Die Explosion des Gasometers der Stadt Neunkirchen erschütterte am 10. Februar 1933 nicht nur das Saargebiet. 68 Menschen starben, knapp 200 wurden schwer verletzt, 700 waren von einer auf die andere Sekunde obdachlos. Das Unglück löste eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft aus.
Der Industrieort Neunkirchen hatte sich im 19. Jahrhundert dank seiner Kohlengruben und der Eisenhütte zur zweitgrößten Stadt des Saarreviers entwickelt. Unter Leitung des Hüttenbesitzers Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg war das Eisenwerk zu einem Unternehmen mit Weltruf geworden, neben den Gruben der größte Arbeitgeber der Stadt. Eben hier ereignete sich zu Beginn des deutschen Schicksalsjahres 1933 ein Drama, das die 40.000 Einwohner zählende Stadt in die Schlagzeilen der Weltpresse brachte und den Menschen der Region Trauer und Leid bescherte.
Ausgangspunkt des Geschehens war der 1931 vom Neunkircher Eisenwerk in Betrieb genommene riesige neue Gastank in der damaligen Saarbrücker Straße. Infolge der Modernisierung der Koksanlage hatte in den 1920er-Jahren die Gasgewinnung beim Eisenwerk ausgeweitet werden können. Für das überschüssige Gas musste Absatz geschaffen werden.
Das Neunkircher Eisenwerk hatte deshalb großes Interesse an der Ferngasversorgung der saarländischen und pfälzischen Städte und beteiligte sich an der Ferngas-Gesellschaft Saar. Zur gleichmäßigen Versorgung der an das Ferngasnetz angeschlossenen Kommunen wie auch zum Druckausgleich in den Gasleitungen waren Gasometer erforderlich. Der neu installierte Gasbehälter in Neunkirchen maß etwa 50 Meter im Durchmesser und 72 Meter in der Höhe.
Explosion war 200 Kilometer weit zu hören
Der Riesenkoloss mit einem Fassungsvermögen von 120.000 Kubikmetern wurde mit seiner roten Farbe zum weithin sichtbaren Wahrzeichen der Stadt. In unmittelbarer Nähe dieses Ungetüms lebten mehr als 1.000 Menschen, meist Hüttenarbeiter und ihre Familien. Es war ein recht harmonisches Zusammenleben, in aller Bescheidenheit. Jeder kannte jeden, und es war eine Selbstverständlichkeit, dass man einander half, wenn Not am Mann war. Dann kam der 10. Februar 1933, ein milder, verregneter Freitag im Winter.
Im Berliner Sportpalast eröffnete Reichskanzler Adolf Hitler den Wahlkampf der NSDAP („Deutsches Volk, gib uns vier Jahre Zeit! Dann richte und urteile über uns!"). Im Kino konnte man Greta Garbo und Lilian Harvey bewundern. Radiohörer amüsierten sich über den Papagei, der „keine harten Eier" frisst. Und die örtliche „Saar- und Blies-Zeitung" tröstete mit der Meldung, trotz Wirtschaftskrise und Grippewelle fänden karnevalistische Unterhaltungsabende statt.
Die Familie des Schneidermeisters Braun in der Langenstrichstraße freute sich schon auf das Abendessen. Plötzlich gab es einen entsetzlichen Knall, eine Erschütterung und eine starke Druckwelle, die alle zu Boden riss. Dann von überall her Schreie und heulende Sirenen. So erinnert sich Frau B., damals ein siebenjähriges Mädchen. Wenige hundert Meter Luftlinie weiter war der Gasometer in die Luft geflogen.
Erst gab es eine riesige Stichflamme, dann eine ungeheuere Detonation, die noch 200 Kilometer weiter zu hören war, wie bei einem Erdbeben. Häuser wurden weggemäht, zerfetzte Menschen durch die Luft geschleudert, zentnerschwere Eisenteile suchten sich wie Geschosse ihre Bahn. Herabfallende Deckenteile verletzten Kaufhauskunden und Kinobesucher. Auf dem Hüttengelände brannte die Koksanlage, auch die Benzolanlage war gefährdet.
Nach dem Explosionsknall stürzten die Menschen entsetzt auf die Straße. Viele flohen aus Angst vor weiteren Explosionen in die Außenbezirke und die Wälder. Der Schreckensruf „Gas" ging von Mund zu Mund. In der Innenstadt waren die Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Trümmer, wohin das Auge blickte. Ziegel fielen von den Dächern, Schornsteine stürzten zusammen. Schon bald waren die ersten Rettungskräfte zur Stelle, Sanitätskolonnen und Feuerwehrleute von Eisenwerk, Stadt und Nachbarorten. Um 21 Uhr waren 600 Sanitäter im Einsatz. Den Rettern bot sich ein Bild des Grauens. Vom Gasometer war fast nichts mehr übrig, ein Güterwagen zu Nichts zerschlagen, die Werkstätten nur Trümmerhaufen. Ein Auto, das im Augenblick der Explosion vorbeifuhr, wurde auseinandergerissen, der Fahrer verstümmelt. Überlebende suchten in den Trümmern nach Angehörigen und ihrer Habe. Die ganze Innenstadt von Neunkirchen glich einer Trümmerlandschaft.
