Mit dem aktuellen Programm „Grüß mir den Mond!" unternehmen Ulrich Tukur & die Rhythmus Boys ab dem 13. Februar eine Reise durch Deutschland – und ins mondbeschienene Herz der Musik. Sie interpretieren Lieder von Glenn Miller, Ilse Werner oder auch den Rolling Stones neu. Im Interview spricht Ulrich Tukur alias Ulrich Gerhard Scheurlen über sein Leben, seine Idole und seine Musik.
Herr Tukur, erstmals in der Geschichte der Rhythmus Boys gehen Sie auf Tour, ohne ein neues Album im Gepäck. Warum verzichten Sie darauf?
Etwas Haptisches auf eine Tournee mitzunehmen, das der Zuschauer als Erinnerung forttragen kann, ist immer gut. Auf der anderen Seite ist man aber erst nach der Erfahrung vieler Konzerte so richtig bereit für Aufnahmen; man weiß, was man tut und kann locker auf den Punkt spielen. Sollte das neue Programm einschlagen, können wir ja immer noch eine Schallplatte machen.
Das Format Album stirbt allmählich aus. Werden Sie es vermissen?
Natürlich. Alles, was Du aus der Wolke holst, verschwindet dort auch wieder. Nichts gehört Dir, nichts bleibt. Ich liebe Schallplatten. Ich habe neben viel Vinyl eine umfangreiche Schellackplattensammlung und besitze eine elektrische Musiktruhe, die nach 68 Jahren immer noch funktioniert. Wenn man sie nicht fallen lässt, hält so eine Schellackplatte gut 500 Jahre und könnte also noch neugierige Menschen oder Roboter in ferner Zukunft erfreuen.
Bedienen Sie sich aus diesem Fundus bei der Erarbeitung Ihrer Programme?
Ja, immer wieder. Es sind einige Platten darunter, die nie auf andere Tonträger überspielt wurden, die also echte Unikate sind. Viele dieser Schellacks habe ich mir in den USA während meiner Highschool-Zeit in den 70er-Jahren zusammengesammelt. Der Dover Country Store war vollgestopft mit alten Schallplatten und wunderbaren Alben, wie man sie von den 20er- bis zu den 50er-Jahren nur in Amerika kaufen konnte. Ich habe bestimmt einen Zentner Schellackplatten nach Deutschland zurückgeschickt, wobei die Hälfte leider zu Bruch ging. Uralte, zum Teil noch akustische Blues- und Jazzaufnahmen mit völlig vergessenen Orchestern.
Im Mittelpunkt Ihrer musikalischen Reise steht der Mond. Was fasziniert Sie an unserem Erdtrabanten?
Der Mond war über die Jahrhunderte immer eine Projektionsfläche für Sehnsüchte aller Art und spielt in Liedern und Gedichten eine große Rolle. Er verkörpert unsere andere, dunkle Seite und dominiert die abseitige, nächtliche Welt, die vom heiteren Licht der Sonne nicht berührt wird. Also soll auch unser Programm lunatisch werden, eine poetische Mischung aus Musik, Lyrik, Tanz, Mondlicht – und höherem Blödsinn.
Welche Komponisten sind diesmal dabei?
Natürlich Cole Porter, weil ich ihn liebe. Um seinen Song „Night and Day" kommen wir also nicht herum. Glenn Millers „Moonlight Serenade", „Le soleil et la lune" von Charles Trenet oder das zauberhafte „Moonglow". Die deutsche Chansonsängerin Eva Busch hat in den 30er-Jahren ein sehr seltsames Nachtlied gesungen, das „Nasse Lyrik" heißt und mit von der Partie ist. Von den Rolling Stones spielen wir „Let’s spend the night together", aber in der Fassung des Mick-Jagger-Quartetts von 1936.
Hat der Mond einen Einfluss auf Ihre Musik?
Nein. Wir haben einfach nach einem Thema für unsere neue Tour gesucht. Ich hatte für die Deutsche Grammophon vor Jahren die Platte „Mezzanotte" aufgenommen und dabei viel nächtliche Erfahrungen gesammelt. Dieses Programm saß leider erst richtig gut, als es sich dem Ende zuneigte. Der Fundus nächtlicher Lieder ist aber einfach zu groß und interessant, als dass man es mit einem Versuch gut sein lassen könnte.
Ist Ihre bevorzugte Arbeitszeit nachts?
