Ungebetene Gäste oder Rückkehr der Wildnis? Flora und Fauna verändern sich ständig – auch das ist eine Folge der Globalisierung. Die Wölfe kamen ohne unser Zutun wieder. Bei anderen Tieren und Pflanzen haben Menschen bewusst oder unbewusst nachgeholfen.
Sie kamen von selbst. Niemand hat sie ausgesetzt, keiner hat sie gerufen. Die Wölfe sind einfach eingewandert. Sie schwammen durch die Oder, überquerten die Neiße oder schlugen sich durch den Bayerischen Wald. Seit mehr als 150 Jahren galten sie in Deutschland als ausgerottet. Bis 1990 lebten sie gefährlich, wenn sie über die Grenze kamen. In der DDR wurden sie gejagt, die innerdeutsche Grenze konnten sie kaum überwinden. Seit 1992 sind sie durch eine EU-Richtlinie in ganz Europa rigide geschützt. Als sich das in Wolfskreisen herumsprach, wanderten sie weiter, bis tief in den Westen. Ihr bevorzugtes Revier sind Truppenübungsplätze: Muskauer Heide, Altengrabow, Munster-Nord …
Auch Luchse, neben Bär und Wolf die größten europäischen Raubtiere, gab es in weitem Umkreis keine mehr. In Deutschland wurden die letzten frei lebenden Tiere Mitte des 19. Jahrhunderts geschossen. Doch gute hundert Jahre später, in den 60ern, wurden die Großkatzen wieder im Elbsandsteingebirge und bei Leipzig gesichtet. Vermutlich waren sie aus Tschechien eingewandert. Neben einer Population im Bayerischen Wald leben Luchse heute wieder in der Sächsischen Schweiz, im Pfälzerwald, im Fichtelgebirge und im Spessart. 24 Tiere wurden seit dem Jahre 2000 im Nationalpark Harz ausgewildert, auch dort gibt es inzwischen wieder frei geborene Nachkommen.
Biologische Vielfalt ist gefährdet
Kehrt die Natur zurück? Erleben wir trotz Artensterben einen neuen Aufschwung der Artenvielfalt? Im Gegensatz zu den
früher einmal einheimischen Tierarten wie Luchs, Wolf oder auch Elch wandern inzwischen viele Tiere ein, die es in Mitteleuropa nie gab. So wie die Waschbären: Einige von ihnen sind in der 40er-Jahren in Hessen aus der Gefangenschaft ausgebrochen. Inzwischen leben zwischen 500.000 und einer Million Waschbären in Deutschland. Sie machen vor keinem Abfallkorb Halt und bevölkern sogar Dächer und Speicher. Auch Marderhunde, Bisamratten, Kanadagänse, sogar amerikanische Nerze haben sich verbreitet. Havel-Fischer klagen über die chinesischen Wollhandkrabben, gepanzerte, bis 30 Zentimeter große, haarige Scherentiere. Die zerreißen ihnen die Netze und fressen ihnen gemeinsam mit den ebenfalls eingewanderten Kormoranen ihren Fang weg. Im Südwesten Deutschlands fühlt sich offensichtlich die Asiatische Tigermücke wohl, sie hat sich in den Feuchtgebieten um die Altarme des Rheins verbreitet. Juckende Stiche wären schlimm genug, aber die Tigermücke gilt unter anderem als Überträgerin des gefährlichen Dengue-Virus. Der nordamerikanische Ochsenfrosch, unüberhörbar mit seinem lauten „Böööörp", frisst sich durch Baggerseen und Teiche und vermehrt sich exponentiell. Die fetten, bis zu fünf Pfund schweren Lurche verschlingen alles, was ihnen vors Maul kommt, sogar Entenküken, Krebse und Fledermäuse.
Woher kommen die alle? Sie reisen im Gepäck von Fernreisenden, an Bord von Ozeanfrachtern, im Ballastwasser der großen Tanker. Pollen haften sich an Schuhe, Autos, Eisenbahnwaggons. Und vielen sogenannten Tierfreunden, die sich exotische Kreaturen halten, wächst die Arbeit mit den Viechern über den Kopf und sie lassen sie einfach frei. Der
Klimawandel tut sein Übriges: Viele Gegenden in Deutschland bieten für Tiere, die sonst in subtropischen Breiten vorkamen, heute ideale Lebensbedingungen – Stichwort Tigermücke.
Dieser globale Austausch beschränkt sich nicht auf die Fauna. Auch Pflanzen wie die Beifußblättrige Ambrosie oder das Drüsige Springkraut können durch ihre Dominanz ganze Lebensräume verändern und lassen sie dabei oft verarmen. Nicht nur andere Pflanzen haben dann das Nachsehen, sondern oft auch die gesamte Lebensgemeinschaft. So finden beispielsweise Insekten, Vögel oder Säugetiere nicht mehr genug Nahrung oder Unterschlupf.
Invasive, also eingewanderte Arten, sind damit kein Zeichen biologischer Vielfalt, sondern eher ein Grund für ihre Gefährdung. Die EU benennt aktuell 49 invasive Tier- und Pflanzenarten, die bekämpft werden sollen, weil sie mit ihrer Ausbreitung Lebensräume, Arten oder Ökosysteme beeinträchtigen und daher der biologischen Vielfalt schaden können. Dem Naturschutzbund (Nabu) ist das zu wenig, er kommt auf 168 Tiere und Pflanzen, die negative Auswirkungen haben könnten. In der EU-Liste stehen unter anderem die Wollhandkrabbe, der Marderhund, die Nilgans und der Waschbär. An Pflanzenarten benennt die Liste zum Beispiel den Riesenbärenklau, die Wasserhyazinthe und den amerikanischen Stinktierkohl.
