23 Jahre ist es her, dass bei Leichtathletik-Hallenweltmeisterschaften zuletzt eine deutsche Sprinterin eine Medaille holte. Nun reist Tatjana Pinto als Zweitschnellste der Welt zu den diesjährigen Titelkämpfen nach Birmingham. Auf der Sprinterinsel Jamaika hat die 25-Jährige den Spaß am Sprinten wiederentdeckt.
Einige Zuschauer waren bereits enttäuscht, als bei den Deutschen Leichtathletik-Hallenmeisterschaften am vergangenen Wochenende eine Topsprinterin nach der anderen ihren Start in Dortmund absagen musste. Schon einige Tage vor dem Wettkampf hatte Gina Lückenkemper (TSV Bayer 04 Leverkusen) zurückgezogen, die 2017 eine Zeit von 10,95 Sekunden gelaufen war und damit als erste deutsche Sprinterin seit 26 Jahren die 100 Meter in unter elf Sekunden absolviert hatte. Sie wollte aufgrund einer Reizung im Iliosakralgelenk mit Blick auf die Heim-EM im August in Berlin lieber nichts riskieren. Beim Aufwärmen machten sich dann auch bei Lisa Mayer (Sprintteam Wetzlar) muskuläre Probleme bemerkbar, die in diesem Winter ebenfalls schon die Norm für die Hallenweltmeisterschaften unterboten hatte – auch sie zog deshalb sicherheitshalber zurück. Plötzlich war aus dem schnellen Trio nur noch Tatjana Pinto übrig. Der Frauensprint, der im Vorfeld der Veranstaltung als einer der Höhepunkte angepriesen worden war, wirkte mit einem Mal nur noch wie ein B-Rennen.
Dieser Eindruck hielt jedoch gerade einmal 7,06 Sekunden an. Länger brauchte Tatjana Pinto nicht für die 60 Meter. Das bedeutete nicht nur die Einstellung des Meisterschaftsrekords, sondern lag auch nur zwei Hundertstel über der nationalen Bestmarke der beiden DDR-Sprinterinnen Marita Koch (1985) und Silke Möller (1988). Seit den 7,06 Sekunden von Katrin Krabbe im Jahr 1991 war keine deutsche Sprinterin mehr so schnell gelaufen wie Tatjana Pinto jetzt in Dortmund. Im Ziel ballte sie die Hände und schlug sie sich anschließend ungläubig vors Gesicht. „Das ist echt der Hammer! Ich bin sprachlos", sagte sie.
Für einige Minuten war Pinto damit sogar die schnellste Sprinterin der Welt. Mit ihrer Zeit aus Dortmund setzte sie sich vorübergehend an die Spitze der Weltjahresbestenliste. Dann aber lief die Schweizerin Mujinga Kambundji ein paar Hundert Kilometer weiter südlich bei ihren Landesmeisterschaften in 7,03 Sekunden noch ein wenig schneller.
Bei den Hallenweltmeisterschaften vom 2. bis 4. März in Birmingham (Großbritannien) kommt es nun zum direkten Duell zwischen den beiden. Zum Kreis der Medaillenkandidaten zählen neben den traditionell starken Sprinterinnen aus den USA und Jamaika außerdem zwei schnelle Damen von der Elfenbeinküste: Murielle Ahouré, die bei Weltmeisterschaften in der Halle schon zwei Mal Zweite war, sowie die Doppel-Silbermedaillengewinnerin der letztjährigen WM im Freien, Marie-Josée Ta Lou. Pinto meinte mit Blick auf Birmingham jedenfalls: „Ich freue mich jetzt schon auf die Konkurrenz. Da habe ich richtig Bock drauf."
Anders als für die meisten deutschen Leichtathleten hat die Hallensaison für die 25-Jährige eine große Bedeutung. Zwar gilt auch für sie das große Ziel der Europameisterschaften im eigenen Land, die Anfang August im Berliner Olympiastadion ausgetragen werden – dort will die Sportlerin vom LC Paderborn um eine Medaille kämpfen: „Klar ist die EM schon irgendwo im Hinterkopf. Aber das ist eben erst im August und damit noch weit weg. So lange kann ich mich nicht fokussieren. Momentan bin ich mit dem Kopf voll bei der Hallensaison. Die Hallen-WM in Birmingham stand von Anfang an ganz oben auf meiner Liste. Dort möchte ich auf jeden Fall auch eine Topleistung zeigen und so weit kommen wie möglich."
„Es geht in allen Bereichen noch besser"
Das Ziel ist mindestens der Endlauf, doch auch eine Medaille scheint nach der jüngsten Leistungssteigerung auf einmal nicht mehr ausgeschlossen. Als letzte Deutsche stand Verena Sailer 2014 in der polnischen Stadt Sopot im Finale einer Hallen-WM und belegte dort Rang acht. Die bislang einzige deutsche Medaille holte im Jahr 1995 Melanie Paschke, die bei den Titelkämpfen in Barcelona Silber gewonnen hatte. „In Birmingham wird die gesamte Weltspitze am Start sein. Da möchte ich mich herantasten", so Pinto.
