Verschlagen, gefräßig und grausam: Der Wolf hat in Märchen und Fabeln meist ein schlechtes Image – verglichen mit dem schlauen Fuchs oder dem majestätischen Löwen. Fiktion und Wahrheit vermischten sich zu Legenden und prägten unser Wolfsbild.
Es geschah im Jahr 1762 in einer dünn besiedelten Region des französischen Zentralmassivs. Eine Hirtin schilderte eine Begegnung mit einem überdurchschnittlich großen wolfsähnlichen Tier – dem sei sie nur knapp entkommen, da sich ihre Ochsen schützend vor sie gestellt hätten. Nicht so viel Glück hatte wenig später ein 14-jähriges Mädchen, das tot auf dem Feld gefunden wurde – zerfleischt – von einer Bestie? Der Beginn einer unheimlichen Serie von Todesfällen – 112 Opfer gab es in den folgenden fünf Jahren, darunter zahlreiche Kinder. Der Bischof von Mende sah den Zorn Gottes entfesselt, die Obrigkeit schickte Jäger und eine Dragonereinheit in die entlegene Gegend. Ohne Erfolg. Schließlich gelang es dem Hofjäger Ludwigs XV., einen riesigen Wolf vor die Flinte zu bekommen und zu erlegen – sollte jetzt endlich die „Bestie von Gévaudan" getötet worden sein?
„Bestie von Gévaudan" wütete in Frankreich
Nur wenige Monate später aber gab es neue Überfälle – die Menschen in der Region gingen jetzt davon aus, dass hier ein dämonisches Wesen – halb Wolf, halb Mensch – sein Unwesen trieb. Gastwirt Jean Chastel schließlich brachte das gefürchtete Untier mit silbernen Kugeln zur Strecke – das laut königlichem Notar „sehr verschieden von den anderen Wölfen der Gegend" aussah.
Bis heute rätseln Wolfsexperten, um was genau es sich bei der „Bestie von Gévaudan" gehandelt haben könnte – um eine Kreuzung zwischen Wolf und mächtigem Hofhund, oder um eine aus Afrika importierte Hyäne? Um mehrere tollwütige Wölfe, die sich vorwiegend an Kinder und ältere Menschen heranwagten?
Rund 100 Jahre vor den schrecklichen Vorkommnissen in der Auvergne hatte der Franzose Charles Perrault bereits „Le petit chaperon rouge" (später in „Grimms Märchen" zu „Rotkäppchen" geworden) seiner Sammlung von Volksmärchen hinzugefügt. Dabei hatte er die freilich bereits viel früher bekannte Erzählung von der Begegnung eines jungen Mädchens mit einem hinterhältigen und gefräßigen Wolf für ein sensibles höfisches Publikum aufbereitet. Aus dem eigentlich sehr wehrhaften Bauernmädchen der früheren Erzählungen aber hat er ein naiv-eitles Geschöpf gemacht, das den Avancen des Verführers nur allzu schnell nachgibt.
Perrault selbst ließ sich von den Werwolf-Erzählungen seiner Heimatregion Touraine inspirieren. Im 15. und 16. Jahrhundert war hier Tausenden Menschen der Prozess gemacht worden, weil sie unter Verdacht standen, sich in dämonische Wesen – halb Mensch, halb Wolf – zu verwandeln, in dieser Gestalt andere umzubringen und ihr Fleisch zu essen.
Die Angst vor solchen übernatürlichen Geschöpfen reicht weit in der Menschheitsgeschichte zurück. Das älteste bekannte Kunstwerk, eine etwa 32.000 Jahre alte Steinschnitzerei etwa, zeigt ein Mischwesen aus Mensch und Tier. Auf der nördlichen Halbkugel habe es kein Tier gegeben, das dem Steinzeitmenschen so ähnlich gewesen sei wie der Wolf, sagt Historiker Utz Anhalt, der seit Jahren den Mythos des Werwolfs untersucht. Menschen wie Wölfe hätten damals im Rudel, im Familienverband gelebt und gejagt. So habe es durchaus Konkurrenz bei der Nahrungsbeschaffung gegeben. Dem Wolf als meist besseren Jäger wurde Respekt gezollt. Das sollte sich Jahrhunderte später ändern, als sich die Menschen Nutztiere hielten, die Wölfen zum Opfer fallen konnten.
Junge in Spanien lebte zwölf Jahre unter Wölfen
Die zwiespältige Beziehung zwischen Mensch und Wolf spiegelt sich auch in der Beschreibung des Phänomens der „wilden Kinder" wieder, die isoliert von Menschen aufwuchsen und teilweise in Tierverbände beispielsweise Wolfsrudel integriert worden sein sollen. Die Gründer Roms, Romulus und Remus, wurden von einer Wölfin in einem Weidenkörbchen gefunden, adoptiert und gesäugt, so die Legende. Jahrhunderte später wurden „wilde Kinder" eher als Unglücksboten betrachtet. Ein besonders gut dokumentierter Fall ist der des „Victor von Aveyron". Der neunjährige Junge war Ende des 18. Jahrhunderts von Jägern in einem Wald entdeckt und in ein nahe gelegenes Dorf gebracht worden. 1920 fand ein Missionar in Indien zwei Mädchen in einer Wolfshöhle, beide aßen, bewegten und verhielten sich wie Wölfe.
Besonders spektakulär ist die Geschichte des Spaniers Marcos Pantoja, der zur Zeit der Franco-Diktatur als Junge rund zwölf Jahre in einer abgelegenen Bergregion der Sierra Morena in Andalusien unter Wölfen aufwuchs. Als Gehilfe eines alten Hirten hatte er eine Ziegenherde bewacht und war nach dem Tod des alten Mannes in der unwirtlichen Gegend auf sich gestellt. Er folgte einem jungen Wolf in dessen Höhle und wurde schließlich von dem Rudel „adoptiert". Marcos jagte mit den Wölfen, heulte und spielte mit ihnen. Kleidete sich in Felle erbeuteter Tiere, ließ seine Haare bis zu den Hüften wachsen. Er fühlte sich fernab der menschlichen Gesellschaft frei, bis ihn eines Tages Polizisten aus dem Wald ins nächstgelegene Dorf schleppten.
Marcos Geschichte hätte gut die Inspiration für Rudyard Kiplings berühmtes „Dschungelbuch" sein können, doch der Brite hatte seine Geschichtensammlungen bereits 1894 und 95 verfasst. Mowgli, der in einem Wolfsrudel aufwachsende Protagonist, gehört seither zu den wohl populärsten Figuren in Literatur und Film, nicht zuletzt durch die Disney-Adaption inklusive unvergesslicher Gestalten wie dem gutmütigen Bären Baloo oder dem singenden Affenkönig. Die Wölfe, die in dem Dschungelepos Mowgli in ihren Familienverband aufgenommen haben, sind hier übrigens eher willensschwach und nach dem Tod ihres Anführers leicht zu manipulieren. Die Rolle des „Schurken vom Dienst" übernimmt im „Dschungelbuch" ein anderer: der furchteinflößende Tiger Schir Khan.