Jeder zweite Mensch ist Stadtbewohner. Bis 2050 sollen es laut den Vereinten Nationen 70 Prozent sein. Das Stadtleben aber stresst und macht Menschen öfter krank, sagt der Mediziner und Buchautor Mazda Adli und erklärt, wie eine Stadt aussehen muss, die guttut.
Herr Dr. Adli, Sie sagen, Städte machen die Menschen öfter krank als das Land. Warum?
Warum das so ist, ist bisher nicht ganz klar. Wir wissen nur, dass es erhebliche Unterschiede zwischen Stadt und Land gibt, was das Risiko bestimmter psychischer Krankheiten angeht. Die Depression zum Beispiel kommt etwa 1,4-fach so häufig vor bei Stadtbewohnern. Auch Angsterkrankungen sind häufiger, und ganz besonders gilt es für die Schizophrenie. Eine schizophrene Erkrankung ist doppelt so wahrscheinlich, wenn man in der Stadt lebt, und für Menschen, die in der Stadt aufgewachsen sind, ist das Risiko dreifach erhöht.
Wie erklären Sie sich das?
Wir gehen davon aus, dass es mit Stress zu tun hat – genauer gesagt: mit sozialem Stress. Sozialer Stress entsteht im Zusammenleben von Menschen. Dabei spielen zwei Faktoren eine große Rolle: hohe soziale Dichte und soziale Isolation. Wenn beide gleichzeitig auf einen Menschen einwirken, ist das problematisch. Besonders dann, wenn das Gefühl von Unkontrollierbarkeit hinzukommt, man sich seiner Umwelt ausgeliefert fühlt und sie als bedrohlich empfindet.
Das heißt, die Stadt stresst nicht alle Menschen gleichermaßen, sondern es gibt Menschen, die besonders anfällig sind?
Ja, also dass das Stadtleben und das Leben in der Großstadt mit Stress zu tun hat, das leuchtet sicher vielen ein. Jeder, der in der Stadt lebt, kennt den kleineren und größeren Alltagsstress wie überfüllte Bahnen oder lautes Gedränge. Das ist zwar nerviger Stress, aber er macht uns noch lange nicht krank. Krank macht uns der soziale Stress und insbesondere dann, wenn er chronisch ist und man keine wirksame Entlastung hat.
Aber die Stadt hat auch Vorteile. Was sehen Sie als besonders positive Faktoren?
Die Stadt hat natürlich eine ganze Reihe von Vorteilen, die viele von uns dorthin ziehen. Zum Beispiel die im Durchschnitt besseren Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, hohe kulturelle Vielfalt und eine bessere Gesundheitsversorgung. In der Regel gibt es in der Stadt auch bessere Chancen auf Wohlstand. Für die meisten Menschen überwiegen diese Vorteile, aber es gibt eben diejenigen, die sozialem Stress ausgesetzt sind, ohne Zugang zu den urbanen Vorteilen zu haben, das sind Risikopopulationen.
Können Sie genauer spezifizieren, wer zu diesen Risikopopulationen zählt?
Das sind vor allem Menschen, die einem höheren sozialen Isolationsrisiko ausgesetzt sind. Ältere Menschen etwa, deren Aktionsradius kleiner wird, weil sie nicht mehr so mobil sind, oder Menschen mit Migrationshintergrund, die eher soziale Ausschlusserfahrung machen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus der Charité Berlin findet bei türkischstämmigen Bewohnern der klassischen Arbeiterbezirke Wedding und Moabit, dass das Ausmaß der psychischen Belastung vor allem von der Armut in der Nachbarschaft abhängt und nicht von der eigenen finanziellen Situation. Wenn die Nachbarn arm sind, triggert das Abstiegsängste – und auch sie gehören zu den Ursachen für sozialen Stress. Die Studie ist auch ein Beispiel, das zeigt, wie sich bei einer urbanen Risikopopulation die negativen gesundheitsbeeinflussenden Variablen addieren und sie in der Folge unter größeren psychischen Beschwerden leidet.
Generell hängt die Frage, ob man in der Stadt oder auf dem Land lebt, oft auch von der Lebensphase ab. Viele Menschen ziehen dem Nachwuchs zuliebe aufs Land, damit die Kinder nicht in einem lauten und gefährlichen Umfeld aufwachsen müssen. In Ihrem Buch stellen Sie die These auf, dass aber gar nicht die Städte unsicherer würden, sondern die Eltern.
In der Tat gibt es viele besorgte Eltern, die auf mich zukommen und fragen, ob es besser ist, mit den Kindern auf das Land zu ziehen. Da gibt es eine spürbar gewachsene Unsicherheit. Ich kann aber die meisten beruhigen: Denn auch für die Kinder birgt die Stadt Vorteile, die in vielen Fällen die Nachteile überwiegen.
In der Stadt findet ein Kind viel einfacher Entfaltungs- oder Fördermöglichkeiten. Die Dichte an Fördermöglichkeiten ist in der Stadt im Durchschnitt viermal so hoch wie auf dem Land. Familien können meistens auch ihren Alltag in der Stadt besser organisieren, gerade wenn beide Eltern berufstätig sind, etwa weil die Wege kürzer sind. Zudem gibt es Stadtforscher, wie den berühmten US-Soziologen Richard Sennett, die der Meinung sind, dass Kinder in der Stadt viel leichter die Möglichkeit haben, zu demokratischen Bürgern heranzuwachsen. Das hängt damit zusammen, dass sie von Anfang an mit viel mehr kultureller Vielfalt und sozialer Diversität konfrontiert sind und darüber leichter Flexibilität, Toleranz und eine Sensibilität für Vielfalt bekommen.