Ich habe eine Vorliebe für die Nacht. Seit zwei Jahren sitze ich an einem Roman, den ich im Sommer fertigstellen muss. Ich dachte, ich mache das einfach so wie Thomas Mann. Der hat eisern von früh morgens bis mittags geschrieben. Aber das kann ich leider nicht, ich bin nicht Thomas Mann. Ich komme erst nach Mitternacht in Fahrt.
Welche Platte bescherte Ihnen Ihr musikalisches Erweckungserlebnis?
„A handful of keys" von Fats Waller, ein Klaviersolo aus dem Jahr 1929. Und Tommy Ladniers „Weary Blues". Ich war wie elektrisiert. Als Nächstes klaute ich mir eine Platte von Fletcher Henderson.
Damals gab es entweder die Beatles- oder die Rolling-Stones-Fraktion. Warum waren Sie ausgerechnet von der Jazz-Musik fasziniert?
Ich hörte das natürlich auch. War aber eher CCR-Fan, weil ich deren transparenten Garagensound mochte. Dann kriegte ich einen Packen Schellackplatten zur Konfirmation, und es war um mich geschehen. Allerdings konnte ich meine Begeisterung mit niemandem teilen, denn Jazz oder Tanzmusik spielte unter uns Jugendlichen einfach keine Rolle. Und meine Eltern hörten nur klassische Musik. Wir wohnten in Bissendorf im Norden von Hannover. Im Wald. Als wir wegzogen, baute sich Klaus Meine von den Scorpions direkt gegenüber gerade sein Haus. Einen Kilometer weiter wohnte mein Onkel Pascal, Jahrgang 1910. Er war emeritierter Mathematikprofessor der Hannover’schen Universität und als junger Mann Jazz- und Swing-begeistert.
Was hat er Ihnen beigebracht?
Er hat mir die Liebe zu den englischen Tanzorchestern beigebracht. Ich lernte zum Beispiel Jack Hylton kennen, der eins der besten und größten Showorchester Englands in den 20er- und 30er-Jahren leitete. Hylton gastierte immer wieder im Kuppelsaal der Stadthalle Hannover. Im windschiefen Haus meines Onkels stand ein alter Steinway-Flügel, auf dem dieser Lieder wie „Happy Days Are Here Again" spielte, und seine Schellackplatten ließ er auf einer Musiktruhe vom Typ Romanze mit Katzenauge laufen. Er sagte zu mir: „Hör Dir das mal an: Bei Jack Hylton ist kein Takt wie der andere, aber bei Eurer Scheißmusik wiederholt sich immer alles."
Für die Scorpions hingegen haben Sie sich nicht interessiert?
Ich fand ihre Musik gar nicht so schlecht, aber ich machte keine Luftsprünge wie bei Duke Ellington. Als Jugendlicher habe ich noch die Orchester von Benny Goodman, Duke Ellington und Lionel Hampton in Hannover live gesehen und mich nach einem Konzert mit Muddy Waters unterhalten.
Wie kam es dazu?
Muddy Waters spielte in Hannover in einem Jazzclub, und ich bin einfach in seine Garderobe reingegangen. Ich sagte zu ihm: „Mr. Waters, I admire you!" Er war sehr nett zu mir. Ich habe auch mit Lionel Hampton ein paar Worte gewechselt. Als ich schon in Tübingen studierte, hatte ich eine kleine Band, die „Floyd Floodlight Foyer Band" hieß. Wir traten irgendwann in Freiburg in einem Laden namens Dr. Flotte auf, wo ich zeitweilig auch als Kellner arbeitete. Im Gasthaus Löwen bekam man nachts um drei Uhr noch warmes Essen. Dort tranken wir unser Feierabendbier und aßen Schnitzel mit Spätzle und Soß. Und da saß eines Nachts plötzlich Lionel Hampton am Nebentisch! Als er aufstand, um zur Toilette zu gehen, lief er in eine Anrichte hinein. Er war nahezu blind. Ich habe ihn dann aufs stille Örtchen gebracht, und wir unterhielten uns auf dem langen Weg dorthin ein bisschen. Mein Gott, war ich aufgeregt. Diese Leute haben Musikgeschichte geschrieben und sind heute alle tot.
Wollten Sie damals Berufsmusiker werden?
Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was ich werden wollte. Ich studierte Germanistik, Anglistik und Geschichte, weil ich die deutsche und englische Sprache beherrschte und mich für Geschichte interessierte. Aber in Wirklichkeit war ich dem Elternhaus entkommen und habe das Leben in vollen Zügen genossen. Ich schloss wunderbare Freundschaften und war jeden Tag neu verliebt. Ich habe Straßenmusik gemacht, um etwas Geld zu verdienen. Unsere Auftritte auf dem Tübinger Marktplatz waren ein großer Erfolg, eine krude Mischung aus Straßentheater und Behelfsjazz. Ich bin nie angetreten, um Schauspieler oder Musiker zu werden. Es hat sich so ergeben.
Waren Sie damals vom wilden Sex, Drugs and Rock‘n‘Roll-Lifestyle angetrieben?
(lacht) As long as there is sex and drugs, who gives a shit about Rock‘n‘Roll? Der Stil und die Mode der 70er-Jahre sprachen mich überhaupt nicht an, aber es war doch eine sehr freie Zeit. Es gab kein Aids und man machte sich wenig Sorgen. Handys und Computer existierten noch nicht, man hatte viel Zeit und viele Freunde. Und wir haben es wirklich krachen lassen! Alles war ein endloser Studentenwitz, man hat nichts ernst genommen. Der Deutsche Herbst und die Angst vorm Atomkrieg spielten in meiner Erinnerung zwar eine Rolle, aber das hat uns nicht nachhaltig die Laune verdorben. Als der Beruf dann später daherkam und in meinem zweiten Engagement Peter Zadek in mein Leben trat, wurde es allerdings etwas ernster und anstrengender.
Wie haben Sie damals Amerika erlebt?
Ich war 1975 und 1976 auf einer Highschool in der Nähe von Boston. Amerika war ein liberales Land, es war eine Freude, dort zu sein, und ich hatte eine wunderbare, unbeschwerte Schulzeit. Ich habe dort so viel gelernt. Mit der unsäglichen Bush-Administration fing das Land an, sich zu ändern und hat sich in vielerlei Hinsicht heute in sein Gegenteil verkehrt: Schon die Einreise ist so bedrückend und unangenehm, wie es früher der Übergang nach Ostberlin oder in die DDR war. Und heute werden die USA, denen wir so viel zu verdanken haben, von einem Hologramm regiert. Doch nichts bleibt, wie es ist.
Fühlt sich Ihr Leben auch mit 60 Jahren noch leicht an?
Ich merke natürlich, dass die Luft dünner und die Zeit knapper wird. Wie viele meiner Freunde sind schon tot! Auch mein Vater ist letzten Oktober gestorben. Das ist alles nicht witzig, aber man läuft ja gewissermaßen auf zwei Schienen: Auf der einen ist man der Mensch, der weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Auf der anderen bleibt man der Unsterbliche im Hier und Jetzt und denkt nicht an gestern und morgen. Die Ängste kommen, aber sie gehen auch wieder. Traurig sein, ja. Aber der Angst keinen Fußbreit, sonst kommt man in Teufels Küche.
Wie funktioniert das?
Winston Churchill, der nicht nur ein kluger Mann, sondern auch ein begeisterter Hobbymaler war, hat in einem wunderbaren schmalen Bändchen über das Malen sinngemäß geschrieben: Wer Stress oder Lebensangst hat, solle sich keiner Psychotherapie unterziehen oder sein Heil in Massagen oder anderen Entspannungstechniken suchen, er werde sich immer weiter mit seinen Nöten beschäftigen. Man solle auf ein völlig anderes Feld ausweichen und etwas Kreatives tun, das das Hirn beschäftigt und Freude bereitet. Zum Beispiel ein Bild malen oder Musik machen, Schnitzen, Töpfern, egal. Nur so lockert sich der kalte Klammergriff der Angst, und die Seele kann sich entspannen.
In Ihrem letzten Programm erzählten Sie einen Witz über die großen Komponisten Irving Berlin und Cole Porter im Altersheim. Wann sollten Künstler in Rente gehen?
Solange man sich nicht im Kreise dreht und immer wieder Neuland betritt, darf man nicht aufhören. Wer zu früh und abrupt aufhört, wird schnell sterben. Alte Menschen mit all ihren Lebenserfahrungen, die wach im Kopf sind, müssen weitermachen. Ich liebe Alice und Ellen Kessler, die berühmten Zwillinge. Sie sind zauberhaft und lebensklug. Sie machen es richtig. Wer klug ist, weiß, wie viel er sich noch zumuten kann und wann Schluss ist. Der elegante Abgang ist das Meisterstück im Leben.