Als momentan Zweite der Weltjahresbestenliste ist die Sprinterin eine der wenigen deutschen Medaillenhoffnungen. Wie groß das Team sein wird, das der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) nach Birmingham entsendet, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest, doch allzu viele Anwärter auf Edelmetall gibt es nicht. Schließlich werden die Disziplinen, in denen die einheimischen Leichtathleten besonders stark sind, wie Speerwerfen oder Diskuswurf, im Winter gar nicht ausgetragen. Trotzdem gehen einige DLV-Starter mit großen Ambitionen ins Rennen. Hürdensprinterin Cindy Roleder (SV Halle) ist nach überstandener Verletzung wieder in Topform; und auch bei Kugelstoßer David Storl (SC DHfK Leipzig) zeigt die Formkurve steil nach oben. Die internationale Konkurrenz im Kugelstoßring ist zurzeit allerdings bärenstark. Das gilt auch für den Stabhochsprung, wo sich Lisa Ryzih (ABC Ludwigshafen) und der wiedererstarkte Raphael Holzdeppe (LAZ Zweibrücken) dennoch etwas ausrechnen. Gespannt sein darf man auch auf den Auftritt von Läuferin Konstanze Klosterhalfen (TSV Bayer 04 Leverkusen), die in diesem Winter über 1.500 Meter dort anknüpft, wo sie im vergangenen Jahr aufgehört hat und weiter unbekümmert in der Weltspitze mitmischt. Bei den Hallenweltmeisterschaften 2016 in Portland (USA) hatte Deutschland zuletzt drei Medaillen geholt – zweimal Silber und einmal Bronze.
Für Tatjana Pinto spricht, dass sie ihr Potenzial scheinbar noch nicht ausgereizt hat. „Es geht in allen Bereichen noch besser", sagte sie. Großen Anteil an ihrem
Aufschwung hat Trainer Thomas Prange. „Ohne ihn wäre das alles nicht möglich gewesen", so Pinto. „Ich bin ihm für alles dankbar. Er ist immer für mich da, in guten ebenso wie in schlechten Zeiten. Das bedeutet mir sehr viel." Gemeinsam haben Prange und sie ihre ohnehin schon gute Technik weiter verbessert. Beim Laufen versucht sie, möglichst groß zu bleiben und mit hoher Hüfte zu laufen, so wie es die Top-Sprinterinnen aus den USA und Jamaika schon seit Längerem vormachen. Auch in Deutschland hat man sich dieses Technikbild mittlerweile angeeignet. „Wir arbeiten da ständig dran", sagte Pinto, doch wie Arbeit sieht das Ergebnis eigentlich nicht aus. Wenn Pinto rennt, dann hat es eher den Eindruck, als würde sie regelrecht über die Bahn hinwegfliegen.
„Man muss sein eigenes Ding durchziehen"
Auf der Sprinterinsel Jamaika hatte sich die deutsche Meisterin auf die Hallensaison vorbereitet. Drei Wochen lang trainierte sie dort bei Stephen Francis, dem Coach von Doppel-Olympiasiegerin Elaine Thompson. Von dort hat sie den Spaß am Sprinten und die Lockerheit mitgenommen, der sie in diesem Winter bislang so stark macht. „Man muss Spaß haben und locker bleiben, egal wer neben einem im Startblock sitzt. Man muss sein eigenes Ding durchziehen", erklärte sie. So wie bei den stark besetzten Meetings in Berlin und Karlsruhe, wo sie jeweils keinen guten Start erwischte, sich davon aber nicht beirren ließ und beide Male hinten raus noch den Sieg davontrug.
Im vergangenen Jahr sei sie oft zu verkrampft gewesen, so Pinto. Damals war sie gleich zum Auftakt unter elf Sekunden geblieben, allerdings hatte der Wind dabei etwas zu heftig von hinten geblasen, sodass die Zeit nicht gewertet werden konnte. Trotzdem hatte sie die Zeit danach ständig im Kopf – das hemmte sie.
„Ich bin der Norm vergeblich hinterhergelaufen", sagte sie. Am Ende verpasste sie den geforderten Richtwert um eine Hundertstelsekunde. Der DLV nominierte sie trotzdem für die WM in London, weil sie wegen der Staffel sowieso schon dort und außerdem gut in Form war. Für die Weltmeisterschaften hatte sich Pinto viel vorgenommen, doch dann wurde sie bereits im Vorlauf wegen eines Fehlstarts disqualifiziert.
2018 will Tatjana Pinto neu angreifen. Die bisherigen Auftritte in der Halle wirken wie ein Versprechen für den Sommer. „Den Rückenwind nehme ich auf jeden Fall mit", sagte sie. In Dortmund wurde sie gefragt, ob denn eine Zeit unter elf Sekunden unter regulären Bedingungen für sie jetzt ebenfalls das Ziel seien, wie sie von Gina Lückenkemper im vergangenen Jahr schon vorgelegt wurde. Pinto grinste und antwortete bloß: „Ich will Bestzeit laufen." Diese steht nämlich bislang bei genau 11,00 Sekunden. Jede weitere Steigerung würde also automatisch eine Zehn vor dem Komma bedeuten.