„Getroffen bis ins Mark“, so beschreiben CDU-Mitglieder die Stimmung nach den Verhandlungen. Dahinter steckt Enttäuschung über das Personal, vor allem Angela Merkel. Und über eine bereits Jahre andauernde Suche nach der konservativen Identität.
Die Stimmung ist am Boden: Fünf Ministerien und das Kanzleramt für die CDU, sechs Ministerien für die viel kleinere SPD. Und unter diesen wenigen auch noch solche Zweite-Reihe-Aufgaben wie Gesundheit, Bildung oder Landwirtschaft! So manchem platzt da der Kragen in Merkels Riege. Und aus dem Rumoren, sonst maximal als feines Hintergrundgeräusch zu hören, lösen sich einzelne Stimmen. „Diesem Vertrag kann nicht zugestimmt werden“, tönt es aus dem CDU-Wirtschaftsrat, „das grenzt an Selbstaufgabe“ wird der Bundestagsabgeordnete Olav Gutting zitiert. Carsten Linnemann, Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Union, spricht gar von einem möglichen „Anfang vom Ende der Volkspartei CDU“, die Ressortaufteilung gehe „bis ins Mark“.
Bloß: bis in welches Mark? Und, so klar die CDU im Vergleich zu ihrer kleineren Schwester CSU und auch zur SPD in Sachen Ministerien das kürzere Streichholz gezogen zu haben scheint: Wieso kratzt das diese große und traditionell selbstbewusste Partei dermaßen an? Diese beiden Fragen hängen direkt miteinander zusammen: Nicht erst seit gestern – genauer: seit dem 7. Februar 2018, an dem der aktuelle Koalitionsvertrag präsentiert wurde – treibt die Frage nach der eigenen Identität die CDU um. Teile der Partei zumindest.
Stärkung „deutscher Tugenden“ gefordert
Wenn man sich das wertkonservative Grundverständnis der Christdemokraten anschaut, ist davon tatsächlich so einiges im Laufe der Zeit abgebröselt. Traditionelle Familienaufteilung, er als Ernährer von Frau und Kindern? Weg. Bundeswehr mit Wehrpflichtigen? Weg. Atomkraft als saubere Rettung aus jeglicher Energieknappheit? Weg. Dafür Deutschland als Einwanderungsland, womöglich sogar mit dem Islam als Teil der hiesigen Kultur: rein. Und, welch genialer Schachzug: Sogar die Ehe für alle: irgendwie genehmigt. Nicht alles ist natürlich in Merkels Garten gewachsen. Dennoch: Gar nicht so einfach, mit einer Kanzlerin und Parteivorsitzenden mitzugehen, die einerseits als „Mutti“ für ein „Land, im dem wir gut und gerne leben“ steht, andererseits mal durch forsches Reagieren, mal durch stilles Annehmen gesellschaftlicher Änderungen den Dampfer durch die Stromschnellen steuert. Den einen ist das zu wenig modern, den anderen viel zu viel. Nicht zufällig haben einige, wie etwa Alexander Gauland oder Albrecht Glaser, das Mutterschiff in Richtung AfD verlassen.
Verschiedene Gruppen kümmern sich jedenfalls seit Jahren innerhalb der konservativen Mitte um das, was ihnen „viel zu viel Neues“ ist. Eine von diesen Gruppen, zusammengesetzt aus Abgeordneten und Mandatsträgern der Union – also mit CSU-Beteiligung – ist der „Berliner Kreis“. Seine Mitglieder möchten, dass „nicht der Zeitgeist“ das Partei-Handeln bestimmt. Die Union solle sich wieder auf ihre konservativen, christlich-sozialen und wirtschaftsliberalen Wurzeln besinnen und so ein klares und unterscheidbares Profil erhalten.
Offiziell gegründet wurde der Berliner Kreis 2012, Vorbereitungen liefen bereits fünf Jahre früher an. Mitglieder des „konservativen Rebelliönchens“ (so die „Zeit“ anlässlich des „Berliner Manifests“ vom November 2012) sind unter anderem die Düsseldorferin Sylvia Pantel, die „aus Versehen“ einen diffamierenden Text der AfD über den Grünen Volker Beck auf Facebook teilte, und der Berliner Klimaskeptiker Philipp Lengsfeld, ebenso Gegner der Ehe für alle. Auch Wolfgang Bosbach aus Bergisch Gladbach gehört dazu; er setzte sich während seiner Bundestagszeit unter anderem für schärfere Sicherheitsgesetze und eine Zuzugsbeschränkung für Flüchtlinge ein.