Können Sie sich vorstellen, Ihren Lebensabend in Venedig zu verbringen?
Nein. „Der Tod in Venedig" ist ein Buch von Thomas Mann. Wir werden vermutlich noch in diesem Jahr Venedig verlassen. Nach achtzehn Jahren. Alles hat seine Zeit.
Sind Sie Künstler geworden aus Opposition zu Ihrem bürgerlichen Elternhaus?
Ich habe zu Hause viel Blödsinn gemacht und diesen pedantisch geregelten schwäbischen Tagesablauf torpediert, wo ich nur konnte. Es war aber keine rohe Rebellion gegen das Elternhaus, denn ich durfte draußen ja machen, was ich wollte. Ich war zwölf Stunden am Tag an der frischen Luft und nachts habe ich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke die Bücher meines Großvaters gelesen, der Kunstmaler war. Ich hatte schon früh den Drang, dieses Erlebnis Leben in irgendeine Form zu bringen. Ich habe als Kind viel gemalt und gerne geschrieben. Ich erinnere mich an ein Gedicht über den Tod Friedrichs des Großen, darunter schrieb ich dann ganz stolz „Ulrich, sieben Jahre".
Was hat Sie an Friedrich dem Großen fasziniert?
Ich habe im Bücherschrank meines Großvaters eine Biografie über ihn gefunden und voller Begeisterung gelesen. Mich faszinierten Heldensagen, Schlachtenbeschreibungen und die bluttriefenden Balladen von Uhland und Schiller. Das war mein Kinderkino, und so etwas wollte ich später auch hinkriegen.
Von welcher Künstlerpersönlichkeit sind Sie heute noch fasziniert?
Ich bin ein großer Bewunderer Fritz Wunderlichs. Ich liebe und verehre schöne Stimmen, allen voran Tenöre. Wunderlich fand ein frühes, sinnloses Ende, als er erst 36-jährig eine Treppe hinunterstürzte und sich dabei einen tödlichen Schädelbruch zuzog. Wir anderen sind mehr oder weniger Hochstapler und haben es gelernt, uns nicht erwischen zu lassen. Es gibt aber Künstler, die sind von den Himmeln geküsst und machen etwas, das nicht zu fassen und zu verstehen ist. Bei Wunderlichs kristallklarer Stimme, die ohne den leisesten Bruch über zwei Oktaven lief, verstumme ich. Das ist göttlich und trägt ein tiefes Geheimnis in sich. Wie die Musik von Bach, die Holzfigur von Riemenschneider oder das Gemälde von Dürer.
Wo kommt die Musik her? Und wovon spricht sie eigentlich?
Musik ist der Klang des Weltalls. Wir produzieren Klänge, die mir wie Abspaltungen und Variationen eines Grundtons scheinen, der alles durchzieht. Vielleicht ist das etwas Göttliches. Ich weiß nicht, was der tiefere Sinn unserer Existenz ist, aber „es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt" sagt Hamlet zu Horatio. Musik läuft nicht über den Kopf, sie bewegt sich von Seele zu Seele, von Herz zu Herz, von Mensch zu Mensch.
Werden Sie auch in Ihrem neuen Programm wieder Witze machen?
Über den Mond gibt es leider nur wenig Witze. Da müssen wir halt tanzen, das ist blöd genug. Wir haben uns zwei Kamele gekauft und arbeiten an einer nächtlichen Karawanenchoreografie. Zu Duke Ellingtons „Caravan".
Was ist das Besondere an den Rhythmus Boys, mit denen Sie seit 21 Jahren regelmäßig auf Tour gehen?
Wir sind Freunde und haben viel zusammen erlebt. Mit dem Gitarristen Uli Mayer habe ich schon 1977 in Tübingen studiert und Musik gemacht, Günter Märtens ist so charmant und musikalisch wie baumlang und Kalle Mews, der als letzter dazukam, ein Bombenkomiker und begnadeter Schauspieler. Wir sind keine Profis und gewichten darum einen Abend auf der Bühne anders. Es geht um Spaß und Improvisation, um Leidenschaft für eine Musik und Unterhaltungskultur, die am Verschwinden ist. Ich bin sehr froh, wenn sich Menschen in Zeiten der digitalen Überfütterung noch die Mühe machen, eine Karte zu kaufen und in ein Konzert zu gehen. Da muss man geben, was man nur geben kann. Und dann fliegt der Abend!