Das Abfahrtsrennen der Skirennfahrer ist ein Highlight der Winterspiele. Mit Thomas Dreßen hat das deutsche Team ein heißes Eisen im Feuer.
Die Startzeiten für die alpinen Rennen bei den Winterspielen im südkoreanischen Pyeongchang sind zu deutscher Zeit mitten in der Nacht. Trotzdem sollten sich Fans den Wecker stellen, denn am 11. Februar ab 3 Uhr kämpft Ski-Ass Thomas Dreßen um den Sieg in der Abfahrt der Männer, die gemeinhin als Königsdisziplin gilt. Der 24-Jährige ist seit seinem sensationellen Sieg auf der Streif in Kitzbühel in aller Munde – und auf jedem Favoritenzettel. „Das lässt sich jetzt nicht wegdiskutieren“, sagt Bundestrainer Mathias Berthold, „wenn du Kitzbühel gewinnst, unmittelbar vor Olympia, dass du dann einer der Favoriten bist.“
Dreßen selbst sieht das etwas anders. „Für mich bin ich immer noch Außenseiter“, sagt der Mittenwalder, „Olympia ist noch mal eine andere Nummer.“ Doch so einfach ist das nicht. Mit dem plötzlichen Erfolg ist der Druck rasant gestiegen. Als Dreßen eine Woche nach seinem grandiosen Sieg auf der Streif beim letzten Abfahrtsrennen vor Olympia in Garmisch den siebten Rang belegte, musste er erklären, warum es diesmal nicht zum ersten Platz gereicht hatte. So schnell ändern sich die Zeiten. „Das Wichtigste für mich ist Konstanz, da kann ich mit einem siebten Platz schon zufrieden sein“, findet Dreßen. „Und die, die vor mir sind, sind ja keine Nasenbohrer.“
Das trifft vor allem auf den Schweizer Beat Feuz zu. Der Weltmeister hat in Wengen und Garmisch gewonnen, wurde in Kitzbühel nur knapp von Dreßen besiegt und fährt als Weltcupführender nach Südkorea. Auch die Norweger Aksel Lund Svindal und Kjetil Jansrud, der die Olympia-Generalprobe vor zwei Jahren in Pyeongchang gewann, sowie die Österreicher Matthias Mayer und Hannes Reichelt zählen zum Favoritenkreis.Auch der Italiener Dominik Paris will im Kampf um die Medaillen ein Wörtchen mitreden, ebenso Andreas Sander. Der Westfale war in Garmisch auf Siegkurs, ehe ihm kurz vor dem Ziel ein Fahrfehler unterlief und er am Ende nur Elfter wurde. „Wenn der Andi den Schnitzer nicht gemacht hätte“, glaubt Dreßen, „hätte er das Ding gewonnen.“
„Olympia ist eine andere Nummer“
Für Sander ist jedoch derzeit Dreßen das Maß der Dinge im deutschen Team. „Er ist uns um Längen voraus“, sagt der 28-Jährige über seinen vier Jahre jüngeren Teamkollegen. Dreßens Aufstieg vom Nobody zum Shootingstar dauerte nur 1:56,15 Minuten. In dieser Zeit raste der Bayer im schwierigen Rennen am Hahnenkamm hinunter und kürte sich zum ersten deutschen Sieger seit 39 Jahren. Dreßen galt schon lange als großes Talent, doch einen solchen Husarenritt hatte zum jetzigen Zeitpunkt keiner für möglich gehalten.
Dreßen widmete seinen famosen Sieg seinem Vater, der 2005 bei einem Seilbahnunglück ums Leben kam. Dreßen war damals elf Jahre alt, und beinahe hätte er danach alles hingeschmissen. Das Training sei ihm damals schwergefallen, gab er zu, „aber ich habe weitergemacht. Für ihn.“ Auch wegen dieser Geschichte ist Dreßen plötzlich in der Sport-Öffentlichkeit von hohem Interesse. Die „Bild“-Zeitungtaufte ihn zum „Streif-Giganten“, doch nicht nur die Medien rissen sich um den 100-Kilo-Koloss. Sponsorentermine, Ehrungen, Empfänge – Dreßen musste lernen, dass nach dem Erfolg die eigentliche Arbeit wartet. „Der Januar war schon anstrengend“, gibt er zu. Doch er nimmt die Anforderungen relativ gelassen, fast jedem Fan erfüllt er den Autogrammwunsch, fast alle Medien bekommen ihr Interview. Locker und entspannt ist Dreßen auch privat, er sei eher „ein Feier-Typ“. Dass er auch bei Olympia Grund zum Feiern hat, hofft der Deutsche Skiverband (DSV). Nach dem Olympia-Aus von Felix Neureuther und Stefan Luitz, die beide wegen eines Kreuzbandrisses nicht starten können, ruhen die Hoffnungen bei den Männern auf Dreßen.
