wartenden, nachdem er mit „Su Segundu Cumpoi“ und „Su Terzu Cumpoi“, seinem „zweiten“ und „dritten Mann“, zusammengetroffen ist. Sie assistieren ihm den ganzen Tag. Die Prozession zieht langsam zur Rennstrecke nahe dem Dom. Nachdem „Su Componidori“ und „Su Segundu Cumpoi“ rituell die Schwerter gekreuzt haben, ist die Sartiglia offiziell eröffnet. Entlang der Via Duomo drängen sich die Zuschauer, der Platz für Tribünen ist am Rande der Altstadt knapp, die Bürgersteige hinter der Absperrung sind schmal. Alle fiebern mit, wenn das Rennen beginnt. Nicht wenige kennen den einen oder die andere Reiterin. Ja, auch zehn Reiterinnen sind in beiden Gilden dabei.
Das war nicht immer selbstverständlich. Selbst einen weiblichen „Componidori“ habe es, allerdings erst einmal in den 70er-Jahren, gegeben, weiß Giovanni Contini, der Vater unseres Fotografen. Wer reiten kann und keine Furcht kennt, will natürlich beim „Corsa alle Stelle“ mittun, Ruhm und Ehre der eigenen Gilde und der Stadt mehren. Oder bei den „Pariglie“, den waghalsigen Kunstreitereien, Teil eines menschlichen Turms auf dem Rücken seines Pferdes sein. „Su Componidori“ hat dabei immer die Oberhoheit: Er trifft vor Ort die Entscheidung, wer zu den Rennen oder bei den „Pariglie“ antreten darf.
Giovanni Contini ist das wandelnde Gedächtnis der Sartiglia und erklärt uns die Historie der Reiterspiele vom 14. Jahrhundert bis zur Jetztzeit. Das ist wortwörtlich ein Ritt durch die Geschichte Sardiniens während der Cena, dem großen Abendessen im Familienkreis. In so ziemlich allen Sprachen der Welt, mit Improvisation und viel Gestikulieren. „Du kannst ruhig Spanisch sprechen“, sagt er zu mir. „Ich habe es mir beigebracht, um die Archiv-Texte aus der Zeit der Aragoneser besser zu verstehen.“ Wer in der Stadt lebt, ist Teil der Sartiglia. Jeder trägt seinen Teil dazu bei, die Tradition lebendig zu erhalten und fortzuschreiben. Sei es beim Sichern der Strecke oder bei der Organisation der verschiedenen Programmpunkte in den sechs Fest-Tagen.
„Zippole“-Gebäck und Vernaccia zur Stärkung
Wer andernorts lebt, nutzt die Tage, um Familie und Freunde zu besuchen und die Sartiglia mitzuerleben, so wie Fotograf Emmanuele Contini. Und noch einige Freunde nach Sardinien mitzubringen und sie für seine Heimat zu begeistern. Die Pension „Eleonora“, benannt nach der Regentin Eleonora d’Arborea aus dem 14. Jahrhundert, ist beinah ausgebucht. „Heimkehrer“ und einige wenige Vorfrühlingstouristen wie wir haben sich in dem „Bed & Breakfast“ in dem alten Stadtpalast niedergelassen. Die Regentin wacht in Sichtweite als überlebensgroße Statue auf der nach ihr benannten Piazza am Tag über die Feiernden und nachts über uns in unseren Betten. Eleonora ist Volksheldin. Sie befreite beinah die ganze Insel von den Aragonesern. Sie etablierte überdies 1392 die Carta de Lógu, einen Gesetzeskodex, der bis zur Regentschaft von König Carlo Felice 1827 gültig blieb.
Es ist kurz nach 14 Uhr. Die Via Dumo bebt, „Su Componidori“ prescht als erster Reiter heran, Schwert voraus. Kollektives Luftanhalten, nur das Donnern der Hufe ist zu hören. Dann ein Seufzer. „Su Componidori“ hat es nicht geschafft, der Stern schaukelt an seinem Band weiter. Das kleine Loch in der Mitte zu treffen, erfordert große Geschicklichkeit und nicht weniger Glück. Schafft es ein Reiter, ist der Jubel umso größer. Der Stern muss gleich wieder an ein Mitglied des Organisationskomitees abgegeben werden. Immer dasselbe Exemplar wird wieder angehängt und von einem Jungen im Baum direkt neben der Strecke hochgezogen. Eine besondere Ehre für den Auserwählten! Neben uns feuert ein in Sartiglia-T-Shirts gekleideter „Fanclub“ zu einem Schluck Vernaccia aus dem Pappbecher und zur Melodie von „Guantanamera“ die Reiter mit dem Fangesang „Uno di noi“, „Einer von uns“, an. Das hilft: Am Sonntag stechen die Reiterinnen und Reiter 24 Sterne für die Bauern-Gilde; am Dienstag 20 für die der Tischler. Auch wenn die Rennen beider Gilden offiziell getrennte Veranstaltungen und die Reiter Konkurrenten sind, gilt doch: Je mehr Sterne insgesamt geholt werden, desto besser fällt die Ernte für alle aus.
Die Sartiglia ist eine körperliche Erfahrung – für die Reiter, die Helfer und die Zuschauer gleichermaßen. Dennoch ist die Stimmung trotz des Trubels grundsätzlich entspannt. Selbst in den vollen Sträßchen und auf den Plätzen findet jeder seinen Weg. Ältere Herrschaften oder Menschen mit Kinderwagen werden durchgelassen. Wer sich während der Rennen stärken will oder menschliche Bedürfnisse verspürt, darf die Strecke in ruhigen Phasen queren. Die Ordner öffnen kurz die Sperren. Für gutes Essen und Trinken ist schließlich immer Zeit! Etwa für eine Tüte frittierte Meeresfrüchte, „Zippole“, die zu Karneval frisch in Öl ausgebackenen Hefekringel, für einen sardischen Wein oder ein „Ichnusa“-Bier. Sonne und Temperaturen um die 16 Grad machen es leicht und angenehm, den ganzen Tag draußen zu verbringen.
Nur beim Umzug von Pferden, Reitern und Zuschauern zu den „Pariglie“ auf der Via Giuseppe Mazzini, auf der anderen Seite der Altstadt, sind wir nicht schnell genug. Die engen Straßen sind bereits zu voll; an den Pferden drängelt sich lieber niemand vorbei. Das macht aber nichts. Denn die Sartiglia ist trotz ihrer jahrhundertealten Tradition ein höchst gegenwärtiges Fest. „Su Componidori“ setzt zwar keinen Fuß auf den Boden, nutzt aber selbstverständlich – trotz der höchst analogen Fanfaren-Signale, die vor dem Start der Reiter entlang der Rennstrecke „weitergereicht“ werden – sein Smartphone, um Informationen durchzufunken. Wir wiederum stellen uns einfach vor den riesigen LED-Monitor an der Piazza Roma und schauen den verwegenen Reitern bei den „Pariglie“ vom Torre di Mariano II aus im Live-Stream zu. Bei Musik auf der Bühne, Wein und einer gegrillten Salciccia haben wir bei bester Stimmung freie Sicht auf das Geschehen und verbringen einen höchst vergnüglichen Abend.