Ein Reporter fühlte sich an Verdun und die Schlachtstätten des Ersten Weltkrieges erinnert. Am nächsten Tag zeichneten sich die ganzen schrecklichen Ausmaße der Katastrophe ab: 68 Tote waren zu beklagen, darunter viele Frauen und Kinder. Hinzu kamen mehr als 190 Schwerverletzte. Kaum ein Haus im näheren Umkreis, in dem nicht Bewohner durch Glassplitter verletzt worden waren. Die Verletzten wurden in den umliegenden Krankenhäusern versorgt, die Todesopfer im Hinterzimmer eines Lokals aufgebahrt.
20.000 Trauergäste aus dem ganzen Reich
In den folgenden Tagen stand Neunkirchen im Mittelpunkt der Anteilnahme und des Interesses. Tausende von Neugierigen „aus Westdeutschland, Elsass-Lothringen und angrenzenden Gebieten" (so ein Lokalblatt) strömten am Sonntag vom Bahnhof zum Unglücksort und behinderten vielfach die Aufräumarbeiten. Kamera- und Reporterteams informierten sich vor Ort. Zeitungen, Radiosendungen und Wochenschauen bis in die Vereinigten Staaten widmeten sich dem folgenschweren Geschehen.
Im damals noch von einer Kommission des Genfer Völkerbunds regierten Saargebiet wehten an allen öffentlichen Gebäuden die Fahnen auf Halbmast. Ganz Deutschland nahm Anteil an dem tragischen Geschehen, Reichspräsident Hindenburg und Reichskanzler Hitler sprachen ihr Beileid aus. Auch aus Frankreich, Luxemburg, Belgien und anderen Staaten trafen Kondolenzbekundungen ein.
Von überallher kamen Spenden für die Opfer, die höchsten von Reichspräsident Hindenburg und der Stadt Saarbrücken (je 100.000 Franken), Reichsbahn und der Stadt Straßburg (je 10.000 Franken), Papst Pius XI. und der Hansestadt Bremen (je 5.000 Franken). Die Sachschäden wurden auf 80 Millionen Franken geschätzt. 65 Häuser waren komplett zerstört, 167 Familien mit an die 700 Personen obdachlos geworden. Sie fanden bei Verwandten oder in Notunterkünften eine vorläufige Bleibe.
Das Eisenwerk stellte den Unglücksgeschädigten eine Notküche und zur Beschaffung von Wäsche und Bekleidung eine Soforthilfe von 50.000 Franken bereit. In einer eindrucksvollen Trauerkundgebung, wie sie das Saargebiet noch nicht erlebt hatte, nahm die Bevölkerung am 14. Februar 1933 Abschied von den Toten. Unter den 20.000 Trauergästen sah man viel Prominenz, etwa Vizekanzler Franz von Papen, Mitglieder der saarländischen Regierungskommission und den französischen Arbeitsminister Joseph Paganon. Auch Hakenkreuzfahnen waren zu sehen.
Ein riesiger Trauerzug bewegte sich durch die Hüttenstadt, um die Toten auf dem Hauptfriedhof Scheib zur letzten Ruhe zu betten. Während der Trauerfeier ruhte im ganzen Saargebiet die Arbeit, ein Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls. Die Ursachen des Unglücks wurden nie restlos geklärt, Schuldige nicht ausgemacht. Wahrscheinlich hatte Funkenflug bei Reparaturarbeiten unbemerkt ausströmendes Gas entzündet.
Die Ursache ist bis heute ungeklärt
Die Eigentümer des Neunkircher Eisenwerks hoben nach der Katastrophe die Otto-Wolff-Stiftung mit einem Grundkapital von 200.000 Franken aus der Taufe. Deren Erträge waren für die Opfer und die Geschädigten des Unglücks bestimmt. Zuvor waren vom Werk schon Unterstützungsgelder in Höhe von 300.000 Franken an die Hüttenknappschaft geflossen. Für die obdachlos Gewordenen wurde auf Initiative von Gräfin Sierstorpff, der Tochter des Freiherrn von Stumm, neuer Wohnraum geschaffen, die sogenannte „Explosionssiedlung" am heutigen Storchenplatz.
Wolfgang Melnyk und Horst Schwenk haben dem „Inferno" ein Büchlein („Schreckenstage in Neunkirchen") gewidmet. Der Saarbrücker Schriftsteller Fritz Kühner schrieb ein Gedicht (1934): „Wo eben Werk und Häuser standen, sind wüste Trümmer noch vorhanden. / Was alles liebevoll umhegt, wie Spreu und Wind hinweggefegt. / Die dort gelebt, gewirket haben, / erschlagen, unter Schutt begraben / und rundum Fetzen von Metall / All!" Sechs Jahre nach dem Neunkircher „schwarzen Freitag" – das Saargebiet war inzwischen wieder nach Deutschland „heimgekehrt" – zettelte Adolf Hitler die Tragödie des Zweiten Weltkrieges an. Kühners Verse hätten auch nach einem der dann folgenden Bombenangriffe auf die Hüttenstadt entstanden sein können.