Aber wie soll sich nun der Mensch, die sogenannte Krone der Schöpfung, zu diesem ganzen natürlichen Chaos verhalten?
Zunächst einmal gibt es ja auch nützliche Einwanderer unter den Pflanzen – schließlich kamen Kartoffeln und Tomaten auch einmal aus Süd- und Mittelamerika. Also wäre zu prüfen, ob oder wie sie nützlich sein können, die ungebetenen Gäste. Experten wissen, dass es nicht möglich ist, alle zu bekämpfen. Wichtig sei es – so ihr Rat – fachkundig zu ermitteln, wo sie tatsächlich einen besonders schützenswerten Lebensraum gefährden oder zerstören.
Also bleibt nur, die Natur zu „managen"? In der Tat wird bei den Wölfen schon vom „Wolfsmanagement" gesprochen. Bestimmte Tierarten wie Marderhunde oder Waschbären dürfen zwar bejagt werden, aber das führt allenfalls dazu, die Bestände zurückzudrängen. Gegen Tigermücken helfen spezielle Fallen. Gegen Ochsenfrösche kommt man durch das Einsammeln der abgelegten Eier an. Aber so viel der Mensch sich auch müht, in der Natur gibt es keinen Stillstand, alles ist immer in Bewegung. Und von wegen „Krone der Schöpfung": Wir selbst sind Teil des Ganzen, wir selbst beeinflussen, steuern und manipulieren ständig die Natur.
Tiere lieben die Städte
So sind wir beispielsweise selbst „schuld" an tierischen Nachbarn in den Städten – wie den Waschbären in Berlin. Die machen es genauso wie ihre einheimischen Kollegen: Steinmarder, Füchse, Wildkaninchen, Wildschweine leben mit und von den Menschen und ihren Abfällen. Zwei Drittel aller überhaupt bei uns als Brutvögel vorkommenden Vogelarten nisten in Großstädten, darunter auch die fremden Halsbandsittiche. Dort haben die Zugezogenen mit weniger Gift zu tun als auf unseren Ackerflächen, werden nicht verfolgt, finden einen Reichtum an Unterschlupfmöglichkeiten und jede Menge Fressabfälle vor. Ärgerlich wird es, wenn Waschbären die Katzenklappe nutzen, um ins Haus einzudringen oder Wildschweine den ganzen Vorgarten umpflügen.
Ein anderer Trend ist die Besiedelung der natürlichen Räume, die der Mensch trotz intensiver Agrarwirtschaft und leer geräumter Landschaften noch übrig gelassen hat: Truppenübungsplätze (auch dann, wenn sie noch gelegentlich benutzt werden), Nationalparks wie Bayerischer Wald, Sächsische Schweiz, Harz und Schwarzwald oder Flüsse und Seen. Mufflons finden in ausgedehnten Wäldern Nahrung genug. Marderhunde, einst aus der Gefangenschaft freigelassen und über die Ukraine eingewandert, siedeln sich in Küstenschutzgebieten an, wo sie zum Ärger der Vogelschützer gerne Vogelnester ausräumen.
Und was ist nun mit dem Wolf? Von dem „edlen Räuber" wird erwartet, dass er seine natürliche Stellung im Artenspektrum der Tiere von vor seiner Ausrottung wieder einnimmt. Das geht – in der Theorie – so: Der Wolf verkleinert die Population an Rehen und Hirschen, die Schösslinge und kleine Bäume anknabbern. Dadurch wächst der Wald von unten dichter, die Hecken und Sträucher bieten Vögeln und Insekten Nahrung und Deckung, das Ökosystem wird ausgeglichener, alles wird gut.
Aber die Natur ist nicht unter sich. Da ist eben auch der Mensch, der dem Wolf den Tisch deckt, indem er Schafe und Ziegen auf die Weide stellt. Da sind die Wolfsenthusiasten, die sich den Jungtieren mit Leckerbissen nähern, um ein möglichst süßes Foto zu schießen. Und sich dann darüber beschweren, wenn ihnen erwachsene Wölfe nachstellen, weil sie auf ein Leberwurstbrot hoffen.
Der Wolf lässt niemanden kalt
Dann brechen sie wieder aus, all die Urängste, die den Menschen einmal gelehrt haben, die Wölfe zu fürchten: Noch aus jedem Krieg, angefangen vom Dreißigjährigen, gibt es grausige Geschichten von hungrigen Wölfen, die Kinder, Frauen, Soldaten angefallen haben. Solche Erzählungen leben vor allem dort auf, wo sich die Menschen mit den Wölfen allein gelassen fühlen, im dünn besiedelten Osten Deutschlands.
Aber auch sonst hat kein anderes Tier, das sich neu in Deutschland angesiedelt hat, dermaßen starke Emotionen ausgelöst. Waschbären gelten als putzig, Luchse als elegante Großkatzen, Kanadagänse oder Mandarinenten werden als Bereicherung empfunden. Zu heimischen Tierarten, die wie Wildschweine oder Füchse durchaus gefährlich werden können, gehen wir auf Distanz, aber sie lassen uns eher kalt. Aber beim Wolf, und noch dazu, wenn er sein Geheul anstimmt, sträuben sich die Nackenhaare. Ist es die Urangst vor dem Jäger, der dem Menschen die Beute wegnimmt und die Existenzgrundlage raubt? Oder misstrauen wir dem Urahn unserer Hunde, weil wir fürchten, dass die ungezähmten, wölfischen Triebe in uns nur schlummern? Nicht umsonst begründete der aufgeklärte Philosoph Thomas Hobbes seine Theorie des Gesellschaftsvertrags, der notwendig ist, um den Naturzustand zu überwinden, mit der Formel: homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.