Viel Druck für einen, dessen Name bis vor ein paar Wochen nur Insidern bekannt war. „Das ist ein armer Hund“, sagt Sepp Ferstl, der 1979 als lange Zeit letzter deutscher Skifahrer auf der Streif gewonnen hatte, „jetzt geht es erst richtig los für ihn. Aber weil er so locker ist, kann er das vielleicht verkraften.“
Auch Markus Wasmeier warnt: „Das ist für Thomas schon eine Herausforderung. Er muss zeigen: Hey, das war jetzt keine Eintagsfliege.“ Und das wird der Shootingstar tun, davon ist der Doppel-Olympiasieger von 1994 überzeugt. Dreßen strahle „so viel Ruhe aus“, auf der anderen Seite bringe er „extreme Leidenschaft mit, bei allem was er tut“. Die Kombination eines Champions.
Bei der Generalprobe auf der Olympiastrecke vor zwei Jahren belegte Dreßen allerdings „nur“ den 30. Platz. Die Piste, die vom Schweizer Bernhard Russi entworfen wurde, stößt auf ein geteiltes Echo. Sie sei „viel besser als gedacht“, sagt DSV-Athlet Sander. „Das ist eine würdige Olympia-Abfahrt.“ Nicht alle teilen diese Meinung. „Es ist nicht steil, da ist kein Gefälle“, kritisierte Marcel Hirscher, der Italiener Christof Innerhofer sprach gar von einer „langweiligen Abfahrt“ und meinte: „Ein bisschen mehr Action brauchen wir schon.“
„Nervenkitzel im Nirgendwo“
Es gibt zwar am obersten Hang eine steile Traverse und insgesamt vier große Sprünge, doch auf hohe Geschwindigkeiten kommen die Rennfahrer kaum. „Normalerweise fährt man 80 Prozent der Abfahrt über 100 km/h. Aber hier fährt man 70 Prozent von der Abfahrt unter 100 km/h“, sagt Innerhofer, der die allgemeine Entwicklung von Olympiastrecken beklagt: „Von 2006 bis 2022 hat und wird es nur eine schwierige Abfahrt geben, und vier leichte. Bei Olympia sollte eigentlich alles drin sein.“
Beim Anblick des Olympiaberges kommt ohnehin kaum Startfieber auf. Um ihn herum erheben sich nur bewaldete und vor allem schneefreie Hügel. Zumindest sollte der Kunstschnee nicht wegschmelzen, kalt genug ist es dort oben. Die Olympiarennen werden ein „Nervenkitzel im Nirgendwo“ sein, schrieb die „Neue Züricher Zeitung“.
Männer und Frauen werden ihre Rennen an verschiedenen Orten abhalten. Naturfreunde hatten um den Fortbestand eines 500 Jahre alten Waldes gekämpft, ein Kompromiss musste her. Um einige besonders wertvolle Bäume zu retten, wurde die Linie der Frauen aus den ursprünglichen Planungen gestrichen. Das hat eine Besonderheit zur Folge: In der ersten Woche fahren die Männer ihre Speed-Rennen in Jeongseon aus, die Frauen messen sich in den technischen Wettbewerben in der Skistation Yongpyong, wo zuletzt 2006 Weltcuprennen stattfanden. In der zweiten Woche ist es umgekehrt.
Bei den Frauen geht aus deutscher Sicht einzig Viktoria Rebensburg mit Medaillenchancen an den Start. Die 28-Jährige wertete ihren zweiten Platz beim Riesenslalom in Lenzerheide als „gutes Omen“, weil ihr der im Jahr 2010 schon einmal Glück gebracht hatte. Damals folgte im nächsten Rennen Olympiagold in Vancouver, und auch diesmal ist mit der Kreutherin zu rechnen. „Klar wäre es schön, eine Medaille mit nach Hause zu nehmen“, sagt Rebensburg. „Es ist cool zu wissen, dass ich schnell und voll dabei bin.“
Rebensburg, die während der Saison wegen einer Virusinfektion außer Gefecht gesetzt wurde, wird sich vor allem mit Seriensiegerin Mikaela Shiffrin (USA) messen müssen. Nach der enttäuschenden WM, die sie ohne die erhoffte Medaille beendet hatte, setzte sich Rebensburg im April mit ihrer Skifirma, dem Betreuerteam und dem neuen Damen-Trainer Jürgen Graller zusammen. Mit der Konsequenz: Rebensburg zog das Training merklich an und modifizierte das Material.
Vom DOSB wurde Rebensburg zu den fünf Kandidaten ernannt, die zur Wahl des deutschen Fahnenträgers bei der Olympia-Eröffnungsfeier standen. Sollte Dreßen nach dem Streif-Streich auch bei Olympia gewinnen, wäre er auf jeden Fall ein Fahnenträger-Kandidat für die Abschlussfeier.