Wie funktioniert Saar-Lor-Lux? Das neue Europäische Kompetenz- und Wissenszentrum für Grenzraumforschung untersucht, welche Auswirkungen die Großregion auf Gesellschaft und Wirtschaft hat. Die Politik soll so auf Probleme aufmerksam gemacht werden, sagt Frédérique Seidel von der Villa Europa in Saarbrücken.
Die Universität der Großregion baut ein Europäisches Zentrum für Grenzraumforschung auf. Damit sollen in den nächsten drei Jahren wissenschaftlich fundierte Antworten und Entscheidungshilfen für Zivilgesellschaft und Politik geliefert werden, die so gut wie alle Lebensbereiche im Grenzraum betreffen – von der Wirtschaft über Fragen der Sozialpolitik bis hin zu Sport und Kultur. Der Aufbau des Zentrums, an dem rund 80 Wissenschaftler von sechs Universitäten aus vier Ländern mitarbeiten, startete zu Beginn des neuen Jahres. Bereits im September 2017 haben die ersten 16 Studenten den dazugehörigen Studiengang „Master Border Studies" aufgenommen. Künftig sollen es rund 20 sein.
Welche Bedeutung die Grenzraumbetrachtung für die Großregion und die Menschen hat, wie das neue Zentrum grenzüberschreitend arbeitet und was für konkrete Projekte entstehen können, darüber sprach FORUM mit Frédérique Seidel. Sie ist Leiterin der Zentralen Geschäftsstelle der Uni der Großregion in der Villa Europa in Saarbrücken.
Frau Seidel, was genau sind eigentlich „Border Studies"?
Die Bedeutung der Grenzen hat in den letzten zehn Jahren in der EU deutlich an Fahrt gewonnen. Arbeiten, Wohnen, Einkaufen, Freizeit verbringen im Nachbarland ist für immer mehr Menschen in der EU zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Großregion mit dem Saarland, Lothringen, Rheinland-Pfalz, Luxemburg und Wallonien gehört in dieser Hinsicht zu den dynamischsten Regionen in der EU. „Border Studies" heißt Grenzraumstudien und untersucht alle Themen und damit alle gesellschaftlichen Herausforderungen, die die Grenze betreffen. Dieses interdisziplinäre Studienfach betrifft derzeit 16 Bereiche wie Raumordnung, Demografie, Soziologie, Erziehungswissenschaften, Wirtschaft oder Politik. Es ist zunächst eine rein wissenschaftliche Betrachtung des Grenzraums, die es bislang in dieser Form noch nicht gegeben hat.
Wie soll das neue Zentrum funktionieren?
Die Universität der Großregion gibt es ja bereits seit geraumer Zeit. Die Universitäten des Saarlandes, Lothringens, Luxemburgs, Kaiserslautern, Trier und Lüttich arbeiten in verschiedenen Bereichen zusammen. Nun entsteht das neue Europäische Kompetenz- und Wissenszentrum für Grenzraumforschung. An diesem Projekt arbeiten rund 80 Forscher der genannten Unis in 16 Disziplinen zusammen. Kernziel ist der Aufbau eines Netzwerks mit einer gemeinsamen virtuellen Forschungs- und Infrastruktur. Dabei sollen ein digitales Dokumentationszentrum entstehen, das später auch mit seinen wissenschaftlichen Studien der Öffentlichkeit zugänglich sein soll, sowie ein dreisprachiges Glossar mit unterschiedlichen Forschungsbegriffen. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um die unterschiedlichen Forschungsansätze in den jeweiligen Ländern überhaupt vergleichbar zu machen.
Neben der zentralen Geschäftsstelle gibt es an jeder Universität einen sogenannten wissenschaftlichen Referenten, der für uns als direkter Ansprechpartner fungiert. Die wissenschaftliche Koordination liegt bei Christian Wille von der Universität Luxemburg.
Das hört sich alles sehr abstrakt an. Was hat der gemeine Bürger der Großregion von diesem neuen Zentrum?
