Die Gegensätze der Geschlechter scheinen auf der Hand zu liegen. Wissenschaftler erforschen, was davon angeboren und wie viel anerzogen ist. Wie groß ist der „kleine Unterschied“ und wie wirkt er sich aus?
Mädchen können kein Mathe und Jungs spielen nicht mit Puppen. Soweit die Stereotypen. Wie viel ist dran am Unterschied zwischen den Geschlechtern? Zu welchen Teilen bestimmen Gene, Hormone und Erziehung die Interessen und das Verhalten von Jungen und Mädchen? Wie viel steht tatsächlich von Geburt an fest und wie viel prägt die Sozialisation?
Einige Wissenschaftler glauben, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ein komplexes Zusammenspiel von genetischer Veranlagung und den Einflüssen unserer Umwelt sind. Neben den eindeutigen körperlichen Merkmalen gibt es auch spezifische Verhaltensunterschiede bei Jungen und Mädchen, die sie bereits im Mutterleib zeigen. Andere Merkmale werden anerzogen – und auch hier können Eltern nur bedingt Einfluss nehmen.
Als angeboren wird etwa erachtet, dass Jungen im Mutterleib körperlich aktiver sind als Mädchen. Neugeborene Jungen betrachten eine abstrakte Abbildung mit größerer Aufmerksamkeit. Mädchen hingegen zeigen mehr Interesse an menschlichen Gesichtern. Später sind Jungen risikobewusster und körperbetonter, während kleine Mädchen in ihrer Feinmotorik und ihrer Sprachentwicklung gleichaltrigen Jungen meist voraus sind.
Aber auch die Erziehung darf nicht unterschätzt werden. In vielen Kindergärten werden Mädchen zum Basteln, Vorlesen und zum Spielen in der Puppenecke animiert. Die Jungs hingegen toben und spielen mit Autos. Auch im Einzelhandel, zum Beispiel bei Spielwaren und Kinderkleidung, wird noch immer stark geschlechtertypisch beraten. Nicht zuletzt legen Familie und Freunde, mit Bemerkungen wie „Das ist aber nichts für Mädchen“ oder mit dem nächsten Spielzeugbagger zum Geburtstag die Rollenklischees fest oder stärken sie.
Solche früh indizierten Unterschiede wirken sich ganz vielfältig aus. Die Unternehmensberaterin und Autorin Anke Domscheidt-Berg beklagt etwa, dass Frauen in der IT-Branche völlig unterrepräsentiert sind. Dafür sieht sie vor allem einen Grund: Die Gesellschaft sei noch immer stark von Stereotypen geprägt. So gebe es ein T-Shirt für Mädchen mit der Aufschrift „In Mathe bin ich Deko“, und auf den Physik-Baukästen, die man im Münchner Technik-Museum kaufen könne, stehe „Für Väter und ihre Söhne“. Solange das so sei, werde sich nicht viel ändern, so die IT-Kennerin. „Da wir ständig diese Botschaften senden, Mädchen und Mathe passen nicht zusammen, ist es eigentlich gar kein Wunder, dass sie, wenn sie älter sind, sich weniger damit befassen.“
Auch Psychologen haben untersucht, wie sich das Stereotyp „Frauen sind naturwissenschaftlich weniger begabt als Jungs“ auswirkt. Kanadische Forscher wollten herausfinden, inwiefern Frauen dieses Vorurteil verinnerlicht haben und sich in der Folge selber im Weg stehen, ähnliche Leistungen zu erbringen wie Männer. In einem Experiment teilten sie 220 Studentinnen in zwei Gruppen auf. Zu Beginn und am Ende des durchgeführten Tests stand jeweils eine sehr schwierige mathematische Aufgabe. Dazwischen war ein angeblich wissenschaftlicher Artikel eingeschoben:
„Bei der einen Gruppe hieß es, Männer sind aus genetischen Gründen besser als Frauen. Bei der anderen stand zu lesen, dass Männer besser sind, weil sie anders erzogen werden. Auf diesen Essay folgte dann die zweite mathematische Aufgabe“, erklärt Steven Heine von der Universität British Columbia.
Formbares, kindliches Gehirn
Das Fazit: Die Gruppe mit dem Text über eine genetisch bedingte Unfähigkeit schnitt um 50 Prozent schlechter ab. „Sie dachten an das Stereotyp, das nun mit einem Mal glaubwürdig erschien. Etwa: ‚Von meinen Genen her bin ich ja schlechter in Mathematik. Das erklärt, warum ich mich so plagen muss‘“, berichtet Heine. „Stereotype threat“, also „Bedrohung durch Stereotype“, nennen Psychologen dieses Phänomen. Die Macht von Stereotypen, so erklären sie, bestünde darin, dass deren Opfer sie für wahr hielten.
Auch für Männer können die gängigen Geschlechterklischees eine Bürde sein. So berichtet beispielsweise der ehemalige US-Football Spieler Lewis Howes in seinem Buch „The Mask of Maskulinity“ wie er jahrzehntelang von der Angst getrieben war, nicht männlich genug zu sein. Weil er nicht zart oder verletzlich sein wollte, trieb er sich zu sportlichen Höchstleistungen und überarbeitete sich später in seinem Geschäft. In seinem Buch identifiziert er verschiedene Vorstellungen der Gesellschaft, mit denen er sich konfrontiert sah, etwa ein Mann sollte athletisch und den anderen überlegen sein, er sollte keine Zeichen seelischer oder körperlicher Schmerzen zeigen oder er sollte für das materielle Wohl seiner Familie aufkommen.