Momentan hat man den Eindruck, das einfachere Leben, Trends wie Minimalismus, und das Land sind wieder höher im Kurs. Ist das Land denn die Lösung gegen Stress?
Nein. Die Lösung kann nicht sein, dass wir alle aufs Land ziehen. Wie ich schon sagte, die Stadt hat in erster Linie viele Vorteile. Deshalb gibt es die Städte ja auch, und deshalb wachsen sie. Die Zukunft unserer Welt ist eine urbane, dazu gibt es keine Alternative. Die Städte sind die wirtschaftlichen, die politischen und die kulturellen Zentren unserer Welt, und das wird auch so bleiben und zunehmen. Aber wir müssen uns gewahr sein, dass das Stadtleben mit Risiken einhergeht. Sozialer Stress kann zum Problem werden, wenn nicht ausreichend Raum für soziale Interaktion, für Unterstützungsprozesse, für das Miteinander der städtischen Bevölkerung existiert. Deswegen ist zum Beispiel wichtig, dass eine Stadt in ausreichendem Maße öffentliche Plätze bereithält, die sozialem Stress vorbeugen.
Okay, in der Stadt muss sich etwas tun, aber was ist mit dem Land?
Auf dem Land ist es auch nicht immer nur einfach. Mich haben viele Zuschriften von Menschen erreicht, die von der Stadt aufs Land gezogen sind und sich dort außerordentlich schwer tun, Kontakt zu einer ländlichen Gemeinschaft zu finden. Dorfgemeinschaften haben traditionell sehr starke Bande, die die Gesellschaften untereinander zusammenhalten. Sie sind aber oft nach außen nicht so durchlässig, und es ist schwerer, dort integriert zu werden.
Können Sie sagen, welche Menschen eher fürs Land beziehungsweise eher für die Stadt gemacht sind? Oder ist das zu pauschal?
Ich fürchte, das ist zu pauschal. Es gibt nicht die Landpersönlichkeit oder die Stadtpersönlichkeit. Es gibt eine interessante britische Studie, bei der man sich angeschaut hat, welche Menschen eher die Stadtzentren und welche die Stadtränder bevorzugen. Dabei kam heraus, dass Menschen, die offen für Neues sind, eher im Zentrum leben möchten, wohingegen Menschen, die eher etwas zwanghaft sind, für die vor allen Dingen Genauigkeit, Verlässlichkeit der Verhältnisse und Berechenbarkeit wichtig sind, sich eher an den Stadträndern wohlfühlen. Es zieht eher Menschen in die Stadt, die mit dem Gewimmel gut umgehen können und sich trotz Anonymität nicht einsam fühlen. Aber eine richtige, brauchbare Typologie gibt es nicht.
Sie haben auch für Ihr Buch Interviews mit verschiedenen Berufsgruppen geführt: Städteplaner, Mediziner, Bürgermeister, eine Geruchsforscherin war dabei.
Was ist Ihr Fazit, wie sieht die Stadt der Zukunft aus oder wie sollte sie aussehen?
Es gibt nicht die ideale Stadt der Zukunft. Sie ist dann gut für uns, wenn sie der Unterschiedlichkeit ihrer Bewohner gerecht wird, weil sie vielfältig ist. Es ist eine Stadt, die ihre Bewohner stimuliert, sie sich anzueignen. Eine Stadt, die stets etwas Unfertiges hat und bei der die Bewohner selbst entscheiden, wie sie einen Platz nutzen. Sodass etwa auf einem Platz nicht alles fest montiert ist, sondern Tische und Bänke verschiebbar sind, damit der Platz flexibel nutzbar ist.
Gleichzeitig sehen wir momentan, wie die Mieten in den Städten ansteigen und Platz zur Mangelware wird. Wie realistisch schätzen Sie Ihre Vision vor diesem Hintergrund ein?
Ich habe schon Sorge, weil ich sehe, dass öffentliche Plätze immer weniger werden, weil Mieten und Grund und Boden teurer werden. Die Stadt, die eigentlich allen gehört, wird zunehmend kommerzialisiert. Wir haben in Berlin zahlreiche Baubrachen nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt, die von Nachbarschaften genutzt werden. Das sind typisch informelle Plätze, die aber zunehmend verschwinden. Dadurch verödet die Stadt allmählich von innen nach außen. Eine Stadt ist aber nur dann gut, wenn sie uns stimuliert und Anlass bietet, vor die Tür zu treten. Sie ist dann ideal, wenn man möglichst viel Zeit vor der eignen Tür statt dahinter verbringt.
Nun sind Sie jemand, der sich mit der Wohnortfrage in besonderem Maße auseinandergesetzt hat. Warum haben Sie sich für das Leben in der Stadt entschieden, einer pulsierenden Metropole noch dazu, für Berlin?
Weil ich schon ein absoluter Großstadtbekenner bin. Daher ist auch mein Buch am Ende eine Liebeserklärung an die Großstadt. Ich habe mein Leben lang in Städten gelebt. Ich bin in Köln geboren und hatte das Glück, in vielen großen Städten aufzuwachsen und zu leben – in Teheran, in San Francisco, in Wien, jetzt in Berlin. Ich mag Berlin sehr, Berlin bietet aber auch viel Anlass, vor die Tür zu gehen.