Ebenfalls um konservative Werte geht es der „Einstein-Connection“, benannt nicht nach dem Physiker, sondern nachdem gleichnamigen Café, der Quelle für „Wiener Melange“ und „Fiaker“ nahe dem Bundestag. Dort gründete sich die „Connection“ angeblich. „In der öffentlichen Wahrnehmung ist das bürgerlich-konservative Element aber in den Hintergrund getreten, weil die Große Koalition zu vielen Kompromissen zwingt“, so die vier Gründungsmitglieder Philipp Mißfelder, Stefan Mappus, Hendrik Wüst und Markus Söder.
Junge Konservative: „Verfallsdatum“ erreicht
Die „Connection“ fordert die Stärkung „deutscher Tugenden“ - darunter Fleiß, Disziplin, Treue, Respekt und Anstand. Sie setzt sich für mehr Überwachung durch den Staat bis hin zu Bundeswehreinsätzen im Inneren ein. Kritik kam aus den eigenen, den CDU-Reihen: Ronald Pofalla und Hermann Gröhe fürchteten um die Einheit der Christdemokraten. Abgeordnete, die die vier „Einsteiner“ öffentlich als Gleichgesinnte outeten, dementierten erschreckt.
Wesentlich populärer, größer und mit Gruppierungen bundesweit vertreten ist dagegen der „Freiheitlich-Konservative Aufbruch“ (FKA), als Dachverband diverser Mitgliederinitiativen im März 2017 gegründet. Die Bandbreite der Themen erstreckt sich von der Zuwanderungspolitik – unter anderem Rückführung von Bootsflüchtlingen an die Küste, an der sie gestartet sind sowie eine Flüchtlings-Obergrenze – über eine „strikte Durchsetzung des Rechtsstaats“ bis zum Schutz ungeborenen Lebens. Im „Freiheitlich-Konservativen Aufbruch“ sammeln sich Initiativen, die dafür sorgen wollen, dass sich „insbesondere die CDU wieder auf ihren Markenkern besinnt“.
Der Markenkern, ständig wird um ihn gerungen. Wobei auffällt, dass das heftigste Ringen um die Beibehaltung eines – wie auch immer gearteten – konservativen Profils ausgetragen wird. Die Anpassung an ein sich veränderndes gesellschaftliches Umfeld hat beinah schon automatisch die erneute Frage nach dem eigenen Profil zur Folge. Zum Konservativismus gehört allerdings ebenfalls, dass eine solche Diskussion weniger öffentlich ausgetragen wird als in quasi allen anderen Parteien. Da machten bislang auch die Mitglieder der Jungen Union kaum eine Ausnahme. Wer in eine konservative Partei eintritt, steht nicht für Rebellentum.
Dass der Unmut in der CDU, auch bei den Jungen, gerade so hochkocht, hat die für die Christdemokraten unbefriedigende Ressortverteilung zum aktuellen Anlass. Angela Merkel gilt als angeschlagen, weil sie – und mit ihr die anderen Mitglieder der CDU-Unterhändler am Koalitionsvertrag – nicht aggressiv genug verhandelt hätten. Inwieweit sich unterscheiden lässt zwischen den Inhalten und der aufkommenden Personaldebatte, steht noch in den Sternen. Jetzt zeigt sich, dass die nächste Generation in den Startlöchern steht: Die Regierung Merkel habe ein „Verfallsdatum“ erreicht, befindet der Baden-Württemberger Olav Gutting. Sein Junge-Union-Kollege Paul Ziemiak (Nordrhein-Westfalen) setzt noch eins drauf. Er spricht von einer notwendigen Verjüngung. Er möchte jüngere und neue Gesichter auf allen Ebenen, auch in der Parteiführung, eingebunden sehen. Um neue Themen anzusprechen, um in die Diskussion zu kommen. Ist das doch ein Schritt in Richtung Runderneuerung? Und wenn ja: Wie wird diese ausfallen? Man wird sehen.