Solche Vorstellungen von Männern und Frauen wirken sich aus, aber wie viel ist überhaupt festgelegt zwischen Männern und Frauen, wie groß ist der „kleine Unterschied“ tatsächlich? Es gibt Unterschiede im Gehirn von Jungen und Mädchen, schreibt die US-Neurowissenschaftlerin Lise Eliot in ihrem Buch „Pink Brain, Blue Brain“. Sie hat zahlreiche Studien analysiert, durch die sie eben diese Unterschiede nachweisen konnte. Allerdings seien sie sehr gering und das kindliche Gehirn so formbar, dass die geschlechtsspezifischen Stereotype erst vom Umfeld mit der Zeit geprägt werden.
Ähnliches weiß auch die Psychologie-Professorin Cordelia Fine von der University of Melbourne zu berichten. Sie hat das Buch „Die Geschlechterlüge: Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau“ geschrieben, in dem sie eine Vielzahl neurowissenschaftlicher Untersuchungen einer Art Wissenschafts-Tüv unterzogen hat. Darin zeigt Fine, wie unter dem Deckmantel der Forschung oberflächlich, vage oder schlampig untersucht wurde.
„Forschungsergebnisse, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen, haben eine größere Wahrscheinlichkeit publiziert zu werden, als jene, bei denen es keine Unterschiede gibt. Wenn Sie einen Unterschied finden, kann das der Hauptfokus des Artikels werden, und vielleicht bekommen sie dafür jede Menge mediale Aufmerksamkeit“, argumentiert Fines. Dazu käme, dass statistische Signifikanz nicht mit praktischer Signifikanz gleichzusetzen sei. In der Forschung habe man auch kaum statistische Methoden, um Gleichheit zu erfassen, aber viele um den Grad der Unterschiede zu messen.
Neurosexismus nennt Fine das. Einen Begriff, der auf neurowissenschaftliche Bezeichnungen oder Sprache hinweisen soll, die veraltete Geschlechterrollen präsentiert, die wissenschaftlich gar nicht gerechtfertigt sind. „Es mag durchschnittliche Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen geben, die wir gut sehen können, wie die Größe beispielsweise. Dennoch wissen wir grundsätzlich nicht, wie wir Verbindungen zwischen Gehirnfunktionen und Verhalten ziehen. Manche Geschlechtsunterschiede im Gehirn machen wohl keinen Unterschied im Verhalten oder kompensieren andere Unterschiede, um Ähnlichkeiten im Verhalten zu schaffen. Durchschnittliche Unterschiede, die wir beispielsweise in der Gehirnkonnektivität sehen, könnten auch auf die durchschnittlichen Unterschiede in der Größe zurückzuführen sein. Verschiedene Arten von ‚Verdrahtungen‘ funktionieren nämlich in größeren beziehungsweise kleineren Gehirnen besser“, so Fine.
Geringe Unterschiede
Wenn die Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen nicht ausschließlich über das Gehirn zu erklären sind, woher kommen Sie dann? Historisch gesehen seien viele Unterschiede auf Stereotypen, Erwartungen und eingeschränkte Möglichkeiten zurückzuführen. Heute aber macht sich Fine etwa Sorgen um negative Stereotypen, die die Schulbildung beeinflussen. Es gäbe signifikante Veränderungen sowohl über die Zeit als auch über verschiedene Länder hinweg, die Geschlechtsunterschiede in Schulfächern anbelangten. Die wichtigere Frage sei, wie unsere Schulsysteme allen Kindern die Möglichkeiten geben können, ihre Fähigkeiten komplett und uneingeschränkt zu entwickeln.
Ist das Bild, das wir von uns selber haben, also am Ende ein Produkt von gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen? Nicht nur die Erwartungen der anderen würden dieses Bild beeinflussen, sagt Fine. Auch der existierende Status quo wirke sich auf die Erfolgserwartung von Jungs und Mädchen aus. „Wenn sie sich einen Beruf anschauen, in dem es vor allem Männer gibt oder bei dem die Führungskräfte ihnen kaum ähnlich sind, ist es schwer, sich vorzustellen, dass sie dort erfolgreich sein können.“ Ein anderer Einflussfaktor seien Geschlechternormen, so die Psychologin. Jungs sollten ambitioniert und wettbewerbsorientiert sein, wohingegen man von Mädchen erwarte, dass sie warm und fürsorglich seien. „Selbst wenn wir diese Normen nicht verinnerlicht haben, können sie unser Verhalten beeinflussen, weil es eine Form von ‚Strafe‘ geben kann, wenn wir sie verletzten.“
Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern scheinen geringer als bislang angenommen. Dennoch wirken sich die entsprechenden Stereotype nach wie vor stark aus. Die Angst, solche Klischees aufzubrechen, sei kulturell genährt und verankert, sagt der Entwicklungsforscher Wassilios Fthenakis von der Freien Universität Bozen. „Unser Mut, sich dagegen aufzulehnen, ist noch nicht genügend ausgeprägt.“