Der Nutzen ist auf den ersten Blick für den Bürger sicher nicht so einfach zu erkennen. Die Grenzraumbetrachtung ist ein Projekt der angewandten Wissenschaft. Wir versuchen, den Entscheidern aus Politik und Zivilgesellschaft wissenschaftlich fundierte Hilfen an die Hand zu geben zur Lösung der anstehenden Probleme in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die Themen Mobilität und demografischer Wandel mit allen Facetten stehen sicherlich weit oben in der Agenda. Wir wollen aber nicht im Elfenbeinturm der Forschung bleiben und die Öffentlichkeit möglichst schnell einbinden. Das zentrale Dokumentationszentrum soll Dritten zugänglich gemacht werden. Außerdem planen wir bis 2020 sechs große öffentliche Veranstaltungen im Haus der Großregion in Esch-sur-Alzette mit den wichtigsten Themen. Dazu zählen wissenschaftliche Seminare und öffentliche Podiumsdiskussionen rund um das Thema Grenze samt ihrer Herausforderungen. Die Diskussion mit den Bürgern ist uns sehr wichtig.
Wissenschaft schön und gut, aber die Wirtschaft verlangt konkrete Fortschritte, zum Beispiel die Vereinfachung von Normen, die Entbürokratisierung, die Entschlackung des Entsendegesetzes, die Mehrsprachigkeit oder der grenzüberschreitende Ausbildungsmarkt.
Das sind sicher ganz konkrete Fragestellungen. Aber wir sind keine Task Force für Grenzgänger oder grenzüberschreitend tätige Unternehmen. Unsere Aufgabe liegt woanders. Das Zentrum beschäftigt sich wissenschaftlich mit den Lebensrealitäten in Grenzräumen und will mit seiner Expertise regionale Akteure bei Entscheidungsprozessen unterstützen.
Geben Sie doch bitte mal ein konkretes Beispiel dazu.
Ein Jurist eines deutschen international tätigen Unternehmens schaut in unsere zentrale Datenbank, wie ein bestimmtes Problem in Luxemburg oder Frankreich behandelt wird. Er könnte das auch von zu Hause per Homeoffice oder von unterwegs aus machen, um somit zusätzlich einen Beitrag zur Entlastung der Straßen zu liefern.
Wie soll es mit dem Projekt in drei Jahren weitergehen?
Um weiter gefördert zu werden, müssen wir Erfolge vorweisen. Wir wollen das Kompetenzzentrum, wir Franzosen nennen das übrigens L’Intelligence territoriale, innovativ weiterentwickeln und unseren Beitrag dazu leisten, wie die Großregion besser funktionieren kann.
Gibt es etwas Vergleichbares in anderen Regionen Europas?
Natürlich gibt es auch in anderen Grenzregionen Europas Untersuchungen zur Zusammenarbeit. Aber in der Form und Größenordnung der Großregion ist das einzigartig. Nirgendwo sonst in der EU gibt es auf so engem Raum eine so dichte universitäre Kooperation. Die Forscher für Grenzraumbetrachtung haben die Praxisbeispiele quasi vor der Haustür. Das macht das Projekt auch für die EU so interessant. Wir fungieren quasi als Modellprojekt. Grenzüberschreitung ist ein Kernthema in der EU. Das Gesamtbudget beläuft sich auf etwa 3,6 Millionen Euro. Nicht umsonst fördert die EU unser Projekt mit zwei Millionen Euro in den nächsten drei Jahren. Die Region Wallonien steuert rund 200.000 Euro und das Saarland 80.000 Euro bei, den Rest teilen sich die Projektpartner der verschiedenen Universitäten.
Welche Rolle spielt die Universität des Saarlandes?
Die Unis sind im Verbund gleichberechtigte Partner. Aber die Bedeutung des Projekts ist im Saarland sehr hoch. Deshalb unterstützt ja auch das Land dieses europäische Vorhaben. Unsere direkten Ansprechpartner an der Saar-Uni sind Prof. Dr. Peter Dörrenbächer aus der Geographie und Prof. Dr. Astrid Fellner aus der Amerikanistik.
Wie sieht die Zukunft der Uni der Großregion aus?
Die Zusammenarbeit der Unis der Großregion könnte ein Modell für Europa sein, so wie es der französische Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede im September zur Initiative Europäische Universität betont hat. Die Bildung transnationaler virtueller Netzwerke steht dabei im Vordergrund.