Unter dem Titel „Dance On“ gibt es im Hebbel am Ufer (Hau) eine geballte Ladung zeitgenössischen Tanzes auf höchstem Niveau zu sehen. Im Mittelpunkt steht die gleichnamige Company mit „Tänzern über 40“.
Fünf Körper im Halbrund. Arme schwingen, Schultern kreisen, kleinste Schritte am Platz. Einfache Bewegungsabläufe wiederholen sich, werden kaum erkennbar variiert. Sind hier Elementarteilchen eines eigentlich zusammengehörigen Organismus im Raum versprengt worden? Ein Eindruck, der sich verstärkt, als nun alle fünf Tänzerinnen und Tänzer zu einem Cluster in der Raummitte zusammengefunden haben. Mechanisch und organisch zugleich scheinen sich die verschiedenen Bewegungssequenzen zu ergänzen. Und fast unmerklich übernehmen die Protagonisten die Bewegungen ihres jeweiligen Nachbarn, bis eine Art „stille Post“ ohne Worte den Kreis durchläuft.
Im lichtdurchfluteten Probenraum der Eden Studios in Berlin-Pankow wird gerade die Choreografie „Man made“ des Belgiers Jan Martens einstudiert. Martens absolvierte sein Tanzstudium in Antwerpen und Tilburg, gilt als eines der vielversprechendsten Nachwuchstalente im zeitgenössischen Tanz. Er hatte „Man made“ 2017 speziell für die „Dance On“ Company aus Berlin entwickelt – eine ganz besondere Tanzkompagnie, denn die Mitglieder sind alle „Ü 40“.
Tänzerpersönlichkeiten mit ganz unterschiedlichen Biografien haben hier vor dreieinhalb Jahren zusammengefunden. Brit Rodemund beispielsweise tanzte jahrelang, auch als Solistin, an der Staatsoper Berlin. Weitere Stationen waren das „aalto Ballett“ in Essen, wo sie unter anderem einen Preis für ihre Darstellung der Tatjana in John Crankos „Onegin“ erhielt, und Nürnberg. Seit 2000 ist sie freischaffende Künstlerin und lehrt unter anderem im hochschulübergreifenden Zentrum Tanz in Berlin.
Eine „stille Post“ aus Bewegungen
Ähnlich lesen sich die künstlerischen Laufbahnen ihrer Mitstreiter. Frédéric Tavernini zum Beispiel absolvierte seine Tanzausbildung an der Ballettschule der Opéra National de Paris, arbeitete als Solist unter anderem beim Béjart Ballett Lausanne und beim Marseille National Ballett. Seit über zehn Jahren ist er freischaffend, tanzt für Choreografen wie Maguy Marin, entwickelt selbst Stücke.
So unterschiedlich ihre Biografien sind, eines haben wohl alle Mitglieder der Company gemeinsam: Nach Jahren des Hochleistungstanzes wollen sie „sichtbar machen, was Tanzkunst durch erfahrene Tänzer gewinnt“. Viel zu häufig würden auf Tanzbühnen allein junge Körper mit Schönheit und Virtuosität assoziiert, heißt es von den Initiatoren des Projekts. Und so wurde – gefördert durch Bund, EU, Nationalem Performancenetz und Hauptstadtkulturfonds – ein Modellprojekt auf den Weg gebracht. Gemeinsam mit älteren Tänzern sollte hier ein Repertoire für ältere Tänzer entwickelt werden. Eine Idee, die in der Szene offenbar den Nerv traf. Insgesamt bewarben sich rund 230 Tänzer um eine Teilnahme.
Jetzt, gut drei Jahre später, steuert das Projekt auf seinen Höhepunkt zu: In der kommenden Woche beginnt das Festival „Dance On“ im Hau, dem Hebbel am Ufer. Und natürlich steht dabei die Company „Dance On“ mit den bislang erarbeiteten Stücken ganz unterschiedlicher Choreografen im Mittelpunkt. Die Bandbreite sei enorm und suche Ihresgleichen, schwärmt der künstlerische Leiter der Company, Christopher Roman. Denn an den fünf Festivaltagen wird „Dance On“ Ensemble-Arbeiten unter anderen von William Forsythe, Rabih Mroué und Deborah Hay zeigen. Letztere hat gemeinsam mit den Protagonisten die Choreografie „Tenacity of Space“ entwickelt – eine Reaktion auf die, so Hay, „oft unglaublichen Weltzustände des letzten Jahres“. Hay stellte die erfahrenen Tänzer vor eine Herausforderung: das erlernte Tanzwissen hinter sich lassen und sich stattdessen auf die eigene Wahrnehmung verlassen.
Einen ganz anderen Ansatz hat der libanesische Choreograf und Filmkünstler Rabih Mroué für seine Arbeit mit dem „Dance On“-Ensemble gefunden. In „Water between three hands“, seiner ersten Arbeit mit Tänzern, beschäftigt sich Mroué mit Themen wie Tod, Verschwinden, Abschiednehmen. Daraus entwickelt der Choreograf ein Wechselspiel zwischen An- und Abwesenheit, Realität und Fiktion. Ein Stück, das nun erstmals in Deutschland zu sehen sein wird. Von Deborah Hay über Rabih Mroué bis zu Jan Martens, sie alle haben ihre Stücke gemeinsam mit den Tänzerpersönlichkeiten von „Dance On“ entwickelt – auch ein besonderes Merkmal der Arbeiten, wie Christopher Roman unterstreicht.
Jeder sich bewegende Körper ist ein Archiv
Er verweist im gleichen Atemzug auch auf Stücke der Ensemblemitglieder, die ebenfalls im Rahmen des fünftägigen Festivals zu sehen sein werden. Und als ob das nicht reichen würde, gibt es eine ganze Reihe von Trainings- und Workshopangeboten, zudem haben sich Partner der „Dance On“-Company „eingeklinkt“. Martin Nachbar und Laura Böttinger beispielsweise mit ihrem Projekt „Dance On Lokal“, das sich an Amateure „60 plus“ richtet. Sie gehen davon aus, dass jeder sich bewegende Körper ein lebendiges Archiv darstellt.
Fast ein wenig unter geht im dicht gepackten Festivalprogramm eine Gesprächsreihe, die Altersbilder auch im Tanz untersucht und hinterfragt. Wie ändert sich ein Tänzerleben mit zunehmendem Alter, was ist physisch möglich, was nicht? Gibt es besondere Vorgaben fürs Training? Darüber diskutieren unter anderen Sport- und Tanzwissenschaftler, Choreografen und Tanzhistoriker.
Antwort auf diese Fragen gibt es aber auch schon an diesem Probennachmittag in den Pankower Eden Studios. Gut eine Stunde hat der Durchlauf des Martens-Stücks mit einigen Wiederholungen gedauert, Zeit für eine kurze Pause. Dabei versuchen Brit Rodemund, die frühere Staatsopern-Solistin, und ihre baskische Kollegin Jone San Martin zu formulieren, wie sich ihr Tanz heute von dem früherer Jahre oder Jahrzehnte unterscheidet. Natürlich tanze man „ökonomischer“, sagen die beiden. Und klar, allzu kraftraubende Sprünge oder extreme Dehnungen wären nicht mehr so möglich wie zu Beginn der Karriere. Stattdessen aber sei die Qualität der Bewegung jetzt eine ganz andere, nuancierter und dadurch wesentlich vielfältiger als zuvor.